13.06.1997

Djamaa el-Fna oder Das mündliche Erbe der Menschheit

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Djamaa el-Fna oder Das mündliche Erbe der Menschheit

Von JUAN GOYTISOLO *

WIE Michail Bachtin in seinem großartigen Buch über Rabelais und seine Welt aufzeigt, gab es eine Zeit, da sich das Reale und das Imaginäre vermischten, die Namen die von ihnen bezeichneten Dinge in den Hintergrund drängten und die erfundenen Wörter wörtlich genommen wurden: sie wuchsen, blühten und gediehen, vereinigten sich und empfingen wie Wesen aus Fleisch und Blut. Der Markt, der Platz, der öffentliche Raum waren der ideale Ort ihrer fröhlichen Vermehrung. Die Reden umrankten einander, die Legenden wurden gelebt, das Heilige wurde bespottet und blieb doch heilig, die beißendsten Parodien vertrugen sich mit der Liturgie, die wohlgefügte Erzählung setzte das Publikum in Staunen, das Lachen ging dem Beten voran, und das Gebet belohnte den Spielmann oder Gaukler, wenn sein Schälchen die Runde machte.

Hökerer und Krempler, Handwerker und Bettler, Schelme und Beutelschneider, Spitzbuben, Gassenjungen, harmlose Narren, Frauen von zweifelhafter Tugend und rauflustige Bauernlümmel, kleine Strolche auf dem großen Sprung, Überlebenskünstler, Quacksalber, Wahrsager, Frömmler und Doktoren mit eingeborener Weisheit, diese ganze unbefangene und ungezügelte, buntschillernde Welt, Fond der – übrigens gar nicht so voneinander verschiedenen – christlichen und islamischen Gesellschaft zu Zeiten des Erzpriesters von Hita, nach und nach vertrieben von dem aufstrebenden Bürgertum und einem Staat, der die Städte und das Leben kleinkarierte, sie ist nur matte Erinnerung der technisch fortgeschrittenen und moralisch hohlen Nationen. Die Herrschaft der Kybernetik und des Audiovisuellen macht Gemüter und Gemeinschaften gleich, disneysiert die Kindheit, läßt die Kraft der Phantasie verkümmern. Nur eine Stadt verfügt heute noch über das Privileg, das ausgestorbene und von vielen als „Dritte-Welt-Phänomen“ abqualifizierte mündliche Erbe der Menschheit zu hüten. Ich meine Marrakesch und den Platz Djamaa el- Fna, in dessen Nähe ich, in regelmäßigen Abständen, seit zwanzig Jahren frohen Mutes schreibe, „mediniere“ und lebe.

Die Gaukler, Akrobaten, Komödianten und Geschichtenerzähler auf dem Platz entsprechen, was Anzahl und Qualität betrifft, in etwa der Zeit meiner Ankunft, der Zeit von Elias Canettis fruchtbarem Besuch und den Tagen, als die Brüder Tharaud, sechzig Jahre früher, ihre Reportagen schrieben. Vergleicht man sein heutiges Aussehen mit den Fotos, die zu Beginn des französischen Protektorats aufgenommen wurden, erkennt man nur wenige Unterschiede: solidere, aber unauffällige Gebäude, vermehrter Straßenverkehr, ein schwindelerregendes Vielfaches an Fahrrädern, die Droschken so arbeitsscheu wie je. Die Grüppchen der Händler vermengen sich noch mit der Halqa (dem Zuschauerkreis) inmitten der umherstreichenden, einladenden Dampfschwaden aus den Küchen; das Minarett der Kutubiya wacht standhaft über die ewige Seligkeit der Toten und das getriebene Dasein der Lebenden.

Innerhalb nur weniger Jahrzehnte sind Holzbuden mit Getränkekiosken, Bazaren und Antiquariaten aufgetaucht und wieder verschwunden: Eine Feuersbrunst zerstörte sie, und so verlegte man sie zum florierenden Neuen Markt (nur die Bouquinisten erlitten eine grausame Verbannung, zum Bab Doukkala, wo sie dahinschwanden und schließlich ausstarben). Die an der Kehre der Riad Zitoun stationierten Busgesellschaften, ein unendliches Hin und Her von Reisenden, Gepäckträgern, Verkäufern von Fahrscheinen, Zigaretten und Sandwichs, machten sich mit ihrem animierenden Gelärme ebenfalls aus dem Staub des Platzes – hin zum nagelneuen, ordentlichen Busbahnhof. Zur Feier der Gatt-Konferenz wurde der Djamaa el-Fna geteert, aufgeputzt und freigefegt: Der kleine Markt, der stets pünktlich sein Gelände eroberte und sich beim Anblick der Mokhaznis im Handumdrehen in Luft auflöste, wanderte in gnädigere Gefilde ab. Der Platz verlor etwas von seiner lärmenden Freivasallenschaft, bewahrte aber seine Authentizität.

Der Tod hat indessen die Reihen seiner vornehmsten Söhne gelichtet. Zuerst ging Bakschisch, der Clown mit der Fetzenmütze, dessen Vorführung Tag für Tag einen dichtgedrängten Ring von Schaulustigen auf das Inselrund seiner Halqa lockte, Kinder wie Erwachsene. Dann Mamadh, der Fahrradartist, der es in seinem magischen Äquilibristenkreis fertigbrachte, von der Lenkstange auf den Sattel zu springen und zugleich die rasantesten Drehungen zu vollführen. Vor zwei Jahren klopfte der Tod an der Tür von Sarukh (Rakete), dem majestätischen Rechtsgelehrten und schelmischen Goliarden, Erzähler köstlicher Geschichten eigener Schöpfung über den arglos-listigen Juha: In einer ausgreifenden und ungezügelten Sprache kreisten seine Tropen, anspielend, ausweichend, wie vibrierende Pfeile das unnennbare sexuelle Ziel ein. Mit seiner imposanten Erscheinung, dem rasierten Schädel und oberpriesterlichen Bauch schrieb er sich ein in eine alte Tradition des Ortes, wie sie vor Jahrzehnten Berkhut (Floh) verkörperte. Ihre Ursprünge gehen auf härtere und rauhere Zeiten zurück, als Verräter und Aufrührer wider die erlauchte Herrschaft des Sultans zur Strafe an blutigen Haken oder, vor einem stummen, verschüchterten Publikum, in der grausigen „Schaukel der Tapferen“ hingen.

Erst unlängst und mit einiger Verspätung erfuhr ich vom Unfalltod des Tabib Al Hacharat (Doktor der Insekten), dem Mohamed Al Yamani in der Zeitschrift Horizons maghrébins einen wunderschönen Essay gewidmet hat. Wir Freunde des Djamaa el-Fna kannten ihn gut, diesen kleinen Mann mit dem lichten zausigen Haar, der zwischen seinen immer selteneren öffentlichen Auftritten durch die Seitenstraßen taumelte und unter den Arkaden mit ihren wohlgefälligen Garküchen schnaufte wie eine asthmatische Lokomotive. Seine Geschichte, ein Kompositum aus Wahrheiten und Legenden, eiferte der des Sarukh nach: Wie dieser hatte auch er ein Wanderleben in Armut gewählt, auf Friedhöfen und Polizeirevieren übernachtet, wegen Trunkenheit hier und da im – von ihm „Holland“ genannten – Gefängnis gesessen, und wenn er von Marokko die Nase voll hatte, so sagte er, dann packte er seine Siebensachen in ein Tuch und ging nach „Amerika“, will heißen: auf das freie Feld beim Holiday Inn. Seine Sprachgewalt, die phantastischen Erzählungen, Wortspiele, Palindrome knüpften unbewußt an die – bedauerlicherweise von der schwerfälligen und schwächlichen offiziellen spanischen Arabistik kaum zur Kenntnis genommenen – virtuosen Makamen Al Hariris an und gehörten zu einer Literatur, in der sich, wie Shirley Guthrie sehr schön bemerkt hat, die Kühnheit dieses Dichters mit der „Ästhetik des Risikos“ eines Raymond Roussel, der Surrealisten und des Oulipo verbindet. Seine Parodien der Fernsehnachrichten, dazu das Rezept für die größte Tagine (Fleischeintopf) der Welt, das Ganze versetzt mit rituellen Fragen an das Publikum, sie sind ein Musterbeispiel für Erfindungskraft und Humor. Ich muß hier einfach ein paar Passagen über die therapeutischen Eigenschaften der Produkte wiedergeben, die er der Zuhörerschaft anempfahl: weder „Liebespülverchen“ noch „Spritzensaft“ der offiziellen Heilkünstler, sondern zermahlenes Glas oder Amber aus dem Arsch des Teufels ...

„Und Kohle?“

„Sehr gut für die Augen, für den Hahn des Achats der Iris, des kreisenden Lichts des Augenfeuers. Legt die Kohle auf das kranke Auge, laßt sie einwirken, bis sie birst, nehmt einen siebenhunderter Nagel, rammt ihn bis zum Anschlag in die Höhle, und wenn ihr das Auge endlich in der Hand haltet, könnt ihr auf siebenunddreißig Lichtjahre Entfernung sehen!

Wenn ihr Flöhe im Magen habt, Ratten in der Leber, eine Schildkröte im Hirn, Kakerlaken in den Knien, eine Sandale, ein Stück Zink, einen Haufen Schießpulver, bei einer Frau aus Daudiyat habe ich eine Socke gefunden! Ratet mal, wo ich die entdeckt habe?“

„Wo?“

„Im Gehirn eines Professors!“ [Nach der Übersetzung von Mohamed Al Yamani.]

Doch der schwerste Verlust war, letztes Jahr im Ramadan, die unerwartete Schließung des Cafés Matich. Auch wenn seitdem viel Wasser die Wadis hinuntergeflossen ist, hat der Djamaa el-Fna diesen Schlag noch nicht verwunden.

Wie soll man das Unbeschreibliche beschreiben, was sich aufgrund seiner proteischen Natur und alles ergreifenden Innigkeit jeder Schematisierung entzieht? Seine strategische Lage an der belebtesten Ecke des Platzes machte dieses Café zum eigentlichen Mittelpunkt, zu seinem wahren Herzen. Von dort aus überblickte das wache Auge die ganze Weite und sammelte seine Geheimnisse: die Zwistigkeiten, Begegnungen, Begrüßungen und Schwindeleien, die verstohlen fummelnden Hände, die Männer, die ihre Rute überall dorthin dirigieren, wo sie eine Höhlung finden, das ruhelose Gerenne, die Schmähungen, die umhertappenden blinden Bettler, die Liebesgaben. Menschengewühl, fühlbare Nähe der Körper, Raum in ewiger Bewegung: unablässig sich fortzeugende Handlung eines Films ohne Ende. Saatbeet der Geschichten, Nährgrund der Anekdoten, vielstimmiges Fabelwerk mit zweierlei Moral von der Geschicht, all dies war die tägliche Kost seiner eifrigen Besucher. Im Café versammelten sich Gnauamusiker, Schullehrer, Professoren, Bazarhändler, kernige Burschen, kleine Dealer, großherzige Gauner, fliegende Zigarettenhändler, Journalisten, Fotografen, untypische Ausländer, Habenichtse. Die Aufrichtigkeit im Umgang machte sie alle gleich. Im Matich wurde über alles gesprochen, nichts erregte Anstoß. Der Dragoman, der das Teilreich regierte, besaß eine solide literarische Bildung, und seine eher sporadische Aufmerksamkeit, wenn er sich gerade in die Lektüre einer arabischen Übersetzung von Rimbaud vergraben hatte, überraschte allenfalls die Neulinge unter den Gästen.

Dort erlebte ich die kristallisierte Spannung und verheerende Bitterkeit des Golfkriegs, seine harte und unvergeßliche Quarantäne. Die Touristen waren von der Bildfläche verschwunden, und selbst die alteingesessenen Fremden wagten sich, abgesehen von einer Handvoll Exzentriker, nicht an diesen Ort. Ein alter Gnauameister hielt das Ohr an sein Kofferradio gepreßt und lauschte den Nachrichten von der Katastrophe. Die Dachterrassen des Glacier und des Café de France waren hoffnungslos leer. Eine rote Sonne verblutete, Herold des Schlachtens, in der Dämmerung und färbte unheilkündend den Platz.

Dort verbrachte ich aber auch die unbeschwerteste und poetischste Silvesternacht meines Lebens. Ich saß mit einer Handvoll Freunde auf dem Gehsteig und wartete, warm angezogen, auf das neue Jahr. Plötzlich, wie in einem Traum, erschien an der Ecke ein Fuhrwerk, auf dessen Kutschbock sich ein junger Bursche nur mühsam aufrecht halten konnte. Sein umnebelter Blick fiel auf ein blondes Mädchen, das an einem der Tische saß. Verzaubert lockerte er die Zügel, und das Gefährt rollte immer langsamer, bis es zum Stehen kam. Wie in einer Stummfilmszene, in Zeitlupe, grüßte der schlichte Wagenlenker die Schöne und forderte sie auf, sein ungefüges Vehikel zu besteigen. Schließlich sprang er ab, ging unsicheren Schrittes auf sie zu, und mit einem umständlichen „Madame, Madame“ wiederholte er die hochherrschaftliche Geste, die majestätische Einladung in den Rolls Royce oder die königliche Karosse, seinen prachtvollen Landauer. Die Anteilnahme der Gäste umgab fürsorglich seinen Eifer, seine alten Kleider, nun ein Festgewand, das beschwingte Gefährt seines flüchtigen Ruhms. Doch dann zerstörte jemand das Idyll, packte ihn am Arm und geleitete ihn wieder an seinen Platz. Dem Jungen gelang es nicht, sich aus dem Bann zu lösen, er schaute zurück, warf Kußhände, und um sich über das Fiasko zu trösten, klatschte er seiner Stute mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit auf die Hinterbacke (es wurde gelacht und gejubelt). Dann versuchte er den Kutschbock zu erklimmen, schaffte es mit Mühe und fiel rücklings auf die leere Ladefläche, zusammengerollt wie eine Kugel (erneuter Beifallssturm). Mehrere Freiwillige richteten ihn auf, er nahm die Zügel in die Hand, wandte sich zu der nordischen Gottheit hin und formte mit den Lippen einen Abschiedskuß, bevor er, seinem verlorenen Eden trübe nachsinnend, auf dem schmutzigen und vergeßlichen Teer davontrabte. Seit Chaplins glücklichen Filmzeiten hatte ich eine solche Szene nicht mehr genossen: so zart, traumleicht, voll Humor und allerliebst romantisch.

Nach der Schließung des Cafés hat sich die Gemeinde der Stammgäste zerstreut wie ein unbehauster Haufen Ameisen. Die Gnauas drängen sich am Abend auf dem rauhen Asphalt oder versammeln sich im Kabuff eines alten Fonduk auf der Derb Dabachi. Wir übrigen trösten uns nach Kräften über das Verschwinden dieses internationalen Kulturzentrums, lassen Szenen und Episoden aus seiner legendären und leuchtenden Vergangenheit wieder aufleben wie wehmütige Emigranten in ihren provisorischen Refugien.

Doch der Djamaa el-Fna widersteht den Angriffen sowohl der Zeit als auch einer heruntergekommenen, stumpfen Moderne. Die Halqas verkümmern nicht, es finden sich neue Talente, und ein stets nach Geschichten hungerndes Publikum schart sich munter um seine Gaukler und Artisten. Die unglaubliche Vitalität des Ortes und seine Fähigkeit, alles aufzunehmen und zu verdauen, bündeln das Zerstreute, heben Klassen- und Rangunterschiede zeitweilig auf. Die Touristenbusse, die wie Waltiere auf dem Platz stranden, werden sogleich von seinen hauchfeinen Fäden eingesponnen und seinen Magensäften neutralisiert. Die Abende des Ramadans in diesem Jahr lockten Zigtausende von Menschen in seine Mitte, um die improvisierten Garküchen herum und zum lautstarken Gefeilsche um Schuhe, Kleider, Spielzeug und Tand. Im Schein der Petroleumlampen habe ich geglaubt, die Anwesenheit des Autors von Gargantua und Pantagruel zu bemerken, von Juan Ruiz, Geoffrey Chaucer, Ibn Said, Al Hariri sowie zahlreichen Goliarden und Derwischen. Das grobe Bild des Schnösels, der mit seinem Handy schnäbelt, trübt oder mindert den beispielhaften Glanz seiner Allmende nicht. Die Glut des Wortes läßt das wunderbare Reich dieses Platzes überdauern. Doch manchmal macht mir seine Verwundbarkeit Sorge, und dann stiehlt sich die Angst in meine Gedanken und fragt: Wie lange noch?

dt. Thomas Brovot

* Spanischer Schriftsteller, lebt in Marrakesch. Auf deutsch erschienen von ihm zuletzt „Ein algerisches Tagebuch“ (1994) und „Die Marx-Saga“ (1996), beide übersetzt von Thomas Brovot, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag). Der vorliegende Text entstammt seinem in diesem Monat in Spanien erscheinenden Band „De la Ceca a la Meca“ (Alfaguara Ediciones).

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von JUAN GOYTISOLO