Dressierte Tauben
Bei den Intellektuellen ist die soziale Wirklichkeit aus der Mode gekommen. Es scheint, als kapitulierten sie vor den Gesetzen der Medien. Aus freien Stücken schnüren sie sich in das Korsett ihrer lukrativen Dressur.
■ Von JUAN GOYTISOLO *
ES ist vielleicht zwanzig Jahre her, da kam einer der bekanntesten Gaukler von Marrakesch jeden Tag auf den Djamaa el-Fna und ließ sich mit einem Käfig voller Tauben an seinem angestammten Platz nieder. Kaum hatte sich der Kreis der Neugierigen um das Rund geschlossen, in dem er seine Künste darbot, öffnete er den Käfig und befahl den männlichen Exemplaren, auszuschwärmen und auf dem Frontispiz der Maghreb-Bank Aufstellung zu nehmen. Dann führte er eine lange Unterredung mit den Weibchen, versetzt mit Ratschlägen und Fragen, die diese mit ihrem Gurren und Ruckedigu beantworteten. Nachdem er sie über die Pflichten und Listen des guten Eheweibs aufgeklärt hatte, machten sich die Angesprochenen auf die Suche nach ihren Partnern und kehrten gemeinsam in die Mitte der Halqa zurück. Das Publikum belohnte mit ein paar Münzen den frotzelnden Vortrag über die perfekte Ehefrau sowie die Promptheit, mit der die Männchen den Vorgaben des Drehbuchs folgten. Der Gaukler verschwand eines Tages, doch die Erinnerung an die Dressur und Disziplin der Tauben verflüchtigte sich nicht. Oft muß ich dabei an all die Intellektuellen denken, die in Spanien und anderswo sich postmodern schimpfen und fügsam wie artig ihre vorgezeichneten Bahnen ziehen.
Die Dressur des anfänglich begabten jungen Schriftstellers oder Intellektuellen beginnt in dem Augenblick, da er sich entschließt, Karriere zu machen. Ob in den Hörsälen der Universität oder im Creative Writing-Kurs: man prägt ihm auf sanfte, aber bestimmte Art ein, die Regeln des Konsenses zu befolgen, die angeblichen Autoritäten der etablierten Kreise zu achten und was immer er schreibt oder tut mit der herrschenden Meinung oder dem Geschmack des Publikums in Einklang zu bringen. Themen, die für den ambitionierten Lehrstuhlanwärter als tabu gelten, werden, ebenso wie schöpferische „Anomalien“, die nicht in den Erwartungshorizont der Barden des Tages und ihrer Generation passen, beschnitten und bereinigt. Das langsamere oder raschere Erklimmen der Karriereleiter erfordert nicht nur einen äußerst klaren Sinn für den rechten Zeitpunkt beim Verschieben eines Spielsteins, sondern auch eine Verweigerungshaltung gegenüber jeder Form von Wissen oder Einsicht, die nicht unmittelbar Gewinn abwirft.
Der Flug des postmodernen Schriftstellers oder Intellektuellen erhebt sich nicht über das abgesteckte Terrain hinaus: Vom Käfig seiner Wissenschaft oder Zunft aus fliegt er zum Frontispiz der Bank und kehrt hinter die Gitterstäbe zurück. Die äußere Welt mit ihren Dramen rührt oder beunruhigt ihn nicht. Wichtig ist allein, in den Käfig zurückzukehren, zu achten, was als achtenswert ausgegeben wird, und alle Risiken und möglichen Anfeindungen zu fliehen, die eine gelebte Freiheit mit sich bringt.
„Was man nicht sagen kann, soll man auch nicht sagen“, schrieb der Romantiker Larra. Die postmodernen Schriftsteller und Intellektuellen haben diese Maxime verinnerlicht und suchen sich sorgsam ihre Schulmeister und Schutzherrn. Eine engagierte, kritische Durchleuchtung der spanischen Vergangenheit etwa, zumal von jemandem, der nicht zum Sprengel gehört, wird, wie fundiert die Analyse auch sein mag, systematisch übergangen; dafür wird jeder „minderbegabte Aasfresser“ (Dámaso Alonso) oder vielseitige Salonliterat in den Rang eines Meisters erhoben. Sage mir, wen du zitierst, und ich sage dir, wer du bist. Wobei die Zitierten immer zu diesem wolkigen nationalen Vermächtnis gehören, aus dem sich in Jahrhunderten der Manipulation und Verschleierung unsere vorgeblich reine Wesenheit herausgebildet hat.
Ist jeder kritische und reflexive Geist – nicht dieses zänkische Gelärme, das losbricht, kaum daß ein Kollege des anderen Karriere oder dessen zielstrebig eroberten Medienplatz bedroht – erst ausgeblendet, weicht das einsame und asketische Geschäft des Schriftstellers dem geradezu obsessiven Drang, das eigene, entsprechend aufgeputzte und gelegentlich auch mit einem Kater oder Schoßhündchen garnierte Image zu verkaufen und seine Bücher zu bewerben – als sei Quantität gleichbedeutend mit Qualität. Das Verlangen, ständig die Bildfläche zu okkupieren, die Sucht, seine vielgeteilte Meinung kundzutun, und der feste Vorsatz, sich an die Spitze der Verkaufs-Champions zu schreiben, sind im Grunde rührende Beweise einer minderen Eitelkeit und Selbstliebe, schließlich begnügt man sich mit zweifelhaften Ehren und ferngesteuerten, wenn nicht gar virtuellen Claqueuren.
Die dressierten Tauben leben ausschließlich in der Gegenwart, den neuesten Moden und Tendenzen nachjagend, ihren Regeln und Normen unterworfen, abhängig von jeder Schwankung und Aktualität. Der Baum der Literatur, dem sie selbst angehören und mit dem sie im Geiste kommunizieren sollten, ist ihnen unbekannt. Statt sich mit den Toten zu messen und im Ringen mit diesen Format zu gewinnen, streiten sie gegen die Lebenden oder verbünden sich in Verlagscliquen oder Machtzirkeln. Das Schachspiel, nicht die Literatur, ist ihre eigentliche Kunst. Zwar ist das Joch des Totalitarismus abgeschüttelt – Repression, Angst und Zensur –, doch aus freien Stücken schnüren sie sich ein in das Korsett ihrer lukrativen Dressur.
Und so, abgetrennt von der historischen Realität ihrer Kultur und einer erdichteten anhängend, macht sich das abgerichtete Federvieh jene Vorstellungen und Werte zu eigen, die von Bonzen und Mandarinen vorgegeben sind. Die Bezugspunkte liegen in der Gegenwart, und wenn einer zum Beispiel Cervantes zitiert und auch noch ungeniert behauptet, der Quijote sei sein Lieblingsbuch, dann muß man wohl annehmen, daß er seinen Schatz in der Vitrine verehrt: Die fruchtbare cervantinische Kontamination ist jedenfalls in keinem seiner Romane zu spüren.
Was einzig der Gegenwart angehört, vergeht mit ihr
DIE naseweisen Kritiker, die Bachtin im Munde führen, ohne ihn gelesen zu haben, sollten ihm die Überlegungen des großen russischen Meisters nahebringen: „Ein Werk kann in den künftigen Jahrhunderten nicht fortleben, wenn es sich nicht aus den vergangenen Jahrhunderten speist. Wenn es allein aus der Gegenwart hervorgegangen wäre, wenn es nicht die Vergangenheit weitertrüge und sich auch nicht konsubstantiell mit ihr verbände, könnte es in der Zukunft keinen Bestand haben. Alles, was einzig der Gegenwart angehört, vergeht mit ihr.“ Die Chargen und Epigonen sind leicht auszumachen; sei es, daß sie einem Modell oder bestimmten Vorgaben folgen, sei es, daß sie sich nach Generationen und gemäß den Schablonen ihrer „normierenden“ Meister zusammentun. Nach und nach tilgen sie ihre ursprünglichen Züge und jeden Eigensinn, der für die Patenkaste schädlich sein könnte, plustern sich im Innern des Käfigs auf und modulieren Jahr um Jahr ihr Gurren und Ruckedigu. Sie wissen nicht, daß ihr Verzicht darauf, sich mit den – in der großen Bachtinschen „Zeitlichkeit“ sehr lebendigen – Toten zu messen, sie selbst zu einem vergänglichen Dasein und endgültigen Tod verurteilt (jede Zeit hat ihre Rafael Pérez y Pérez, Pombo Angulos, Gironellas und Vizcaino Casas).
Dabei fällt mir der sinnige Spruch José Bergamins ein: „Lieber einen Vogel im Fluge als hundert in der Hand.“ Und ich stelle mir Clarin, Valle Inclán und Cernuda vor – um nur ein paar Beispiele zu nennen –, wie sie amüsiert in Verzückung geraten angesichts der dressierten Tauben auf dem Djamaa el-Fna.
dt. Thomas Brovot
* Spanischer Schriftsteller, zuletzt erschien von ihm „El sitio de los sitios“, Madrid (Alfaguara) 1995 (erscheint erst im nächsten Jahr auf deutsch), „Paisajes de guerra con Chechenia al fondo“, Madrid (El Pais-Aguilar) Madrid 1996, dt. „Landschaften eines Krieges: Tschetschenien“, Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 1996, sowie „Die Marx-Saga“ (1996) und „Ein algerisches Tagebuch“, beide Frankfurt am Main (Suhrkamp). Vgl. auch Le Monde diplomatique, Juni 1997.