Zwei Visionen der einen Welt
Der demokratische Prozeß siecht allenthalben saft- und kraftlos vor sich hin. Zu lebendigen politischen Kontroversen kommt es weder in Großbritannien, wo bei den jüngsten Wahlen der Anteil der Nichtwähler um 7 Prozent gestiegen ist, noch in Frankreich oder den anderen Ländern auf dem europäischen Kontinent. Zwar hat der Begriff des „pensée unique“ (Einheitsdenkens) im Englischen noch keine adäquate Übersetzung gefunden, doch das Phänomen ist in Großbritannien weit verbreitet. Und besonders die Globalisierung gilt in diesem Land im politischen Medienspektrum fast durchgängig als ein Faktum, über das man gar nicht mehr diskutieren muß.
Das gilt auch und gerade für die angesehene Tageszeitung Financial Times, die wie die Wochenzeitung The Economist auf ihren Seiten das liberale Credo verkündet. Die FT, wie man sie üblicherweise nennt, wird zu Recht hoch geschätzt wegen der Qualität ihrer internationalen Berichterstattung und der Genauigkeit ihrer Informationen über die Wirtschaft, die Finanzwelt und auch die sozialen Probleme. Dabei hält sie sich an die strikte Unterscheidung zwischen den – geheiligten – Fakten und den Kommentaren, in denen sie ihre Meinungen entschieden zur Geltung bringt. So hat sie etwa kurz vor den britischen Wahlen in einem Editorial, in dem sie unumwunden für den „New Labourism“ von Tony Blair eintrat, die Haltung der Zeitung klargestellt. Ihre Leitlinie sei der „Glauben an die Marktwirtschaft, den freien Handel und ein offenes Europa.“
Demgegenüber basieren die verschiedenen Haltungen, die in Le Monde diplomatique zum Ausdruck kommen, zwar auch auf Informationen und harten Tatsachen, aber sie beziehen sich zugleich auf politische Werte, die jenseits des Marktes angesiedelt sind – globale Werte wie Demokratie und Solidarität.
Diese Zeitung, die in fünf Sprachen des Alten Kontinents erscheint, argumentiert entschieden für ein Europa der Bürger und einer gemeinschaftlichen Politik; und sie äußert sich kritisch zu der Vorstellung einer Freihandelszone. Sie vertritt die Auffassung, daß sich die Wirtschaft der Gesellschaft unterzuordnen habe und nicht etwa umgekehrt. Das bedeutet, daß das „freie“ Spiel der Kräfte durch Regeln zu begrenzen ist und daß sich die Entwicklung des Weltmarktes demokratischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Maßstäben unterwerfen muß.
Dies sind, wie man sieht, zwei Visionen der einen Welt, deren Vertreter sich nur selten auf ein direktes Gespräch einlassen. Deshalb haben beide Zeitungen die Streitgesprächs-Initiative von Howard Machin, dem Leiter des European Institute an der London School of Economics, begrüßt. Das Treffen hat am 5. Mai in der LSE stattgefunden und ein großes interessiertes Publikum angezogen. Die sechs Teilnehmer (drei der Financial Times und drei von Le Monde diplomatique) haben nicht versucht, einen künstlichen Konsens zu finden – wie man aus der Lektüre der einleitenden Stellungnahmen ersehen kann ...
Seiten 12 bis 15