15.08.1997

Magnitogorsk oder Wo der Stahl gehärtet wurde

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Magnitogorsk oder Wo der Stahl gehärtet wurde

Von unserer Korrespondentin MARIE-CLAUDE SLICK *

AM Fuß des Ural, auf der Grenze zwischen Europa und Asien, lag ehedem eine weite Steppe, aus der sich ein Hügel erhob, welcher sagenhafte Eisenerzvorkommen barg: die Magnitka. Daher der Name der Stadt: Magnitogorsk. Hierher ließ Stalin ab 1929 Tausende Strafgefangene deportieren, um das größte Hüttenzentrum der Welt zu errichten. 30000 Häftlinge sollen auf der Baustelle umgekommen sein; doch im Jahr 1934 beginnen die Hochöfen zu rauchen. Filme aus der damaligen Zeit zeigen feuerspeiende Hochöfen und geschmolzenes Metall, davor junge, kräftige Arbeiter in Heldenpose, tatkräftige, muskulöse, schweißglänzende Sowjetbürger, die trotz aller Strapazen lachen und begeistert die neue Gesellschaft aufbauen. Erst die Perestrojka der achtziger Jahre wird den Lügenschleier endgültig lüften, wenngleich man sich immer noch gerne an die glorreiche Rolle erinnert, die das Werk während des „Großen Vaterländischen Krieges“ gespielt hat.

Aus diesem Hüttenkombinat kam im Zweiten Weltkrieg der Stahl, mit dem fast die Hälfte aller sowjetischen Panzer gebaut wurde. Der erste Teil der an das Kombinat angrenzenden Stadt wurde 1940 fertiggestellt. Nach dem Krieg beauftragte Stalin zwei Leningrader Architekten mit einer Erweiterung. Es entstand das einzige ästhetisch ambitionierte Viertel von Magnitogorsk: einige Straßenzüge im Stalinstil, doch in italienischem Grün und Ocker. Jenseits dieses „historischen“ Stadtkerns (der 1950 fertig wurde) wirkt alles so grau und deprimierend wie in allen russischen Provinzstädten: Triste rechteckige Wohnblocks entlang der endlosen Boulevards mit ihren löcherigen Bürgersteigen.

Stadt und Kombinat sind untrennbar miteinander verquickt. An einem Ort, wo bis vor kurzem noch das Werk jeden Aspekt des Lebens bestimmte, kann man es sich kaum anders vorstellen. Der Zusammenbruch der UdSSR hat sich hier erst mit Verzögerung bemerkbar gemacht. Dennoch machen Politiker und Planer sich Gedanken über die Zukunft dieser Stadt von 450000 Einwohnern, die 1400 Kilometer von Moskau entfernt an der Grenze zu Kasachstan liegt und zu Sowjetzeiten für Ausländer gesperrt war. Wenn es nach den Bewohnern ginge, müßte noch mehr ins Kombinat investiert werden. Ihr ganzes Leben hängt daran, sie können sich nichts anderes vorstellen, nicht einmal die jungen. Alexander Alajew, der für Wirtschaftsfragen zuständige Vizebürgermeister, sagt: „Heute will in Rußland niemand mehr in die Produktion investieren. Die Banken ziehen Finanzgeschäfte vor. Schwierige Bedingungen also, um kurzfristig eine Alternative zu entwickeln.“

Das Hüttenwerk heißt hier kurz „das Kombinat“ oder „MMK“, oder auch liebevoll „Magnitka“, nach dem ursprünglichen Eisenerzvorkommen. Bis 1993 dominierte das Kombinat praktisch die gesamte Infrastruktur der Stadt. Seitdem geht der Anteil des Unternehmens und seiner 41 Filialen an der Wirtschaftsaktivität Jahr um Jahr zurück.

Die Leitung des Kombinats versucht mit allen Mitteln, zu verschleiern, daß die Produktion seit dem Spitzenjahr 1989 (16 Millionen Tonnen Stahl und ebenso viele Tonnen Guß- und Walzeisen) um die Hälfte zurückgegangen ist, ohne daß die Zahl der Beschäftigten entsprechend sank (früher 65000, heute noch 59500). Diese Zahlen muß man der Direktion geradezu aus den Zähnen ziehen; das Unternehmen schottet sich vor Journalisten ab – wie die meisten Industriebetriebe in Rußland. Denn längst hat die mangelnde Transparenz in der Wirtschaft die mangelnde Transparenz in der Politik abgelöst.

Am deutlichsten spürt man dies beim Thema Finanzen. Das Kombinat hat eine totale Informationssperre über die Verteilung seiner Aktien verhängt. Es wurden Aktien zu 1000 Rubel ausgegeben, wobei im Prinzip die Beschäftigten 49 Prozent und der Staat 51 Prozent halten sollten. Doch auch hier haben sich einige wenige Funktionäre der alten Nomenklatura am nationalen Vermögen bereichert, so der gegenwärtige Generaldirektor des MMK, Anatoli Starikow, der bereits vor der Privatisierung zur Betriebsleitung gehörte. Kurz: die Macht blieb in denselben Händen, nur daß diese jetzt zu Privatmenschen gehören. Der Staat, der nach dem ursprünglichen Modell Mehrheitseigner bleiben sollte, hielt 1996 nur noch 17 Prozent des Kapitals. Und durch die Geldentwertung haben die Aktien der Beschäftigten ihren Wert verloren: 1000 Rubel entsprechen heute noch 30 Pfennigen! So entstanden auf einmal Finanzgruppen, die Aktien über dem Nennwert aufgekauft haben; sogar das Kombinat hat eine eigene Aktiengesellschaft gegründet: die „Magnitogorsker Stahl“. Heute kostet eine Aktie rund 12000 Rubel. Die Beschäftigten aber haben praktisch ihr Aktienkapital abgestoßen, gezwungen durch die Lohnrückstände des Unternehmens.

Zwar bietet MMK höhere Löhne (durchschnittlich 330 Mark) als die anderen Stahlunternehmen der Stadt, doch sie werden mit Verspätung gezahlt. Dies liegt daran, daß das privatisierte Kombinat weiterhin wie ein Staatsbetrieb funktioniert und sich weigert, Personal abzubauen, wie die marktwirtschaftliche Logik es verlangen würde. Der einzige Ausweg lautet also: mehr produzieren. „Das ist uns nicht gelungen“, gibt Wiktor Kulakowski, der Lagerverwalter, zu. „Das ist ein Problem in ganz Rußland. Die russischen Kunden zahlen nicht. Nicht mit Geld, und immer zu spät. Für das Metall, das sie erhalten, liefern sie uns andere Waren. Geld bekommen wir nur, wenn wir exportieren. Aber das reicht nicht, um die gestiegenen Produktionskosten zu decken. Und um unsere Märkte zu halten, müssen unsere Preise niedrig bleiben.“

Der Tauschhandel als Geldersatz

DER Tauschhandel ist in Rußland zu etwas Alltäglichem geworden. Daß ein Direktor einer Autofabrik seine Steuerschuld mit Fahrzeugen abbezahlt, wie wir es in einer anderen Stadt erzählt bekommen, ist nicht ungewöhnlich, doch Magnitogorsk hat noch ein besonderes Problem. Das Eisenvorkommen ist seit fünfundzwanzig Jahren erschöpft, seither kommt das Erz aus Kasachstan. Der nächste Hafen liegt Tausende von Kilometern entfernt, ein erheblicher Kostenfaktor, denn 60 Prozent der Produktion werden exportiert, und der Schienentransport wird immer teurer.

Angesichts der chronischen Lohnrückstände hat das Kombinat – wie andere Unternehmen – seit Jahresbeginn ein System etabliert, das die Einkommen der Beschäftigten ein zweites Mal abschöpft. Es hat seine eigenen Läden eröffnet, wo jedes Betriebsmitglied mit elektronischer Kreditkarte einkaufen kann, auf der die Hälfte seines Einkommens verbucht ist. Das Lebensmittelgeschäft Wostok führt alles, was man braucht, sogar hochwertige Importware – allerdings zu gehobenen Preisen. Wenn Wolodja Nafanowitsch, Dreher bei MMK, seinen Lohn in Form von Geld beziehen würde, könnte er auf dem Markt einkaufen gehen, zu minderer Qualität, aber günstigeren Preisen. „Ich kaufe hier nicht viel“, sagt er. „Es ist teurer als anderswo. Außerdem hoffe ich, daß ich das auf der Karte gebuchte Geld, das ich nicht ausgebe, eines Tages auf die Hand bekomme.“ Schön und gut, aber der Lohn kommt nicht.

Ist es russischer Fatalismus, daß die (ständig befürchtete und schon oft angekündigte) soziale Explosion bis heute ausgeblieben ist? Tatsächlich hat im Kontext des Wandels jeder seinen Platz gefunden: Die einen haben ihre Chance genutzt, die anderen sind durchs Raster gefallen, die Mehrheit aber versucht, sich recht und schlecht durchzuschlagen.

Jede Generation sieht die Dinge auf ihre Weise. Nikolaj Samanski ist 62. 1951 fing er im Kombinat an, wo seine Frau bereits als Angestellte arbeitete. Sein Bruder und seine Schwägerin sind immer noch dabei, ebenso sein Sohn Sergej und dessen Frau. Eine echte Dynastie. Sergej, 37, arbeitet seit 18 Jahren als Werkselektriker. „Mit der Sicherheit ist es vorbei“, erklärt er. „Heutzutage kann man nicht mal davon ausgehen, daß man seinen Lohn erhält.“ Dennoch trauert er der Vergangenheit nicht nach. „Vor sieben Jahren hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich eine eigene Wohnung mieten und einen Wagen fahren könnte.“ Wenn sich Sergej, obwohl er auf seinen Lohn wartet, für 1500 Mark einen gebrauchten Lada kaufen konnte, so deshalb, weil der Werkslohn wie für viele Russen nicht seine Haupteinnahmequelle ist. Sergej, der Elektriker, arbeitet regelmäßig schwarz. Denn die Bautätigkeit boomt, dank privater unternehmerischer Initiative. Die Veränderungen haben neue Perspektiven für jeden eröffnet, der Fähigkeiten besitzt, die außerhalb des Betriebes gefragt sind, und der clever genug ist, sie zu nutzen.

„Entweder du kommst voran, oder du fällst hinten runter. Was mich betrifft, ich komme voran“, sagt Galina, 40, die – wohl aus Steuergründen – nicht ihren vollen Namen nennt. Die Arzttochter ist Kinderpsychiaterin. Seit vier Jahren gehört sie zu den tschelnoki, den „Pendlern“, die im Ausland Unmengen von Waren beschaffen, um sie auf den jarmarki weiterzuverkaufen. Diese wimmelnden russischen Märkte mit ihren wackligen Ständen – die während eines Großteils des Jahres im Schlamm versinken – sind sichtbarster Ausdruck erfolgreichen privaten Unternehmertums. Der Umsatz dieses florierenden Wirtschaftssektors läßt sich angesichts der Steuerhinterziehung nicht in Zahlen fassen. Aber die tschelnoki stellen ganze Armeen, die man auf Bahnhöfen und Flughäfen an ihren prallgefüllten gestreiften Plastiktaschen erkennt. Wer gut ins Geschäft kommt, importiert seine Ware nach einiger Zeit containerweise.

Vor vier Jahren verdiente Galina mit ihrer Arbeit in der Psychiatrie etwa sechzig Dollar pro Monat. Dann versuchte sie ihr Glück, plünderte ihre Sparbüchse und fuhr nach Griechenland, wo sie Pelzbekleidung kaufte, die sie zu Hause ohne Probleme absetzte. Mit dem Gewinn bestritt sie eine zweite Griechenlandreise. Damit lief das Geschäft. Derzeit fährt sie einmal im Monat nach Griechenland oder in die Türkei; die mitgebrachten preiswerten Pelzsachen verkauft sie in ihrem Kiosk auf dem größten Markt von Magnitogorsk. Auch ihr Mann und ihr Bruder arbeiten in dem neuen Geschäft. Die Gewinne reinvestiert Galina. Sie lebt mit Mann und Tochter weiterhin in einer Zweizimmerwohnung; und sie ist beileibe noch nicht reich. Aber sie lebt wesentlich besser als früher, das sei die Hauptsache. Und so sagt sie zufrieden: „Endlich kann man sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Aber was morgen sein wird, weiß ich nicht. Früher war man stolz, wenn die Eltern Ärzte waren. Heute trägt meine Tochter in Fragebögen als Beruf der Eltern lieber biznesmen ein; für sie klingt das besser als wratsch.“ Ob Galina das bedauert? „Nein, so ist das nun mal.“

Zu Sowjetzeiten gab es in Magnitogorsk 200 große Betriebe; im Frühjahr 1997 waren 6000 Betriebe registriert. Dennoch sind die Produktionszahlen rückläufig, weil die meisten von ihnen Kleinbetriebe sind, die in der Regel gar nichts herstellen. In Magnitogorsk arbeiten von den neugeschaffenen Unternehmen nur 21 Prozent im Bereich der gewerblichen Industrie, dagegen 43 Prozent im Handel, 17 Prozent im Dienstleistungsbereich, weitere 17 Prozent in der Baubranche und ganze 2 Prozent in der Landwirtschaft.

Der Aufstieg des Wiktor Barabanow

Seit zwei, drei Jahren jedoch haben etliche Unternehmer wieder in die Produktion zu investieren begonnen. Ein Beispiel ist Wiktor Barabanow, 44, ehemals Ökonomie-Dozent an der Fachhochschule für Bergbau. 1995, zwei Jahre nach Aufhebung des Staatsmonopols für Backwaren, begann er sich in dieser Branche zu engagieren. Da er keine Bankkredite erhielt, versuchte er, Kapital durch Subskription aufzutreiben. Und er besorgte sich ein gutes Team, das sich durch Kompetenz und Engagement (beides nicht selbstverständlich) auszeichnete. Schon 1996 warf seine Backwarenfabrik Gewinne ab, und durch den Erfolg ermutigt, eröffnete er ein Einkaufszentrum in einem 1000 Quadratmeter großen, von der Stadt gemieteten Gebäude, das mitten in einem Arbeiterviertel auf einem staubigen, unkrautüberwucherten Grundstück liegt. Vor dem Laden verkaufen alte Mütterchen Milch und Wodka, ohne Konzession. Das Einkaufszentrum selbst ist bescheiden, aber sehr sauber. Es beherbergt neben der Backwarenproduktion diverse Geschäfte: Bäckerei, Metzgerei, Drogerie, Apotheke und Lebensmittel. Die meisten Waren stammen aus Rußland, es gibt aber auch Importprodukte.

Alle Gewinne aus diesem Einkaufszentrum investiert Barabanow wieder in ein zweites Geschäft, diesmal in der Nähe des Stadtzentrums, wo er Fleisch und Geflügel verkaufen will. Wiktor Barabanow überwacht die Bauarbeiten persönlich; er legt größten Wert auf sanitäre und Sicherheitseinrichtungen und betont, daß er die Vorschriften der Gesundheitsbehörden penibel einhält. Inzwischen beschäftigt er an die hundert Menschen und hat nichts gemein mit jener Bilderbuchvorstellung des russischen Geschäftsmanns, der weder Glauben noch Moral hat, nur auf schnellen Profit aus ist und über Mafia-Kontakte verfügt. Die Zeiten ändern sich; Barabanow ist nicht das einzige Exemplar jenes neuen Unternehmertyps: in den Vierzigern, mit Hochschulabschluß und dem Bewußtsein, eine gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen.

Es ist freilich gar nicht so leicht, die administrativen und fiskalischen Probleme zu meistern. Auf der einen Seite läßt zwar die staatsbürgerliche Gesinnung der Russen gegenüber ihren Steuerbehörden zu wünschen übrig, aber auf der anderen Seite ist die Steuergesetzgebung mit ihren Unübersichtlichkeiten und ständigen Änderungen dem unternehmerischen Elan nicht gerade förderlich. Sie zwingt die Unternehmen geradezu, im Interesse des Überlebens die Gesetze zu umgehen. „Ich arbeite heute mindestens neun Stunden pro Tag, abgesehen von meinem politischen Amt“, sagt Wiktor Barabanow, der auch im Stadtrat sitzt. Am Steuer seines Niva mit Allradantrieb sitzend (seinen deutschen Wagen läßt er lieber in der Garage), meint er abschließend: „Was meine persönliche Situation betrifft, bin ich Optimist, aber was die soziale und ökonomische Lage des Landes angeht, bin ich Pessimist.“

Während sich in der Hauptstadt die Wohngegenden mit gehobenen Einfamilienhäusern und die Arbeiterviertel zunehmend auseinanderentwickeln, sind die Wohnformen in der Provinz noch durchmischt. Zwar hat sich auch in Magnitogorsk das Stadtbild allmählich verändert, aber hier schießen keine schicken Wohnanlagen aus dem Boden wie in Moskau. Zwar gibt es eine Reihe von Luxusgeschäften und immer mehr ausländische Edelkarossen, doch von der Arroganz, die in Moskau herrscht, ist hier noch nichts zu spüren. Trotz ihrer satten Einkommen haben viele Unternehmer an ihrem Lebensstil nur wenig geändert; mitunter wohnen sie sogar noch in den alten Arbeiterwohnblocks. Und einige lassen sogar eine gewisse Sowjetnostalgie erkennen, weil sie die wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven sowie die Kriminalität mit Unruhe sehen. Alle kennen sie – auch in der eigenen Familie – Arbeiter, Ingenieure oder Lehrkräfte, die ihre Gehälter nicht ausbezahlt bekommen, und Jugendliche, die nach dem Schulabschluß keinerlei Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben. Diese neuen Kleinunternehmer haben sich von ihrem Herkunftsmilieu noch nicht sehr entfernt und fühlen dessen Sorgen noch wie selbstverständlich mit.

Auch die Renten werden generell verspätet ausgezahlt. Dabei liegt die Durchschnittsrente eines Arbeiters gerade mal bei 90 Mark. Die Probleme der älteren Menschen sind so groß, daß die Stadtverwaltung gezwungen war, ein Zentrum zu eröffnen, das notleidende Rentner für mehrere Wochen aufnehmen kann. Außerdem erhalten sie eine Beihilfe für die nötigsten Einkäufe und dürfen die öffentlichen Verkehrsmittel gratis benutzen. Um Familien, die durch verzögerte Lohnzahlungen zu verarmen drohen, kümmert sich der Sozialdienst, wobei das Existenzminimum für einen Haushalt auf 90 Mark pro Monat festgelegt wurde.

Die Stadt ist von Überalterung bedroht. Die Sterberate liegt über der Geburtenrate, sicher noch eine Folge der schlechten Gesundheits- und Sozialversorgung, die zu Sowjetzeiten herrschte. So ist seit Ende der achtziger Jahre eine sinkende Lebenserwartung zu registrieren (sie beträgt heute 58 Jahre für die Männer und 69 Jahre für die Frauen). Völlig neu ist dagegen das Phänomen der Ausgrenzung. Das Sozialzentrum der Stadt hat seit seiner Gründung vor zwei Jahren rund 8000 Menschen aufgenommen: zuweilen Obdachlose, aber häufiger Personen, die nur vorübergehend Hilfe brauchten. Doch das Problem ist jedenfalls weniger gravierend als in den meisten russischen Großstädten.

Das gilt auch für die Kriminalität: Sie hat zwar zugenommen, ist jedoch viel geringer als im Rest des Landes. „Die Marktwirtschaft ist in Rußland zu abrupt eingeführt worden. Daher diese explosionsartige Zunahme der Verbrechen“, resümiert Fjodor Bulatow, der Chef der Miliz. „Dennoch ist die Konkurrenz in Magnitogorsk nicht so brutal wie anderswo. Der Übergang von der Staats- zur Marktwirtschaft ist hier weniger rabiat, weil noch bedeutende Industriebetriebe vorhanden sind. Es gibt weniger Verbrechen, auch weniger Überfälle auf Geschäfte. Die Kioske arbeiten rund um die Uhr; ihre Scheiben sind nicht vergittert. Es hat sich etwas von dem früheren Gemeinschaftssinn erhalten.“

Tatsächlich spürt man hier noch etwas von einem sozialen Zusammenhalt, der in Moskau praktisch verschwunden ist. Allein 1996 gab es dort 67 Privatfehden mit tödlichem Ausgang, die meisten davon mit ökonomischem Hintergrund; in Magnitogorsk gab es seit dem Ende der Sowjetunion insgesamt erst fünf Fälle. Rein wirtschaftlich betrachtet, hat das Kombinat zweifellos etwas Absurdes, doch in gewisser Hinsicht bewahrt es die Bevölkerung vor den fatalen Folgen ungebremster Veränderungen. Das heißt jedoch nicht, daß in Magnitogorsk die Erinnerung dominiert – wohl aber eine gewisse Unsicherheit, und ganz bestimmt viel Sorgen und Zukunftsangst.

Magnitogorsk will seine Vergangenheit nicht leugnen, sich aber auch nicht an den Mythos klammern. Mit der Zeit schwindet die Sehnsucht nach der alten Sowjetunion zugunsten einer Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse. Bis die erreicht sind, wirken die Hochöfen mit ihren schwarzen Rauchwolken auf die Bewohner wie ein Beruhigungsmittel.

dt. Eveline Passet

* Journalistin

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von MARIE-CLAUDE SLICK