15.08.1997

Der Sozialismus geht, die Gesetzlosigkeit bleibt und die Mafia kommt

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Der Sozialismus geht, die Gesetzlosigkeit bleibt und die Mafia kommt

DAS Rußland Boris Jelzins hat bekanntlich etliche Merkmale der ehemaligen Sowjetunion beibehalten. Paradoxerweise sind auch die sozialen Trennungslinien der liberalen Gesellschaft mit denen der kommunistischen Ära identisch. Die neue politische und Wirtschaftselite besteht größtenteils aus jener „Jeunesse dorée“ (solotyje detki), die erstmals in den siebziger Jahren in Erscheinung trat und Privilegien genoß, welche den „grauen Mäusen“ (seryje krysy) verschlossen waren. Wie überall auf der Welt nutzt die Mafia beide Gruppen aus, um ihre Macht weiter auszubauen.

Von K. S. KAROL *

Der neueste Witz, den man sich in Moskau erzählt, geht so: Premierminister Wiktor Tschernomyrdin glaubt, endlich Licht am Ende des russischen Tunnels zu sehen. Nur daß es das Licht eines anderen Zuges ist, der auf den seinen zurast. Experten der Weltbank schätzen, daß Rußland bei einem jährlichen Wachstum von 7 Prozent zwanzig Jahre brauchen würde, um das Wirtschaftspotential wiederzuerlangen, das es unter der Regierung Jelzin eingebüßt hat. Allerdings rechnet der Kreml in diesem Jahr mit einem Wachstum von lediglich 1,5 Prozent. Man kann sich ausrechnen, wie lange der russische Zug brauchen wird, um aus dem Tunnel herauszukommen ...

Es gibt keine Worte, um das Desaster zu beschreiben. Doch man ist der immergleichen Geschichten über das russische Chaos überdrüssig. Werfen wir also einen Blick auf das, was allenthalben – auch im Kreml – als „russischer mafioser Kapitalismus“ bezeichnet wird.

1984 war erstmals die Rede davon, daß die jungen Sowjetmenschen sich in zwei Kategorien aufteilten, die solotyje detki (Jeunesse dorée) und die seryje krysy (grauen Mäuse). Woher stammten diese Begriffe?

Während der Chruschtschow-Ära (1954-1964) hatte sich die soziale Mobilität in der UdSSR abgeschwächt: Mit dem Ende der blinden stalinistischen Repressionen konnten die Führungskader ihre Positionen festigen; damit bildete sich eine „Machtelite“ heraus, die in mancher Hinsicht mit der vergleichbar war, die Charles Wright Mills für die Vereinigten Staaten beschrieben hat. In den Augen dieses wichtigen amerikanischen Soziologen bestand die US-amerikanische Elite nicht nur aus den Mächtigen in Politik und Wirtschaft, sondern auch aus anderen „Reichen und Berühmten“, die – von Hollywood bis zu den wichtigen Printmedien der Ostküste – den großartigen american way of life zelebrierten.

Die „Reichen“ der UdSSR waren die Menschen, die in den Genuß von Privilegien kamen. Ihr Reichtum war zwar nicht umwerfend, aber im Vergleich mit dem Rest der Bevölkerung lebten sie auf großem Fuße. Sie bildeten einen gar nicht so kleinen Teil der sowjetischen „Machtelite“, die nicht mehr an die offiziellen Werte ihrer Gesellschaft glaubte und insgeheim nach den echten Reichen in Amerika schielten.

Mit dem Abkommen zwischen Nixon und Breschnew von 1971 bekam der Eiserne Vorhang erste Risse; die russischen Eliten – aber nur sie – reisten in den Westen; vermutlich das höchste aller Privilegien. Man konnte die große, weite Welt kennenlernen und sich außerdem mit Waren versorgen, die in der Sowjetunion nicht zu haben waren. Nach und nach begann Moskau, das eine oder andere zu importieren. Doch nie genug für alle, es reichte stets nur für die Elite und deren Kinder. Es entstand das Phänomen der solotyje detki. Diese Leute waren westlich gekleidet, hatten ihre eigenen Diskotheken, ihre Infrastruktur, kurz, ihre eigene kleine Welt, zu der die anderen Jugendlichen, die seryje krysy, keinen Zutritt hatten.

Doch auch die „grauen Mäuse“ wollten diese Fetische des besseren Lebens besitzen, weshalb sie sich an Westbesucher heranmachten, um ihnen Kleider und sonstigen Tinnef abzukaufen. Hier und da kam es zu Skandalen, wie in Rostow am Don, wo Studentinnen erwischt wurden, die für ein Paar Jeans mit Ausländern schliefen. Das ging der Komsomolskaja Prawda zu weit, die eine donnernde Strafpredigt brachte, welche – was zuvor undenkbar gewesen wäre – eine Flut von Leserbriefen auslöste mit dem Tenor: „Produziert lieber so gute Jeans wie die Amerikaner, statt uns mit Moralpredigten zu kommen.“

1984 brachten die Theater etliche Stücke heraus, in denen der Egoismus der „Jeunesse dorée“ und ihr „asoziales“ Verhalten angeprangert wurde. Als Ankläger traten die „grauen Mäuse“ auf, die ausführlich ihre Diskriminierung darstellen konnten. Während der Vorstellungen lachte das Publikum lauthals über jene Protagonisten, die der Jugend Strafpredigten hielten. Sobald auf der Bühne die kleinste Zeile aus Prawda oder Iswestija zitiert wurde, setzte im Saal schallendes Gelächter ein. In der Folgezeit entstanden mehrere Filme, in denen die Korruption von Funktionären thematisiert und jungen Frauen gezeigt wurde, die um ihrer Karriere willen dieselben Mittel einsetzten wie die Studentinnen in Rostow, die eine echte Jeans hatten ergattern wollen.

Ein Jahr später kam Michail Gorbatschow an die Macht. Eine seiner ersten Parolen lautete „glasnost“ (Transparenz); er forderte die Gesellschaft auf, laut zu sagen, was sie dachte. Von dieser mutigen Öffnung profitierten als erste die „Reichen und Berühmten“ der Intelligenzija, insbesondere im Bereich der Medien – und die mittlerweile erwachsen gewordenen solotyje detki. Sie hatten ohnehin die besten Voraussetzungen und Chancen, sich zu artikulieren, und das, was sie verlangten, war eine „normale, auf dem Privateigentum basierende“ Gesellschaft. Da Gorbatschow auf einer – wenngleich unzureichend definierten – „sozialistischen Option“ beharrte, gingen sie mit fliegenden Fahnen ins Lager von Boris Jelzin über, der einzig und allein die Macht wollte – auch wenn er dafür die UdSSR zerschlagen mußte.

Mit den ersten Schritten in Richtung Marktwirtschaft warf sich eine beträchtliche Anzahl von solotyje detki auf ein „Business“. Die jungen Wölfe waren damit den grauen Mäusen um zwei Längen voraus. Sie hatten fast alle einen Studienabschluß und konnten ein wenig Englisch radebrechen, das sie bei ihren Auslandsreisen aufgeschnappt hatten, vor allem aber profitierten sie von den Beziehungen ihrer Eltern. Das reichte, um sich einen Job als Broker an der Börse zu verschaffen, die ersten Millionen zu ergattern, eine Bank oder ein Import-Export-Unternehmen zu gründen und märchenhaft reich zu werden.

Sie nannten sich Manhattan boys, weil ihr Ziel darin bestand, einem alten sowjetischen Slogan entsprechend die reichen Amerikaner „zu überholen, ohne sie einzuholen“. Etlichen von ihnen soll das inzwischen gelungen sein, doch das „läßt sich nicht durch eine unabhängige Quelle verifizieren“ (wie es die BBC formulieren würde). Sie denken nicht daran, ihre Gewinne in Rußland zu versteuern, und pflegen ihr Kapital ins Ausland zu transferieren.

In Moskau sieht man sie, kaum ist man angekommen, in Begleitung hübscher Mädchen und beschützt von einer Kohorte Gorillas, mit ihren Luxuskarossen paradieren (auf die freilich die Straßen der Hauptstadt noch kaum eingestellt sind). Der Dollarrausch hat sie in Roboter verwandelt, die nur noch an ihre Spekulationsgeschäfte denken. In Moskau zirkuliert der Witz von einem Manhattan boy, der, nachdem er gerade ein Attentat wie durch ein Wunder lebend überstanden hat, den phantastischen Verträgen hinterherjammert, die in seinem Auto verbrannt sind, als ihn jemand darauf hinweist, daß sein linker Arm ab ist: „Verdammt“, ruft er aus, „da war eine goldene Rolex dran!“

Sind diese Leute mit der Mafia verquickt? Jeder zu schnell erworbene Reichtum ist gefährdet, wenn man ihn nicht durch Geldwäsche „legalisiert“. Genau dies erledigt die Mafia; in dieser Hinsicht kommen die Manhattan boys nicht an ihr vorbei. Warum sollten sie Skrupel haben? Von Kindesbeinen an haben sie gelernt, daß eine Gesetzesübertretung nichts Schlimmes ist, solange man keine strafrechtliche Verfolgung riskiert. Und dieses Risiko ist heute gleich null. Der Kreml tut alles, um die Reichen zu schützen; die Gesetze sind dazu da, diese Schicht zu begünstigen. Seit Jelzin am Ruder ist, wurde kein Prozeß mehr wegen Veruntreuung geführt, der Begriff ist sogar aus dem Strafgesetzbuch verschwunden.

Als Boris Jelzin Ende 1991 seine neue Regierung bildete, jubelte der Westen. Eine Riege junger Politiker – Jegor Gajdar, Andrej Kosyrew, Grigori Tschubais, Boris Fjodorow, Pjotr Awen und Gennadi Burbulis – zog in den Kreml ein; keiner von ihnen war älter als 40, und keiner hatte zu Sowjetzeiten eine hohe Parteifunktion bekleidet. Rußland war sozusagen von seinen „Apparatschiks“ befreit – abgesehen natürlich von Boris Jelzin, doch der hatte ja durch die Aufnahme dieser jungen liberalen Thatcheristen in die Regierung unter Beweis gestellt, daß es ihm ernst war mit der Demokratie.

Nur daß es sich halt bei diesen jungen Männern um solotyje detki handelte, um Kinder aus den höchsten Kreisen der alten Nomenklatura, denen man lange vorgehalten hatte, sie seien „skrupellos und vom amerikanischen Lebensstil fasziniert“. Da sie immer in ihrer kleinen eigenen Welt gelebt haben, wissen sie so gut wie nichts von der Vielfalt und Widersprüchlichkeit des Landes. Es geht ihnen jenes Minimum an Spürsinn für gesellschaftliche Zusammenhänge ab, das im Westen zuweilen den Eifer der Rechten bremst. Kein Wunder also, daß sich die solotyje detki, einmal an der Macht, dem Internationalen Währungsfonds in die Arme warfen und der sozialen Kluft in der russischen Gesellschaft noch gleichgültiger gegenüberstanden als die internationalen Funktionäre.

Zwischen den 10 Prozent der russischen Bevölkerung, die am reichsten sind, und den 10 Prozent der Ärmsten besteht eine Einkommensdifferenz im Verhältnis 20:1, im Westen dagegen lautet dieses Verhältnis 10:1, in den skandinavischen Ländern sogar 6:1. Diese Rekordmarke sozialer Ungleichheit bedeutet für die russische Führung die ständige Gefahr einer sozialen Explosion. Deshalb ist sie gezwungen, alles zu dulden, was diese Gefahr abwenden könnte – einschließlich höchst suspekter Methoden, die nach Mafia riechen.

Die Russen sind viel unterwegs, aber selten zum Vergnügen. Sie fahren in die Türkei, nach Zypern, Italien, Griechenland, China und wer weiß wohin, um Konsumgüter zu kaufen, die sie auch zu Hause – und im Überfluß – finden können. Welcher Gewinn mag wohl aus diesen teuren Reisen herausspringen, daß sich so viele Menschen den ermüdenden Prozeduren unterwerfen, um ein Visum oder ein Ticket zu ergattern? Doch dieser Kleinhandelstourismus gibt noch weitere Rätsel auf. Die ihn betreiben, zählen keinesfalls zu den Reichen. Es sind die „grauen Mäuse“, die, obzwar älter geworden, auf der sozialen Leiter kaum höher geklettert sind. Man erkennt sie an ihrem Aussehen, das sie aus der Sowjetära mitbringen, an ihren bescheidenen Ansprüchen, den mangelhaften Fremdsprachenkenntnissen. In Rußland nennt man sie tschelnoki: Schiffchen (im Sinne von Pendler, d. Ü.). Ihre Zahl wird auf 30 Millionen geschätzt; einschließlich derer, die innerhalb des Landes pendeln, was bei weitem die meisten sind.

Das Phänomen wird um so komplizierter und geheimnisvoller, je eingehender man sich mit ihm befaßt. Rimini etwa hat keine Flugverbindung nach Rom, doch hier landen vier- bis fünfmal in der Woche aus Moskau oder St. Petersburg kommende Maschinen voller tschelnoki. Ohne einen Blick aufs Meer zu werfen, strömen sie ins Einkaufsviertel, wo Berge von Schuhen made in Italy – die in Albanien hergestellt werden – und andere Bekleidungsartikel auf sie warten. In Istanbul dagegen kauft man eher Fernseh- und Haushaltsgeräte. Die tschelnoki zahlen bar – in Dollars. Sie wissen nichts von Kreditkarten, sie handeln nicht, wollen keine Garantiescheine oder Quittungen. Die umgesetzten Dollarbeträge gehen häufig in die Hunderttausende – Summen, die man für gewöhnlich nicht ohne Sicherheiten oder Belege ausgibt. Es liegt auf der Hand, daß dem tschelnok dieses Geld nicht gehört. Wenn es seines wäre, hätte er sich in Moskau oder anderswo in Rußland längst selbständig gemacht. Und angesichts der Menge der von ihm importierten Waren wird klar, daß er sie auch nicht alleine absetzen kann – das wäre nämlich eine Vollzeitbeschäftigung.

In den Iswestija vom 7. März 1997 schätzt Igor Ilingin, Sprecher des Außenhandelsministeriums, die Gesamtsumme der von den tschelnoki abgewickelten Importe auf 15,4 Milliarden Dollar für 1995 und 15,6 Milliarden Dollar für 1996. Für das innerrussische „Tschelnokenwesen“ gibt es keine Zahlen, doch sein Umsatzvolumen ist sicher noch um ein Vielfaches größer.

Auf dem russischen Markt haben die ausländischen Waren das absolute Monopol: Die einheimischen Konsumgüter sind unmöglich abzusetzen. Der Import aber ist inzwischen der Kontrolle entglitten, da er in den Händen der tschelnoki liegt. Der Staat kassiert nur einen kleinen Teil der fälligen Zollgebühren; zwei Drittel der Waren passieren die Grenze nach dem Motto: „Nichts gesehen, nichts geschehen.“

Da nun die Unternehmenssteuer in Rußland nicht nach dem Gewinn, sondern nach dem Umsatz berechnet wird, kann man sich leicht vorstellen, wie hoch der Einnahmeverlust des russischen Fiskus ist. Um ihn ein wenig zu kompensieren, versuchte der Kreml 1996 solche Reisenden zu besteuern, die mit mehr als 50 Kilogramm Gepäck aus dem Ausland zurückkehrten. Und 1997 wurde ein Dekret erlassen, wonach jeder Russe, der ins Ausland reist, bei Aus- wie Einreise elf Dollar zu entrichten habe. In der Presse schlug die Empörung so hohe Wellen, daß weder die Verordnung von 1996 noch die von 1997 in Kraft treten konnten. Die tschelnoki bleiben weiter unbehelligt.

Geld, so sauber wie Schnee

DAS Tschelnokenwesen ist nichts als ein Sicherheitsventil“, meint ein kluger Moskauer, „damit der ärgste Druck, der sich an der Basis staut, entweichen kann. Ohne sie – und ohne den allgegenwärtigen Straßenhandel – wäre der Druckkessel längst explodiert.“ Das heißt nicht, daß die Regierung selbst diese riesige Kommerzmaschinerie betreiben würde. Die Fäden zieht vielmehr die Mafia.

Warum bedarf es eines so komplizierten Handels, wo man doch in Moskau oder Petersburg das Geld auf der Straße auflesen kann? Eben, um dieses Geld zu waschen. Ein tschelnok mit 50000 Dollar in der Tasche erregt weder in Istanbul noch in Rimini Verdacht. Auch nicht tausend tschelnoki, von denen jeder eine solche Summe bei sich hat. Auf diese Weise kann man Milliarden in den legalen Geldkreislauf einspeisen, die dann so sauber sind „wie der Schnee auf dem Kasbek-Gipfel“.

Wenn sich ein tschelnok zum ersten Mal mit einem Darlehen ins Ausland aufmacht, weiß er in der Regel nicht, daß er für die Mafia zu arbeiten beginnt. Jemand hat ihm diese wunderbare Möglichkeit angeboten, auf Empfehlung oder bei einem zufälligen Treffen. Von diesem Jemand wurde er allerdings gewarnt, daß man ihn wiederfinden und gnadenlos bestrafen werde, falls er zufällig mit diesen Dollars verschwinden sollte. Die wenigen, die versucht haben, sich mit dem Geld abzusetzen, sollen mit unsäglicher Grausamkeit ermordet worden sein. Die russische Mafia steht längst im Ruf, brutaler und unbarmherziger als die sizilianische oder amerikanische zu sein. Bekannt für diese Grausamkeit sind insbesondere die Drogen- und die Prostitutionsmafia, die schon die kleinste Ungehorsamkeit anscheinend mit dem Tode bestraft. Was das Tschelnokenwesen aber so bedeutsam macht, sind seine Auswirkungen auf die Gesellschaft, ihre Sitten und Umgangsformen.

Auch wenn ein tschelnok zunächst tatsächlich nicht weiß, wer die Fäden zieht, wird er es doch spätestens bei seiner Rückkehr merken: Der Großteil seiner Einnahmen wird ihm abgeknöpft, weil die Mafia nicht zuläßt, daß ein tschelnok Geld anhäuft; er könnte sonst auf die Idee kommen, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Das gilt auch für die Kioskbesitzer in allen Ecken des Landes, bei denen die importierte Ware landet. Ihnen allen, so heißt es, werden Schutzgelder abgepreßt – ganz unverhohlen und selbst zwei Schritt vom Kreml entfernt. Aber kann man von Erpressung reden, wenn es sich de facto um die einvernehmliche Abwicklung von Geschäften handelt, die ja tatsächlich allenthalben – auf höchster Ebene wie an der Basis – akzeptiert wird und im Grunde schon legalisiert ist?

Denn das System gründet auf dem freiwilligen heimlichen Einverständnis zwischen weiten Teilen der Bevölkerung und einer unsichtbaren Organisation, die von ihnen als „wohltätig“ wahrgenommen wird. Nie hat sich ein tschelnok beklagt, er sei nach einer Auslandsvisite übervorteilt worden; nie spricht ein Kioskbesitzer von Schutzgelderpressung. Die Mafia ist ihre „Gewerkschaft“, schützt sie vor Armut, ermöglicht bisweilen solide Gewinne. In Sizilien heißt dergleichen omertà, jenes Gesetz des Schweigens, das die Stärke dieser kriminellen Organisation ausmacht. Allzu viele Menschen glaubten – und glauben noch immer –, die Mafia beschütze sie besser als der Staat und seine Gesetze. Aber in Sizilien dauerte es über ein Jahrhundert, bis sich die „ehrenwerte Gesellschaft“ fest verankert hatte; in Rußland dagegen genügten fünf Jahre, um Hunderttausende Menschen zu rekrutieren. Wie lange wird es brauchen, um eine derartige Organisation wieder zu zerschlagen?

In seiner Ansprache an das Parlament sagte Boris Jelzin in diesem Jahr, „die Freiheit, zu kaufen und zu verkaufen“, dürfe nicht länger die Freiheit bedeuten, „Gesetze, Gerichte und Beamte zu kaufen“. Dies sei „unmoralisch und gefährlich für die Gesellschaft“. Der Moralismus des Präsidenten ist von entwaffnender Naivität – ist es doch seine eigene Entourage, die die Gesetze verkauft. Doch von diesen Mitarbeitern will der Präsident sich nicht trennen. Er hält an seinen solotyje detki aus früheren Zeiten fest, deren Mentalität sich kaum gewandelt hat. Gennadi Burbulis (vormals rechte Hand des Präsidenten) hat mit einem Bonmot diese Mentalität wunderbar anschaulich gemacht. Auf die Frage nach seiner Vorliebe für Luxusautos gab er die Antwort: „Ich fahre nicht gern Straßenbahn.“

Diese Antwort war schon 1984 in einem Theaterstück zu hören. Damit sollten die jungen „Asozialen“ angeprangert werden, die der Überzeugung waren, daß die Autos für sie, die öffentlichen Transportmittel dagegen für die „grauen Mäuse“ da seien. Damals lachte das Publikum. Heute, da 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, sind diese Gepflogenheiten der Elite eher zum Heulen.

dt. Eveline Passet

* Essayist und Journalist, Autor unter anderem von „Les Guérilleros au pouvoir“, Paris (Laffont) 1970, und von „Solik. Les Tribulations d‘un jeune Polonais dans la Russie en guerre, Paris (Fayard) 1983.

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von K. S. KAROL