15.08.1997

Ein Ethnologe bei der Tour de France

zurück

Ein Ethnologe bei der Tour de France

FÜR den internationalen Radsport ist die Tour de France das Ereignis des Jahres. Für Frankreich ist sie die Sportveranstaltung mit der ehrwürdigsten Tradition. Für die Start- und Zielorte ihrer Einzeletappen ist sie ein Volksfest und ein regionaler Wirtschaftsfaktor. Man kann die Tour de France aber auch mit ethnologischen Augen betrachten: als Konstellation, bei der sich das moderne Frankreich in seinen eigenen Erinnerungen spiegelt.

Von unserem Korrespondenten MARC AUGÉ *

„Die Flüsse sind wandernde Wege“, hat Pascal geschrieben. In diesem Sinne könnte man sagen, daß die Tour de France ein Dorf auf Rädern ist, das sich täglich in Bewegung setzt und wieder zum Stehen kommt, mitsamt seiner Rennfahrer und Begleitteams, seiner Journalisten, Offiziellen, Autos, Motorräder und seiner Werbekarawane. Und es gehört offensichtlich zu den wesentlichen Schwierigkeiten der Tour-Verantwortlichen, diese Ankünfte bei jeder Etappe so perfekt zu organisieren, daß alle sich erholen und ihre Aufgabe bewältigen können.

Alle nomadischen Gesellschaften haben im übrigen die gleiche Schwierigkeit: Es ist weniger die Wegstrecke, die ihnen Probleme bereitet (man kennt sie, findet sich immer wieder zurecht), als vielmehr das Haltmachen, die geregelte Besetzung eines Territoriums, die Konsolidierung der sozialen Ordnung im räumlichen Verharren der Bewegung. Aber die Tour ist nomadischer als die Nomaden: Jedes Jahr ändert sich die Strecke, wechseln die Etappenorte, entwickelt man eine neue Streckenführung. Außerdem ist Frankreich nicht die Sahara oder die Wüste Kalahari und die Tour-Karawane nicht wirklich eine Gruppe von Hirten oder Jägern und Sammlern. Als Gesellschaft mit variabler Geometrie (erst während des Wettkampfs entfaltet sie sich in ihrer ganzen Komplexität) repräsentiert sie die Quintessenz des technologischen Fortschritts: Sie führt Verhandlungen mit Städten und Regionen, die alles tun, um auf sich aufmerksam zu machen, die Karawane zu verführen und so lange wie möglich bei sich zu behalten (für ein Zeitfahren oder einen Ruhetag), sie, die doch ihrer Bestimmung nach Bewegung ist, Passage, vorüberziehende Erscheinung.

Als ich am 3. Juli gegen Mittag in Rouen eintraf, hatte ich zunächst nur Augen für die Schönheit der Stadt, die charakteristisch zweigeteilte Anlage: auf dem rechten Seine-Ufer die wunderbare Gotik, die mittelalterlichen Gassen, der Quai Corneille, die Avenue Jeanne d'Arc und die Place du Vieux Marché; auf dem linken Ufer der Verwaltungssitz des Departements Seine-Maritime, Architektur der fünfziger Jahre, der Quai Jean Moulin und der Quai Jacques Anquetil (seit dem Vorabend meiner Ankunft, vormals Quai d'Elbeuf).

Die Tourleitung hatte ihr Hauptquartier im Gebäude der Departementverwaltung aufgeschlagen. Hier wurden die Mannschaften empfangen, die Zimmerverteilung an alle offiziellen Tourteilnehmer abgewickelt, das Ärztezentrum eingerichtet, hier fanden die Pressekonferenzen sowie die Besprechungen der sportlichen Leiter und andere feierliche Präliminarien statt. Alle, die etwas mit der Tour zu tun hatten, mußten dort vorstellig werden und sich gebührend ausweisen: Neuankömmlinge wie ich, die einen Sinn für die mittelalterlichen Schönheiten und architektonischen Sehenswürdigkeiten der rechten Uferseite besaßen oder in einem der dortigen Hotels logierten, hatten zwangsläufig mehrere Male die Seine über eine der weitgespannten Brücken zu überqueren, von wo sich ihnen der kontrastvolle Anblick der doppelten Stadtsilhouette bot. Ich sah auch junge Leute, die vom rechten aufs linke Ufer wechselten und sich in der Hoffnung auf ein Autogramm, ein Lächeln oder Kopfnicken vor dem Hauptquartier der Tour versammelten, so als bräuchte man nur eine Brücke zu überqueren, um mit jener ganz anderen Geschichte Kontakt aufzunehmen, die es am Abend in den Fernsehnachrichten zu sehen geben würde.

Meine erste Tour-Erfahrung bestand in einer gewissen „Raumerkundung“ – eine Erfahrung, die ich mit vielen teilte. Dabei deutete außer den von Amts wegen angebrachten Hinweisschildern und den Fähnchengirlanden an den Schaufenstern („Willkommen zum Start der Tour“) wenig auf das bevorstehende große Ereignis hin. Doch überall in den Bistros wie an den Kiosken war der Streckenverlauf des Prologs durch die Stadt Thema, und sei es auch nur, weil man sich über die zu erwartenden Verkehrsbehinderungen erregte. Denn der Kurs führte über die Hauptverkehrsadern und machte dann eine sieben Kilometer lange Schleife, welche die Stadtteile auf beiden Flußseiten verband und einer kleinen historischen „Stadt- Tour“ gleichkam, deren markante Stationen ein Kommentator zwei Tage später in gebotener Kürze so wiedergeben wird: Pont Corneille, Rue de la République, Boulevard de Verdun, Boulevard de l'Europe ...

Vielleicht ist der mehr oder weniger bewußte Wunsch, mittels Bewegung eine Einheit herzustellen und voranzukommen, auch ein wesentliches Moment des Politischen, und vielleicht ist die Schleife hohe Politik. Dieser Ansicht jedenfalls war Katharina von Medici, die den jungen Karl IX. zu einer „Tour de France“ veranlaßte, um sich der Grenzen des Reiches zu vergewissern. Dasselbe hatten vielleicht auch die Erfinder der heutigen Tour de France im Sinn, ganz gewiß aber die Verantwortlichen in der Regionalregierung Seine-Maritime, die dem Departement das Symbol der Schleife verpaßten: vorweg die Prolog-Schleife in Rouen, anschließend die Fast-Schleife der ersten Etappe von Rouen nach Forges-les-Eaux, die den Osten des Departements zur Hälfte umkreiste, und dann noch die angedeuteten Schleifen, jene halboffenen Schleifchen der zweiten Etappe, die sich anscheinend endlos durch das Caux schlängelten und so das Enfernen in Richtung Vire und westlicher Normandie genüßlich hinauszögerten. Drei Starts und zwei Etappenziele: Die Departementverwaltung konnte stolz sein, die Tour de France so lange bei sich gehalten zu haben.

Das eben ist die Tour: die zuweilen antagonistische Verbindung von Bodenständigkeit und Wanderschaft, von Stabilität und Bewegung. Das Fernsehen hat dies sehr klar erfaßt und bot abwechselnd Aufnahmen aus dem Hubschrauber, in denen uns die Region in fast unbeweglichen, emblematischen Landschaftsbildern präsentiert wurde, neben Aufnahmen aus der Motorradperspektive, bei denen die Kamera sich über Straßen und Berge schlängelt und in einer einzigen Bewegung die vorbeifliegenden Bäume und Häuser, die sich drehenden Räder und den Fahrer erfaßt, der unter den glücklichen und dann gleich wieder verloren wirkenden Zuschauerblicken vorüberzieht.

Bereits am Vortag des Prologs mischten sich auf den Brücken und in den Straßen die Einheimischen mit dem „fahrenden Volk“, das man an den Tour-Ausweisen wie an den grellbunten Jacken mit den jeweiligen Team-Logos erkannte. Einige schüchterne Touristen litten offenbar unter ihrer ungewissen Identität, weil sie sich weder den Einheimischen noch der Tour- Karawane zurechnen konnten. Das fahrende Volk wiederum war in kleinen Gruppen unterwegs, man begrüßte sich herzlich, wenn man sich in die Arme lief, und tauschte in den verschiedensten Sprachen die letzten Neuigkeiten aus.

Dabeisein, ohne am Ort zu sein

DIE Journalisten, Betreuer und Techniker waren durchweg alte Hasen, die zuvor die Tour de Suisse und den Giro d'Italia verfolgt und auch schon mehr als eine Tour de France auf dem Buckel hatten. Sie gehörten zu dem ganzen Spektakel dazu, wie auch einige Offizielle, etwa Bernard Hinault oder die anderen Radlegenden, die bei den Startzeremonien präsidieren sollten. Einige Jugendliche in den bunten Teamtrikots ihrer Idole (von Festina, Once, Banesto etc.) standen schüchtern in den Pedalen ihrer Mountainbikes oder Rennräder und umkreisten die Leute, die offenbar auf die eine oder andere Weise zu der ersehnten anderen Welt gehörten.

Am linken Seine-Ufer standen sich beide Welten gegenüber: die für Normalsterbliche unerreichbare „Tour-Gemeinde“ und die „Volks-Gemeinde“, auch „breite Öffentlichkeit“ genannt. Dazwischen die „VIP-Gemeinde“, fast genauso abgeschirmt wie die erste, wo aber die örtlichen Größen mit denen der „Tour-Gemeinde“ zusammentreffen konnten. Auf seiten der „Volks-Gemeinde“, die wegen des ungemütlichen Wetters wenig Zulauf hatte, versuchten das französisische Heer, das Planungsministerium, die Organisatoren der Billard-Weltmeisterschaft, die katholische Kirche und die Aktion Act Up, inmitten der Stände mit Erzeugnissen aus der Region Reklame zu machen und die nationale Dimension dieses Dorffestes zu unterstreichen.

Um die beiden Welten zusammenzubringen, hatten die Organisatoren auf die Nostalgie-Karte gesetzt und sich eine Art Ahnenkult ausgedacht: Jacques Anquetil, der berühmte Sohn der Stadt, hatte 1957 seine erste Tour gewonnen; 1987 war er gestorben. Darrigade, der König der Sprinter, erinnerte in der Presse wehmütig an die „belle époque“ der „belle équipe“ – jener französischen Mannschaft von 1957, die mit den anderen Nationalmannschaften und den Teams der französischen Regionen um den Toursieg gekämpft hatte. An eine Epoche, in der selbst die Zusammensetzung des Feldes die nationale Geschlossenheit wie die regionalen Verschiedenheiten, also die Solidarität wie Konkurrenz zwischen den Regionen bezeugt hatte. National sind heute allenfalls die Firmen (falls man ihre Kapitalzusammensetzung nicht allzu genau unter die Lupe nimmt), die von ihnen gesponserten Mannschaften aber sind international. Von einigen Fahrern aus den USA und aus Kolumbien abgesehen, waren auf dieser Frankreich-Tour die europäischen Wirtschaftsmächte unterwegs.

Darrigade, Mahé, Stablinski, Walkowiak, Bouvet: Die Vertrautheit mit diesen Namen stieß mich unweigerlich auf mein Älterwerden. Aber obwohl mich die einschlägigen Zahlen und Daten eigentlich nicht mehr überraschen durften, widerfuhr mir ein Schock, als ich in einem Restaurant auf ein paar meiner einstigen Helden traf, von denen heute kaum jemand mehr ein Autogramm haben wollte. Was mich frappierte, war die Tatsache, daß sie ungefähr mein Alter hatten, während sie für mich in meiner – also ihrer – Jugend gefeierte Männer gewesen waren, das heißt ausgewachsene Helden. Wem käme der Gedanke, daß Hektor und Achilles sechzig Jahre alt gewesen sein könnten? Ihre weißen Haare zeugten mir von ihrem fortgeschrittenen Alter; um so mehr stach mir am folgenden Tag die demonstrative und agile Jugend der berühmten Fahrer ins Auge, die da in Rouen durch die Straßen rasten.

Bei allen Feierlichkeiten waren die Mitglieder des Teams von 1957 und die Familie von Anquetil anwesend. Schließlich war 1997 gleich doppelt „zwanzig Jahre danach“, und der große „Ahne“ hatte Rouen alles geboten: Hier war er aufgewachsen, hier hatte er seinen sozialen Aufstieg geschafft und sogar die Etappe gewonnen! Also wurde zum runden Jahrestag die Umbenennung in Quai d'Anquetil begangen, und man besuchte seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof Quincampoix. Zwar wurde darüber in Presse und Fernsehen berichtet; aber die Bevölkerung war bei beiden Anlässen nicht gerade enthusiastisch dabei, und die jüngeren Leute, denen schon ein Hinault wie der Held einer längst vergangenen Zeit vorkam, ließ der Ahnenkult ziemlich kalt. „Der Dachs!“ rief ein Radsportexperte, als er Hinault hinter der Absperrung der Departementverwaltung entdeckte, als wollte er den Jüngeren seiner Umgebung irgendeine alte Vertrautheit beweisen. Das Wichtigste war offenbar das Wiedererkennen – und das einzige, womit das gemeine Volk an dem Ereignis partizipieren konnte.

Was trotz aller Pannen und Verzögerungen der Organisation immer deutlicher ins Zentrum rückte, war die pure Zeit, die Erwartung, das Warten auf den großen Start. Die Errichtung des Podiums auf dem Pont Corneille – gestiftet von Germaine, Star des Teigwarenherstellers Lustucru und Symbol der französischen Provinz –, dann das Dröhnen einer vorbeipreschenden Motorradkamera: alles Wiedererkennungszeichen und Ankündigung zugleich – so, wie die Ozeanriesen aus fernen Ländern auf dem Fluß die Nähe des offenen Meeres ahnen lassen.

Dann tat sich der Himmel auf, ein sonniger Samstagmorgen, Bewegung und Warten in einem. Jeder hatte seinen Platz gefunden; Tausende Männer und Frauen, Kinder und Halbwüchsige, die seit dem Morgengrauen zusammengeströmt waren, säumten einigermaßen diszipliniert den heiligen Korridor. In der Innenstadt hatte man jeglichen Autoverkehr unterbunden, nur einige Radler aller Altersklassen waren unterwegs, produzierten sich protzig, als wollten sie etwas vom Glanz der erwarteten Profis abbekommen. Alle an die Rennstrecke grenzenden Straßen waren „vergattert“ – wie es in der neueren Tour-Sprache heißt.

Ein Restaurant offerierte drei Menüs – eins für Sprinter, eins für Bergspezialisten, eins für das gelbe Trikot, letzteres mit Käse plus Dessert (einen Moment fragte ich mich, warum sich das gelbe Trikot überfressen sollte). Ein dröhnender Lautsprecher animierte uns, das „offizielle“ Tour-T-Shirt zu kaufen.

Zehn Uhr dreißig: Wir konnten die Erkundung der Strecke miterleben (was nur bei ganz wenigen Etappen möglich ist). Auf einmal Stille, dann brausender Beifall: Auf die Minute pünktlich rauscht ein Schwarm junger, fröhlich plaudernder Fahrer (gehörten die zu Mapei oder zu Telekom?) in Richtung Rathaus und Boulevard de l'Yser, gefolgt von weiteren bunten Grüppchen. Zwei Stunden lang sahen wir zu, wie die jungen Cracks in den Farben ihrer Mannschaften die Strecke hin- und herfuhren. Die Experten bemühten sich, die modernen Ritter der Landstraße unter der kriegerischen Rüstung ihrer Helme und Sonnenbrillen zu identifizieren und beim Vornamen zu rufen: „Komm schon, Bjarne! Na los, Tony!“, ohne erkennbaren nationalen Dünkel, wenn auch Richard Virenque am meisten angefeuert wurde.

„Wo sind die Franzosen?“ wollte anachronistischerweise ein kleiner Junge von seinem Vater wissen. „Na, überall!“ lautete die Antwort, unerklärlich gereizt. Man wollte nicht nur am Ort, nein, man wollte dabeisein. Die Vornamen der Fahrer aussprechen, die Namen der Mannschaften (Marken- und Firmennamen, von denen ich wetten würde, daß die Mehrheit der Zuschauer so wenig weiß wie ich, was sie bedeuten), jemanden wiedererkennen, ihm zurufen – all das drückt den Wunsch aus, mitzuspielen, Einsamkeit und Anonymität abzustreifen, die Sehnsucht, Teil einer Bewegung zu sein, ohne sich vom Fleck zu rühren.

Allein das Fernsehen bietet eine scheinbare Befriedigung dieser unmöglichen Sehnsucht, die durch den doppelt epischen Charakter der Tour angestachelt wird. Kaum gestartet, präsentiert sich die Tour als Retour, als Rückkehr nach Paris: eine Reise als Heimreise, eine Odyssee. Aber auch eine Ilias: der tägliche Kampf, bei dem die Helden am Fuße der (alpinen) Festungswälle gegeneinander antreten. Um dabei zu sein, ohne am Ort zu sein, gibt es kein probateres Mittel als das Fernsehen, das die Bewegung auf den Bildschirm bannt. Ich kehrte zu meinem Wagen auf einem Parkplatz vor der Stadt zurück. Ich mußte unbedingt vor dem Ende des Prologs wieder in Paris sein und den Fernseher einschalten, wenn ich die Ilias erleben wollte, ohne die Odyssee zu verpassen.

dt. Christian Hansen

* Forschungsdirektor an der Ecole des hautes études en sciences sociales. Auf deutsch sind von ihm lieferbar „Der Geist des Heidentums“, dt. von Michael Killisch-Horn, München (Klaus Boer) 1995, und „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“, dt. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1994. In Le Monde diplomatique erschienen von Marc Augé zuletzt „Ein Ethnologe am Strand“ (August 1995) und „Ein Ethnologe in Center Parcs“ (August 1996).

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von MARC AUGÉ