17.10.1997

Beispiel Longwy

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Beispiel Longwy

IM Dezember 1978 traf es Lothringen wie ein Donnerschlag: Der dritte „Stahlplan“ sah den Abbau von 22000 Arbeitsplätzen in der Eisen- und Stahlindustrie vor, 6500 davon im Becken von Longwy. „Die Führung in Paris hielt diesen Schritt nicht für problematisch, da es sich um ein Beschäftigungsgebiet handelte, in dem vorwiegend ausländische Arbeitskräfte angestellt waren: Man brauchte nur die Verträge nicht zu verlängern“, vermutet Robert Giovanardi, zu der Zeit Vertreter der sozialistischen Gewerkschaft CFDT.

Doch schnell regte sich Widerstand: Die sonst so ruhigen Lothringer rebellierten. Auf der Spitze der Halde von Longwy, dem Symbol eines Jahrhunderts schwerer Arbeit, erstrahlte ein Leuchtzeichen: SOS. Es war das Symbol für einen Kampf um Arbeitsplätze unter der Führung eines Gewerkschaftsverbands, dem sich die ganze Bevölkerung anschloß. Zu dem traditionellen „Kampf im Betrieb“ kamen im Laufe der folgenden sechs Monate spektakuläre Straßenaktionen, die die Menschen mobilisierten.

Ein behelfsmäßig eingerichteter Piratensender des CFDT beginnt mit der Ausstrahlung von Programmen, in denen die Longwyer von den Aktionen informiert werden, die zwischen Januar und Juni 1979 in raschem Tempo aufeinanderfolgen. Nachdem mehrere Einheitsdemonstrationen (in Metz nahmen am 13. Januar 80000 Personen teil) zu keinerlei Ergebnis führt, folgt die Zeit der Erbitterung.

In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar kommt es zu ersten gewalttätigen Ausschreitungen: Die Polizei, die bisher neutral geblieben ist, greift ein, um einen Fabrikdirektor zu befreien, der von Gewerkschaftsaktivisten festgehalten wird. Die Antwort erfolgt umgehend: Die Stahlarbeiter greifen das Polizeirevier der Stadt an. Der CFDT heißt mit unerwarteter Festigkeit die „legitime Gewalt der Arbeiter“ gut. Bei einem Treffen mit dem Gewerkschaftsverband weigert sich der Arbeitsminister, den Umstrukturierungsplan zu revidieren, versucht aber dennoch, an den brennendsten Punkten nachzugeben: Das Rentenalter wird herabgesetzt, mit den Gewerkschaften werden Verhandlungen eröffnet. Aber diese fordern eine Modifizierung des gesamten Plans.

Zehn Tage später sind Longwy und das gesamte obere Lothringen von einem Generalstreik gelähmt und von Straßensperren isoliert. Die „Faustschlagaktionen“ nehmen zu und beziehen die Bevölkerung mit ein. „Allen war klar, daß etwas ganz Neues und Mächtiges in Gang gesetzt worden war. Es passierte etwas in der Stadt. Doch das, was sich da abzeichnete, war nicht so sehr ein politisches Konzept, sondern eine Art zu leben“, erinnert sich Robert Giovanardi. Am 21. Februar besetzt der CFDT den Relaissender des Fernsehens und strahlt mit Hilfe von Dias die Forderungen der Stahlarbeiter aus.

Drei Nächte darauf wird der Sender von Ordnungskräften geräumt. Um halb drei Uhr morgens hallen die Fabriksirenen durch die schlafende Stadt: Fahrzeuge mit Lautsprechern fahren durch die Straßen und rufen die Bevölkerung auf, sich zu versammeln. Als sie den Ordnungskräften gegenüberstehen, ist die Situation extrem angespannt. Doch eine direkte Konfrontation wird im letzten Augenblick abgewendet. Um halb sechs beginnt ein zweiter Angriff auf das Polizeirevier; diesmal versuchen die Angreifer, die Schutzgitter mit einem Bulldozer einzudrücken. Am Ende der heftigen gewalttätigen Ausschreitungen („An diesem Abend hätte die Arbeiterklasse einen Toten haben können“) konstatieren die Polizisten etliche Einschüsse in den Außenwänden des Gebäudes.

In Paris macht sich langsam Sorge über die „Kommune von Longwy“ breit. Die Machthaber geben überstürzt eine Erklärung nach der anderen ab: Pierre Messmer, Präsident der Region Lothringen, spricht von 20000 neuen Arbeitsplätzen; André Giraud, Minister für Industrie, stellt klar, daß es das Ziel der Regierung Barre sei, „bis zum Ende des Jahres 1980 keine neue Situation der Arbeitslosigkeit zu schaffen“. Am 8. März werden die Entlassungen für die Dauer der Verhandlungen eingefroren, aber nicht grundsätzlich widerrufen.

Der neue freie Radiosender, Radio Lorraine C÷ur d'Acier (Radio Lothringen Stahlherz), den die kommunistische Gewerkschaft CGT für viel Geld eingerichtet hat, kommentiert diese Maßnahmen ausgiebig. Gemeinsam mit der CFDT, deren Sendezeiten der LCA penibel respektiert, wird dieser Radiosender zu einem starken sozialen Bindeglied. Einwohner, Gewerkschaftsaktivisten und Verantwortliche strömen in die Studios, die im Rathaus eingerichtet wurden, und sprechen live. Der Anspruch auf eine Gegendarstellung ist feste Regel. Doch der Radiosender versteht es auch, etliche tausend in wenigen Minuten zu mobilisieren: In den Fabriken haben die Arbeiter Lautsprecher installiert und hören den Sender rund um die Uhr. Die Regierung versucht zweimal, die Sendungen zu stören.

Der „Marsch auf Paris“, den die CGT am 23. März durchführt, ist ein klarer Erfolg. Doch die Einheit der Gewerkschaften ist brüchig geworden. Auf der einen Seite die nationalistischen und produktivistischen Reden der CGT, auf der anderen Seite der „Realismus“ der CFDT. Dem gegenüber steht eine unbeugsame Arbeitgeberschaft und ein Staat, der als „Aktionär, nicht aber als Geschäftsführer“ auftritt und dessen Umstrukturierungsplan die Konzessionen vorwegnimmt, die den Gewerkschaften gemacht werden müssen.

Am 6. April kommt die Nachricht, daß 2300 Arbeitsplätze ein weiteres Jahr bestehen bleiben, selbstverständlich auf Kosten des Staates. Sie führt unmittelbar, sowohl in den Fabriken wie auf den Straßen, zu einer Intensivierung des Kampfes. In Usinor Longwy wird der Streik ausgerufen. Die Direktion reagiert, indem sie 1200 Arbeitnehmer ohne Entschädigung in die betriebsbedingte Arbeitslosigkeit schickt. Die Regierung unterstreicht ihre Unbeugsamkeit, indem sie neue Ordnungskräfte entsendet, was Folgen hat: Am 1. Mai kommt es zu einem neuerlichen Angriff auf das Polizeirevier, am 7. Mai wird ein Geschäftsführer von Usinor festgehalten, am 17. Mai dann „fallen die Fenster“ der Banken, die an den Umstrukturierungen beteiligt sind, und es folgt eine Nacht des Aufruhrs. Schließlich, nach fünf Monaten des Kampfes, macht sich in der erschöpften Bevölkerung eine gewisse Ermüdung breit.

Die Ergebnisse der Mobilisierung sind nicht zu verachten: Frühpensionierung mit fünfzig Jahren mit 84 bis 90 Prozent des Gehalts, Reduzierung der Arbeitszeit um eine Stunde für die nicht Festangestellten, Einstellung von sechzig Jugendlichen in einer Kokerei, provisorische Weiterführung einer anderen Kokerei, Überprüfung der Entlassung von Belegschaften im Stahlwerk, teilweise Erhaltung des Hochofenbetriebs mit mehreren Walzwerken bis 1981.

24. Juli 1997: Die Ankündigung der Schließung der Fabriken JVC und Panasonic und des Drahtwalzwerks von Usinor bringt wieder 2000 Leute auf die Straße. Am Eingang der Stadt hängt ein Spruchband: „Arbeitslos, was heißt das? Ich kämpfe!“

P.R. und R.T.

dt. Esther Kinsky

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von P.R. und R.T.