13.06.1997

Markt für die Armen

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Markt für die Armen

Von MARTIN WOLF *

DIE Globalisierung hat weniger die Löhne in den entwickelten Ländern beeinträchtigt und Menschen arbeitslos gemacht als vielmehr bewirkt, daß in weiten Teilen der Welt mehr Wohlstand entstanden ist.

Die Globalisierung ist das ökonomische Großereignis unserer Zeit. Sie bestimmt, was Regierungen tun können – und sollten. Sie erklärt, was mit der Weltwirtschaft geschieht. Aber was ist Globalisierung? Und was ist gut an ihr?

In seiner jüngsten weltwirtschaftlichen Vorausschau beschreibt sie der Internationale Währungsfonds als „die wachsende wirtschaftliche Interdependenz von Ländern in aller Welt als Folge der wachsenden Anzahl und Vielfalt grenzüberschreitender Transaktionen von Waren und Dienstleistungen und von internationalen Kapitalströmen sowie als Folge einer schnelleren und umfassenderen Verbreitung der Technologie“. Zwischen 1939 und 1990 sanken die Durchschnittspreise im Luftverkehr pro Meile von 68 auf 11 US-Cent, gerechnet in Dollar von 1990; die Kosten eines dreiminütigen Telefongesprächs zwischen New York und London sanken von 240,65 auf 83,92 Dollar; und zwischen 1960 und 1990 fiel der Preis einer Einheit Computerkapazität um über 99 Prozent. Die verbesserte Kommunikation ließ eine neue Organisationsform entstehen – die multinationale Firma, ein hervorragender Mechanismus für den grenzüberschreitenden Technologietransfer.

Technologie macht Globalisierung möglich. Liberalisierung macht sie zur Realität. Und Liberalisierung ist die Realität: Von 1970 bis 1997 etwa stieg die Zahl der Länder, die ihre Kontrolle über die Importe von Waren und Dienstleistungen aufhoben, von 35 auf 137.

Es ist richtig, daß die Weltwirtschaft in mancher Hinsicht weniger integriert ist als vor dem Ersten Weltkrieg. Die britische Kapitalausfuhr zum Beispiel erreichte auf ihrem Höhepunkt vor 1914 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – zweimal mehr als die deutsche und japanische in den achtziger Jahren. Die Welt kannte damals praktisch eine einzige Währung – das Gold. Ähnlich lag zu Beginn des Jahrhunderts die Zahl der grenzüberschreitenden Arbeitskräfte höher als heute. Dennoch ist alles in allem die Globalisierung weiter fortgeschritten als je zuvor: Global fielen die Anteile der Exporte an den Volumen der Gesamtproduktion gegen 1970 wieder auf das Niveau von 1918, sind seitdem jedoch um 12 bis 17 Prozent gestiegen; die Finanzmärkte sind weitgehend integriert; der Technologietransfer vollzieht sich mit beispielloser Geschwindigkeit; die Regierungen sind zunehmend an multilaterale Vereinbarungen gebunden. Warum haben sich so viele Regierungen — ob freiwillig oder notgedrungen — dem Weltmarkt geöffnet? Die Antwort liegt in den Lehren, die uns die Erfahrung erteilt hat. Staaten können ihre Bürger einsperren, aber sie können die Eingesperrten nicht dazu zwingen, dieselbe Initiative zu entwickeln wie freie Menschen.

Vergleichen wir West- und Ost- Deutschland, Süd- und Nord-Korea oder Taiwan und das maoistische China. In jedem dieser Fälle entschied sich das zweite Land freiwillig oder gezwungenermaßen zur Isolation, während das erste auf die internationale ökonomische Integration setzte. Nach Ablauf von etwa vierzig Jahren hatte sich eine Proportion der Pro- Kopf-Realeinkommen von drei zu eins ergeben. Die Wirtschaftsgeschichte bietet uns keine Beispiele, die dem unerfüllbaren Ideal kontrollierter Experimente näher kommen würden. Ihre Ergebnisse erklären, warum China sich zur Liberalisierung entschloß, während das Sowjetimperium unterging, warum der Kommunismus zusammenbrach und warum Tony Blair seine Partei „New Labour“ nennt.

Wer glaubt, die Liberalisierung von heute sei unverständlich oder unvernünftig, der ist verblendet. Und dennoch sind viele genau dieser Meinung. Sie haben dreierlei Motive: Sie hassen den Markt; sie haben Angst vor Ausländern; und sie sorgen sich um Löhne, Arbeitsplätze und die Wirtschaftskraft ihrer Länder. Die beiden ersten Motive sind pathologisch, das letzte ist immerhin rational.

In fortgeschrittenen Volkswirtschaften kam es in den letzten zwanzig Jahren zu einem erheblichen Anwachsen der Lohndifferenzen zwischen qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften oder zu steigender Arbeitslosigkeit bei den Unqualifizierten, oder zu beidem. Und dies, obwohl das relative Angebot an qualifizierter Arbeit gestiegen ist. Viele geben die Schuld an dieser Entwicklung der wachsenden Konkurrenz der Billiglohnländer. Das wäre durchaus vorstellbar. Alle vorhandenen Indizien weisen jedoch darauf hin, daß dies so nicht stimmt.

Die Theorie ist simpel: Importe aus Ländern mit einem relativen Überangebot an billiger Arbeitskraft sollen die Preise von Produkten senken, an denen solche Arbeit relativ stark beteiligt ist. Dadurch würde sich die Produktion in den fortgeschrittenen Ländern auf Produkte verlagern, in die intensiv qualifizierte Arbeit eingeht; die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit würde steigen und die Nachfrage nach unqualifizierter Arbeit sinken. Diese Verlagerung würde sich entweder in steigenden Lohndifferenzen zwischen qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern oder in zunehmender Arbeitslosigkeit bei letzteren niederschlagen.

Vom Mythos des Schadens

DIE Theorie ist elegant. Aber die empirischen Belege lassen erkennen, daß die relativen Preise von Waren, die von unqualifizierten Arbeitskräften hergestellt wurden, nicht gefallen sind – wahrscheinlich, weil Importe aus Ländern wie China die Importe aus Ländern wie Süd-Korea ersetzt haben, und nicht etwa die Produkte aus fortgeschrittenen Ländern. Mehr noch, die Fertigwarenimporte aus Entwicklungsländern belaufen sich nur auf 10 bis 20 Prozent der gesamten Produktion in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften. In einem IWF-Arbeitspapier über die Auswirkungen der Globalisierung auf die Löhne in den alten Industrieländern kommen Matthew Slaughter vom Dartmouth College und Philip Swagel vom IWF zu dem Schluß: „Die Zunahme des Handelsvolumens ist nur für etwa 10 bis 20 Prozent der Veränderungen in der Lohn- und Einkommensverteilung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften verantwortlich.“

In jeder hochentwickelten Wirtschaft ist der Anteil der Produktionsarbeit an der Gesamtbeschäftigung gesunken: in der Europäischen Union von über 30 Prozent 1970 auf 20 Prozent 1994, in den USA von 28 Prozent 1965 auf 16 Prozent 1994. Parallel zu diesen Entwicklungen sinkt aber auch der jeweilige Anteil der Produktion am Bruttoinlandsprodukt zu heutigen Preisen. Dies läßt vermuten, daß der Grund für die verminderte Rolle der Produktion in der Beschäftigung darin zu suchen ist, daß der Output nicht wächst.

Der Anschein kann trügen. In konstanten Preisen gemessen war der Rückgang des Produktionsanteils am gesamten Output sehr gering. Es könnte also an der Tatsache liegen, daß im Produktionssektor ein größeres Produktivitätswachstum als im Dienstleistungssektor vorliegt, was dazu führt, daß sowohl die relativen Preise des produzierten Outputs wie auch der Produktionsarbeit pro Output-Einheit gesunken sind.

So stieg in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften zwischen 1971 und 1994 der Output der Produktion um 2,5 Prozent pro Jahr, aber der Output pro Person um 3,1 Prozent. Bei den Dienstleistungen lauteten die Zahlen dagegen 3,3 und 1,1 Prozent. Der Anteil der Beschäftigung an der Produktion ging also zwangsläufig zurück, wie das in der Landwirtschaft schon seit langem der Fall ist.

Der Schaden, den die Globalisierung in den fortgeschrittenen Ländern angeblich anrichtet, ist weitgehend mythischer Natur. Keinesfalls mythisch hingegen waren die Möglichkeiten, die sich durch die ökonomische Integration für die armen Ländern boten.

Zwischen 1965 und 1995 stieg in den neu industrialisierten Ländern Asiens das Pro-Kopf-Realeinkommen um das Siebenfache, während ihr Anteil am Welthandel um mehr als das Vierfache anstieg. Ähnlich läßt sich im Fall China die Phase der beschleunigten Entwicklung auf die Beschlüsse zur Liberalisierung der Landwirtschaft und der Öffnung zur Weltwirtschaft zurückführen. Wo der Handel vorangeht, folgt der Kapitalfluß: 1996 floß mehr Kapital nach China als noch 1989 in alle Entwicklungsländer zusammen.

Die Globalisierung war nicht unvermeidlich. Auch spiegelt sie nicht nur einfach den Vormarsch der Technologie. Sie markiert die erfolgreiche weltweite Ausbreitung der wirtschaftlichen Liberalisierung, die vor fast fünfzig Jahren in Europa mit dem Marshallplan begann. Jetzt bietet sie für Milliarden Menschen in aller Welt beispiellose Möglichkeiten.

Das ruft unweigerlich auch jene auf den Plan, die Angst vor Märkten und Ausländern haben. Ihre Stimmen muß man ignorieren. Was allerdings Not tut, ist ein gründliches Nachdenken [siehe hierzu Martin Wolf, „Far from Powerless“, FT, 13. Mai 1997, A. d. R.] über die Frage, was Regierungen tun können und sollten, wenn der Markt ein globaler, ihr Einfluß jedoch lediglich ein lokaler ist.

dt. Meino Büning

* Mitglied der Chefredaktion und Wirtschaftsredakteur bei der Financial Times.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von MARTIN WOLF