Eine überbelichtete Welt
TOTALITÄT oder Globalität? Heute stellt sich zwangsläufig die Frage, was der von aller Welt im Munde geführte Begriff der „Globalisierung“ eigentlich bedeutet. Dient das Wort dazu, den allzu sehr durch den Kommunismus abgenutzten Begriff des „Internationalismus“ wiederzubeleben, oder steht er, wie viele behaupten, für den Kapitalismus des einheitlichen Marktes? Beides ist völlig unzutreffend. Nach dem von Fukuyama vor einigen Jahren voreilig angekündigten „Ende der Geschichte“ verweist dieser Begriff in Wahrheit auf das Ende der Geographie, das Ende des Raums unseres kleinen Planeten, der sich im elektronischen Äther der modernen Telekommunikationsmittel und im Cyberspace des Internet wiegt.
Von PAUL VIRILIO *
Vergessen wir es nicht: Die Vollendung ist eine Grenze (Aristoteles) und die Vollkommenheit immer ein endgültiger Abschluß. Die Zeit der endlichen Welt geht zu Ende, und da wir weder Astronomen noch Geophysiker sind, verstehen wir nichts von der plötzlichen „Globalisierung der Geschichte“, wenn wir nicht zur Physik und zur Wirklichkeit des Augenblicks zurückkehren.
Behauptet man, wie dies jetzt oft der Fall ist, daß der Begriff des Globalismus den Erfolg des freien Unternehmertums über den totalitären Kollektivismus veranschaulicht, dann ist das der Beleg dafür, daß man nichts begriffen hat vom gegenwärtigen Verlust der Zeitabstände und der permanenten Rückkopplung, vom Zusammenprall der industriellen oder postindustriellen Aktivitäten.
Wie sollen wir zu einer Vorstellung von der informationellen Veränderung gelangen, wenn wir weiterhin einem ideologischen Ansatz verhaftet bleiben, während es doch dringend notwendig wäre, wieder auf einen geostrategischen Ansatz zurückzugreifen, um das ganze Ausmaß des derzeitigen Geschehens zu erkennen? Dabei geht es darum, auf die Erde zurückzukehren ... nicht auf die Erde im Sinne des altehrwürdigen Nährbodens, sondern auf die Erde als jenem einmaligen Himmelskörper, auf dem wir zu Hause sind. Zur Welt zurückkehren, zu ihren Dimensionen und zu deren bevorstehendem Verlust, der weniger durch die Beschleunigung der Geschichte verursacht wird (die mit dem Verlust der Orts-Zeit ihre reale Grundlage eingebüßt hat) als vielmehr durch die Beschleunigung der Realität selbst. Hervorgerufen wird diese Beschleunigung durch die neue Bedeutung der Welt-Zeit, deren Unmittelbarkeit endgültig die Realität der Entfernungen, also jener geographischen Abstände tilgt, die gestern noch für die staatliche Politik und die Bündnisse maßgeblich waren und deren Bedeutung der kalte Krieg in der Zeit des Ost-West-Konflikts belegt hat.
Die Begriffe „Physik“ und „Metaphysik“ werden seit Aristoteles philosophisch verstanden; wie steht es aber um die Begriffe „Geophysik“ und „Metageophysik“? Über die Bedeutung des letztgenannten Wortes besteht immer noch Zweifel, obwohl die Realität der Fakten uns fortwährend den Verlust der geographischen Grundlage der Kontinente zugunsten jener „Telekontinente“ einer gleichsam unmittelbar gewordenen, weltumspannenden Kommunikation vor Augen führt.
Nach der außergewöhnlichen politischen Bedeutung der internationalen Geophysik für die Geschichte der Gesellschaften, die weniger durch ihre nationalen Grenzen voneinander getrennt waren als durch die räumliche und zeitliche Entfernung in der Kommunikation von einem Punkt zum anderen, wird seit kurzem die transpolitische Bedeutung jener Art von „Metageophysik“ offenkundig, die für uns die gleichsam kybernetische Interaktivität der derzeitigen Welt darstellt.
Da jede Gegenwart nur im Hinblick auf die Ferne gegenwärtig ist, kann sich die Telepräsenz im Zeitalter der Globalisierung des Warentauschs nur einnisten, wenn sie den größtmöglichen Abstand einnimmt. Dieser Abstand erstreckt sich nunmehr von einem zum anderen Ende des Erdballs, reicht vom einen zum anderen Ufer der derzeitigen Realität. Allerdings handelt es sich hierbei um eine metageophysikalische Realität, die die Telekontinente eng an eine virtuelle Realität angleicht, welche ihrerseits wesentliche Wirtschaftsbereiche der einzelnen Nationen an sich reißt und damit im Gegenzug zunehmend die genau im physischen Raum der Erde situierten Kulturen auslöscht.
Statt eines „Endes der Geschichte“ erleben wir folglich das Ende der Geographie. Waren die alten Zeitabstände bis zur Revolution der Transportmittel im letzten Jahrhundert für den spezifischen Abstand zwischen den verschiedenen Gesellschaften verantwortlich, so erzeugt das bevorstehende Zeitalter der Revolution der Übertragungen mit seiner permanenten Rückkopplung der menschlichen Aktivitäten die unsichtbare Gefahr eines durch die allgemeine Interaktivität verursachten Desasters, für das der Börsenkrach ein Symptom sein könnte.
Das läßt sich vielleicht mit Hilfe einer außerordentlich aufschlußreichen Anekdote veranschaulichen: Seit Anfang der neunziger Jahre hat die Geostrategie nach Ansicht des Pentagon die Erde wie einen Handschuh von innen nach außen gewendet! Für die verantwortlichen amerikanischen Militärs ist das Globale tatsächlich das Innere einer endlichen Welt, deren Endlichkeit gerade zahlreiche logistische Probleme in sich birgt. Dagegen ist das Lokale zum Äußeren, zur Peripherie, um nicht zu sagen: zu einer Art große Vorstadt der Erde geworden!
Für den Generalstab der US-Streitkräfte befinden sich demzufolge die Kerne nicht mehr in den Äpfeln oder Orangen: Die Schale hat sich umgestülpt, das Äußere ist nicht mehr nur die Haut, die Erdoberfläche; all das, was sich vorher in situ befand, das heißt an der einen oder anderen Stelle genau lokalisiert, ist nun das Äußere geworden.
Eben darin besteht die große globalitäre Mutation, die eine Örtlichkeit – jede Örtlichkeit – nach außen wendet und nicht mehr nur wie früher einzelne Menschen oder ganze Bevölkerungsgruppen deportiert, sondern den Ort, an dem sie leben und ihren Unterhalt verdienen. Diese globale Delokalisierung verändert unmittelbar das Wesen nicht mehr nur der „nationalen“, sondern auch der „sozialen“ Identität und stellt somit weniger den Nationalstaat als vielmehr die Stadt, also die Geopolitik der Nationen in Frage.
„Zum ersten Mal“, erklärte jüngst der Präsident der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, „besteht kein Unterschied mehr zwischen Innenpolitik und Außenpolitik.“
Also keine Unterscheidung mehr zwischen „innen“ und „außen“. Hiervon ausgenommen ist allerdings die vom Pentagon und vom amerikanischen Außenministerium selbst vorgenommene topologische Umkehrung! Tatsächlich bedeutet dieser historische Satz des amerikanischen Präsidenten die Einführung der metapolitischen Dimension einer Macht, die global geworden ist, sowie den Beginn einer Innenpolitik, die genau so gestaltet werden soll wie früher einmal die Außenpolitik.
Die genau lokalisierte, reale Stadt, die zuweilen sogar der Politik eines Staates ihren Namen zu geben vermochte, wird verdrängt von der virtuellen Stadt, das heißt jener deterritorialisierten „Metastadt“, die somit zur Basis der „Metropolitik“ würde, deren totalitärer oder vielmehr globalitärer Charakter niemandem entgeht.
Wir hatten sicher längst vergessen, daß es neben dem Reichtum und seiner Akkumulation noch die Geschwindigkeit und ihre Konzentration gibt, ohne die es die Zentralisierung der verschiedenen Mächte im Laufe der Geschichte schlichtweg nicht gegeben hätte: Ob Feudalstaat, Monarchie oder moderne Staatsmacht, die Beschleunigung der Transportmittel sowie der Übertragungen erleichterte in jedem Fall die Herrschaft über die Bevölkerung.
Mit der neuen Globalisierung des Warentauschs rückt die Stadt wieder in den Vordergrund. Die Metropole, als eine der bedeutendsten Lebensformen in der Menschheitsgeschichte, konzentriert die Vitalität der Nationen dieser Erde. Allerdings ist diese „lokale Stadt“ längst nur noch ein Viertel, einer von mehreren Stadtteilen in der unsichtbaren „globalen Metastadt“, deren Zentrum überall und deren Umkreis nirgendwo ist.
Dieses virtuelle Hyperzentrum, dem die realen Städte nichts als Peripherie sind, treibt nach der Entvölkerung des ländlichen Raums nun den Niedergang der mittelgroßen Städte, welche der Anziehungskraft der Metropolen nicht länger etwas entgegenzusetzen vermögen, denn die Metropolen verfügen über die ganze Bandbreite sowohl der Telekommunikationsmittel als auch der sehr schnellen Kabel- oder Satellitenverbindungen.
Dieses metropolitische Phänomen einer katastrophischen Hyperkonzentration von Menschen hat zunehmend die Dringlichkeit einer echten Geopolitik der Völker beseitigt, die früher gleichmäßig über das gesamte ihnen zur Verfügung stehende Territorium verteilt lebten.
Eine andere Anekdote veranschaulicht die jüngsten Konsequenzen der privaten Telekommunikationsmittel für die Kommunalpolitik: Seitdem die Zahl der Benutzer von Mobiltelefonen sprunghaft angestiegen ist, sieht sich die Polizei im Bezirk von Los Angeles mit einer neuen Art von Schwierigkeit konfrontiert. Während bisher der Drogenhandel in einigen ganz bestimmten Vierteln abgewickelt wurde, die für die Anti-Drogen-Einheiten leicht zu kontrollieren waren, wurden letztere durch die unerwarteten und überhaupt nicht mehr an einen bestimmten Umschlagplatz gebundenen Treffen von Dealern und Drogenkonsumenten, die per Handy telefonisch miteinander in Verbindung treten und sich an jedem beliebigen Ort, irgendwo, verabreden, fast völlig hilflos.
Da das gleiche technische Phänomen zugleich die metropolitane Konzentration und die Streuung von Gefährdungspotentialen begünstigte, mußte man darüber nachdenken, wie man in möglichst naher Zukunft eine den privat genutzten Netzen angemessene kybernetische Kontrolle bewerkstelligen kann. Nur so erklärt sich der ungeheure Aufschwung des Internet, jenes ursprünglich militärischen Netzes, das erst vor kurzem der zivilen Nutzung zugeführt wurde.
Je geringer die Zeitabstände werden, desto stärker verschwimmt in der Tat das Bild des Raums. In bezug auf jenes Licht, welches die Realität der Welt erhellt, schrieb Ernst Jünger einmal, man könne den Eindruck gewinnen, es habe eine die ganze Welt erschütternde Explosion stattgefunden, denn noch der hinterste Winkel werde aus der Dunkelheit ans grelle Licht gezerrt. Das durch die Entwicklung der Geschwindigkeit der Wellen bedingte Aufkommen von Live- und Direktübertragungen verwandelt das alte „Fernsehen“ in eine große, planetare Optik.
Mit CNN und den zahlreichen Überraschungen, die dieser Sender uns beschert, ist an die Stelle des Fernsehens die Fernüberwachung getreten ist. Dieses Phänomen der medialen Überwachung des Lebens der Bürger, diese schlagartige Fokussierung kündigt den Anbruch eines besonderen Tages an, der sich vollkommen dem Wechsel von Tag und Nacht entzieht, von dem bislang die Geschichte strukturiert wurde. An diesem vom Licht der Telekommunikationsmittel erzeugten scheinbaren Tag geht eine künstliche Sonne auf, gleich einer Notbeleuchtung, die vom Beginn einer neuen Zeit kündet – der Welt- Zeit, bei der die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Handlungen schon bald die hergebrachte Aufeinanderfolge ersetzen wird.
Indem die visuelle (audiovisuelle) Kontinuität nach und nach den Bedeutungsverlust der territorialen Kontinguität der Nationen ersetzte, verschoben sich die politischen Grenzen ihrerseits vom Realraum der Geopolitik in die Echtzeit der Chronopolitik von Bild- und Tonübertragung. Zukünftig müssen demzufolge zwei einander ergänzende Aspekte der Globalisierung berücksichtigt werden: einerseits die extreme Reduzierung der Abstände, die sich aus der zeitlichen Komprimierung sowohl von Transporten als auch von Übertragungen ergibt; andererseits die gegenwärtig stattfindende allgemeine Durchsetzung der Fernüberwachung.
Dank dieser transhorizontalen Optik, die das sichtbar macht, was sich einst außer Sichtweite befand, empfangen wir vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche das Bild einer permanent „telepräsenten“ Welt. „Jedem Bild ist das Schicksal der Vergrößerung beschieden“, erklärte einst Gaston Bachelard. Dieses Schicksal der Bilder ist auf die Wissenschaft, auf die wissenschaftliche Technik der Optik übergegangen: Früher waren es das Teleskop und das Mikroskop; in Zukunft wird es die häusliche Fernüberwachung sein, die weit über die im engeren Sinne militärische Dimension des Phänomens hinausgeht.
Tatsächlich macht der Niedergang der politischen Bedeutung der Weite, der durch die unbemerkt gebliebene Trübung des natürlichen Maßstabs der Erde aufgrund der Beschleunigung verursacht wurde, die Erfindung einer großen Ersatzoptik erforderlich.
Die allgemeine Sichtbarmachung
DIE aktive (Wellen-) Optik hat die Nutzung der passiven (geometrischen) Optik, die dem Zeitalter des Galileischen Fernrohrs entstammt, von Grund auf verändert. Und es hat den Anschein, als mache der Verlust der Horizontlinie der geographischen Perspektive die Realisierung eines Ersatzhorizonts dringend notwendig.
Hierbei handelt es sich um den „künstlichen Horizont“ eines Bildschirms oder Monitors, der in der Lage ist, die neue Vorrangstellung der Medienperspektive gegenüber der unmittelbaren Perspektive des Raums dauerhaft zu bekunden. Das Relief des „telepräsenten“ Ereignisses gewinnt nunmehr die Oberhand gegenüber den drei räumlichen Dimensionen der tatsächlich gegenwärtigen Dinge und Orte.
Damit läßt sich auch die plötzliche Vermehrung der „großen Beleuchtungskörper“ – der Beobachtungssatelliten für meteorologische oder militärische Zwecke – leichter nachvollziehen. Gleiches gilt für die ständig wachsende Zahl von Übertragungssatelliten im Weltraum, für die allgemeine Verbreitung der Videoüberwachung in den Städten oder das Aufkommen der Livecams im Internet. Wie wir sahen, trägt all dies zu einer Umkehrung der gewohnten Begriffe von innen und außen bei.
Letztendlich ist diese allgemeine Sichtbarmachung der augenfälligste Aspekt dessen, was man als Virtualisierung bezeichnet. Bei der berühmt-berüchtigten „virtuellen Realität“ geht es nicht so sehr um das allseits bekannte Navigieren im Cyberspace der Netze, sondern es geht in erster Linie um die Steigerung der optischen Dichte der Erscheinungen aus der realen Welt. Diese Steigerung zielt darauf ab, die tellurische Kontraktion auszugleichen, die durch die zeitliche Verdichtung der direkten Telekommunikation verursacht wird.
In einer Welt der verbindlichen Telepräsenz, welche die unmittelbare Gegenwart der Mitmenschen (im Geschäftsleben oder bei der Arbeit) auslöscht, kann das „Fernsehen“ nicht mehr das sein, was es ein halbes Jahrhundert lang war: ein Ort der Zerstreuung oder der Kulturvermittlung. Heute muß es vor allem die Welt- Zeit des Warentauschs anzeigen, jenes virtuelle Bild, das an die Stelle des Bildes der realen Welt tritt, die uns umgibt.
Die große transhorizontale Optik ist demnach der Ort jeder (strategischen, ökonomischen oder politischen) „Virtualisierung“. Ohne sie wäre die Entwicklung des „Globalitarismus“, der sich anschickt, die Totalitarismen der Vergangenheit wiederzubeleben, schlichtweg wirkungslos.
Um der Globalisierung Relief, optische Dichte zu verleihen, reicht es nicht, sich an die kybernetischen Netze anzuschließen, sondern man muß die Realität der Welt verdoppeln. So wie bei der Stereoskopie oder der Stereophonie, die links und rechts voneinander abgrenzen, um die Wahrnehmung des Reliefs von Bildern oder Tönen zu ermöglichen, muß die eigentliche Realität um jeden Preis mittels der Entwicklung einer Stereorealität aufgespalten werden, die sich zusammensetzt aus der greifbaren Realität des unmittelbar Sichtbaren einerseits und aus der virtuellen Realität des medialen Hindurch-Sichtbaren andererseits.
Erst wenn sich dieser „Realitätseffekt“ allgemein durchgesetzt und verbreitet haben wird, kann man tatsächlich von Globalisierung sprechen. Das eigentliche Ziel der Techniken des künstlichen Sehens besteht darin, endlich eine überbelichtete Welt ohne „Schattenzonen“, ohne tote Winkel, „ans Licht zu bringen“. Hierbei dient die Mikro-Videokamera, die sowohl die Rückfahrscheinwerfer als auch die Rückspiegel von Autos ersetzt, durchaus als Vorbild.
Da jedes Bild mehr Wert ist als viele Worte, verfolgt Multimedia die Absicht, unser gutes altes Fernsehen in eine Art häusliche Teleskopie zu verwandeln, um, wie es in der Meteorologie schon der Fall ist, die kommende Welt zu sehen, vorherzusehen. Der Computerbildschirm wird zum letzten Fenster, wobei es sich jedoch um ein Fenster handelt, dessen Funktion weniger darin besteht, Daten zu empfangen, als vielmehr darin, den Horizont der Globalisierung wahrzunehmen, den Raum ihrer beschleunigten Virtualisierung.
Ich würde an dieser Stelle gern ein praktisches, weitestgehend unterschätztes Beispiel anführen, und zwar dasjenige der Live-Kameras, jener Videosensoren, die mittlerweile über die ganze Welt verstreut installiert und ausschließlich im Internet verfügbar sind. Dieses Phänomen, obgleich scheinbar nebensächlich und flüchtig, findet in allen Regionen von zunehmend mehr Ländern eine wachsende Verbreitung: von der Bucht von San Francisco bis zur Klagemauer in Jerusalem. In den Büros oder Wohnungen einiger Exhibitionisten ist es mit Hilfe dieser Live-Kamera möglich, in Echtzeit zu erfahren, was sich am anderen Ende der Welt im selben Augenblick ereignet. In diesem Fall ist der Computer nicht mehr bloß eine Maschine zur Informationsbeschaffung, sondern eine automatische Sehmaschine, die im Raum einer geographischen Realität arbeitet, welche längst vollständig virtualisiert ist.
Nicht wenige Internet-Jünger schrecken nicht einmal mehr davor zurück, sich in den geschlossenen Kreisläufen des Netzes zu internieren und dort in Direktübertragung zu leben, ihre Intimsphäre allen zur Kenntnis zu bringen. Diese kollektive Introspektion als Ausdruck eines universellen Voyeurismus ist dazu berufen, sich in naher Zukunft in der gleichen Geschwindigkeit auszudehnen wie der bevorstehende Einheitsmarkt der universellen Werbung.
Nachdem die Werbung im 19. Jahrhundert ganz einfach „Reklame für ein industrielles oder handwerkliches Produkt“ war und im 20. Jahrhundert dazu diente, Wünsche zu wecken, zielt sie im 21. Jahrhundert darauf ab, zu reiner „Kommunikation“ zu werden, die allein schon deshalb die Ausdehnung des Werberaums auf die Größe des Wahrnehmungshorizonts der Erde erfordert. Die globale Werbung gibt sich keinesfalls mehr mit dem althergebrachten Anbringen von Plakaten oder der Unterbrechung von Radio- beziehungsweise Fernsehsendungen zufrieden, sie dringt vielmehr darauf, dem Blick einer Mehrheit von Fersehzuschauern, die in der Zwischenzeit zu „Tele-Akteuren“, vor allem aber zu „Tele-Käufern“ geworden sind, ihre „Umwelt“ aufzuzwingen.
Im Internet preisen einige Städte, an denen die Touristenströme vorbeigegangen sind, die Vorzüge ihrer Landschaft an. Alpenhotels rühmen die Schönheit ihrer Aussicht. Künstler der land art beginnen, ihre Werke mit einer Vielzahl von Webkameras auszustatten. Sogar Ersatzreisen kann man bereits unternehmen: eine Reise durch Amerika, einen Besuch in Japan oder Hongkong, oder eine Entdeckungsreise in die Polarnacht einer antarktischen Forschungsstation.
Trotz der schlechten Bildqualität ist die „Direktübertragung“ zu einem Werbeinstrument geworden, das den Blick aller auf hervorgehobene Blickpunkte lenkt. Nichts passiert, aber alles kommt vor. Die elektronische Optik wird zur „Suchmaschine“ einer globalisierten Vorausschau.
Während man früher mit dem „Fernrohr“ lediglich beobachtete, ob von jenseits der Horizontlinie etwas Unerwartetes auftauchte, geht es heute darum, das zu sehen, was am entgegengesetzten Punkt, auf der verborgenen Seite des Erdballs geschieht. Folglich ist das Navigieren im elektronischen Äther der Globalisierung ohne die Unterstützung durch den „künstlichen Horizont“ von Multimedia nicht möglich.
Die zu einem Phantomglied gewordene Erde erstreckt sich nicht mehr jenseits des Blickfeldes, sondern zeigt sich heute in dem merkwürdigen kleinen Fenster von all ihren Seiten. Die plötzliche Vermehrung der Blickpunkte ist also nichts anderes als eine erste Folge der allerjüngsten Globalisierung: der Globalisierung des Blickes, des einzigen Auges des Zyklopen, der die Höhle beherrscht, jene Black box, die immer weniger über die große Dunkelheit der Geschichte hinwegtäuschen kann – einer Geschichte, die dem Syndrom der absoluten Vollkommenheit anheimgefallen ist.
dt. Bernd Wilczek
* Philosoph und Urbanist, Leiter der Ecole spéciale d‘architecture (ESA) in Paris, Verfasser u. a. von „L‘art du moteur“, Paris (Galilée) 1993 (“Die Eroberung des Körpers“, dt. von Bernd Wilczek, München 1994), „La vitesse de libération“, Paris (Galilée) 1995 (“Fluchtgeschwindigkeit“, dt. von Bernd Wilczek, München 1996), „Un Paysage d‘évènements“, Paris (Galilée) 1996 (erscheint im nächsten Jahr auf deutsch).