13.06.1997

Alte Karten, neu gemischt

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Alte Karten, neu gemischt

Von IGNACIO RAMONET

WAS zeigen uns die Ergebnisse der jüngsten französischen Parlamentswahlen? Es zahlt sich nicht mehr aus, daß eine Regierung den Bürgerwillen mißachtet, die Menschen über entscheidende Fragen hinters Licht zu führen versucht und das Wahlvolk für eine abstrakte Größe hält, die von Wahlstrategen genau berechnet und nach Belieben manipuliert werden kann.

Indem Jacques Chirac aus purer Bequemlichkeit die Nationalversammlung auflöste und vorgezogene Neuwahlen ansetzte (die regulär für März 1998 vorgesehen waren), leistete er sich ein politisches Husarenstück von seltener Dreistigkeit. Und ist damit kläglich gescheitert. Hätte die Sache auch anders ausgehen können? Die Wähler hatten nicht vergessen, daß Chirac im Mai 1995 zwar mit deutlich antiliberalen Parolen (wider das „Einheitsdenken“) und einem stark populistisch gefärbten Programm angetreten war („Den Riß durch die Gesellschaft überwinden!“); doch kaum fünf Monate später hatte er sich entgegen seinen Versprechungen bereits auf eine ultraliberale Politik eingeschworen, die Ärmsten der Armen zur Kasse gebeten und Arbeitslosigkeit und soziales Elend noch vergrößert.

Frankreichs Bürger fühlten sich betrogen und reagierten auf die Ankündigung des neuen Sparprogramms im Oktober 1995 bekanntlich mit massiven Protestaktionen: Im November und Dezember 1995 erlebte das Land die größte soziale Bewegung seit 1968. Weder die Regierung Juppé noch der Präsident selbst sollten sich von ihrem Popularitätsverlust je erholen.

Wen wundert es, daß die Wähler in dieser Atmosphäre beschlossen, nicht noch einmal just dieser Mannschaft ihr Vertrauen auszusprechen? Die Wahlen sind also eine Lektion in Sachen modernes Regieren, eine Lektion, die sich die neue linke Mehrheit und die neue Regierung merken sollte: Das Prinzip der zwei Programme – eines, mit dem man auf Stimmenfang geht, und ein zweites, mit dem man dann gnadenlos hinter verschlossenen Türen regiert – kommt bei den Bürgern nicht mehr durch. Sie verlangen, daß die Politiker Wort halten.

Außerdem sollten die Sieger nicht vergessen, daß das Wahlergebnis in erster Linie dem Wunsch entspringt, den Konservativen eine Lektion zu erteilen, und nicht etwa als Zustimmung zu dem (ohnehin verschwommenen) Programm der Linken zu werten ist. Und daß sie ihren Sieg zum Teil den rechtsradikalen Wählern des Front National verdanken, der mittlerweile die drittstärkste Partei des Landes ist.

Lionel Jospin hat gleich nach der Wahl gesagt, die neue Regierung habe nicht das Recht, die Wähler zu enttäuschen. Das heißt: Die Versprechen, Arbeitsplätze für Jugendliche zu schaffen und Armut und soziale Marginalisierung zu bekämpfen, müssen eingelöst werden. In der jetzigen Situation wäre es fatal, wenn sich die Fehler, die Überheblichkeit und die Verirrungen der früheren sozialistischen Regierungen (1983-1986 und 1988-1993) wiederholen würden.

EIN erneutes Scheitern würde das gesamte politische Gefüge Frankreichs in eine tiefe Krise stürzen und so dem aus der wirtschaftlichen und sozialen Misere erstandenen Neofaschismus des Front National die willkommenen Argumente liefern, um sich als „die einzige wirkliche Opposition“ darzustellen. Sobald die FN-Wählerschaft auf die 20 Prozent zugehen wird, sind die konservativen Parteien – um ihres politischen Überlebens willen – zu Verhandlungen mit dem Front National gezwungen, was der Partei im zweiten Wahlgang eine Menge Abgeordnetensitze und unweigerlich auch die Regierungsbeteiligung einbringen würde.

Gleichwohl verfügt das Linksbündnis, das jetzt die Amtsgeschäfte übernimmt, über einige Trümpfe, um ihre Politik durchzusetzen und das Katastrophenszenario abzuwenden. Ihr Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten und Ökologen steht für die Hoffnungen eines breiten gesellschaftlichen Spektrums und nicht zuletzt der unteren Schichten. Zudem hat sie ernsthaft vor, die vordringlichsten gesellschaftlichen Probleme und vor allem die Arbeitslosigkeit anzupacken.

Damit ihr dies gelingt, wird sie wieder das Primat des Politischen durchsetzen und sich gegen die Leitfiguren des öffentlichen Lebens (Banker, Industrielle, Technokraten, Medien) behaupten müssen, deren Einfluß in den letzten zwanzig Jahren unaufhörlich gestiegen ist. Die Bedingungen dafür stehen günstig; denn das Ergebnis der französischen Wahlen scheint zu bestätigen, daß der ultraliberale Zyklus, der mit dem Sieg Margaret Thatchers 1979 in England für Europa eröffnet wurde, nahezu abgeschlossen ist. Heute gibt es nur noch zwei konservative Regierungen (in Deutschland und in Spanien), in allen anderen Ländern zählt die politische Führung zum linken Lager, oder die Linke ist zumindest an der Regierung beteiligt. Der historische Moment scheint gekommen, dem europäischen Einigungsprozeß eine neue Orientierung zu geben.

Bisher wurde dieser Einigungsprozeß im Namen rein monetaristischer Kriterien und ohne Rücksicht auf das damit einhergehende enorme soziale Elend betrieben – unter dem Vorwand, die Globalisierung lasse keine andere Wahl. Fortan ermöglicht es die Achse London-Paris-Rom, den Argumenten derer Gehör zu verschaffen, die von Europa enttäuscht sind. Dadurch entsteht ein Gegengewicht zu Deutschland, das ohnehin – aufgrund der eigenen Schwierigkeiten mit den Euro-Kriterien – von seiner starren Haltung immer mehr abrückt.

Die neue französische Regierung wird sich gegen die Offensive wappnen müssen, die ihr von seiten der Finanzmärkte und der neuen Herren der Welt unweigerlich ins Haus steht. Sie darf diesem Druck nicht nachgeben; dabei wird sie auf einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung rechnen können. Die Mehrheit der Bürger in Europa setzt nach wie vor auf sozialen Fortschritt und Solidarität. Und damit auf eine Art von Globalisierung, die sich an den Menschen und nicht alleine am Profit der Märkte orientiert.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von IGNACIO RAMONET