Umwälzung der Welt
Von IGNACIO RAMONET
IM Oktober 1917 benötigte die bolschewistische Revolution nur zehn Tage, um die „Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern“. Zum ersten Mal wurde die kapitalistische Dampfwalze erfolgreich angehalten.
Drei Faktoren hatten den Aufschwung des Kapitalismus begünstigt: die Arbeiten großer Theoretiker wie Adam Smith und David Ricardo, bahnbrechende technologische Fortschritte wie die Erfindung der Dampfmaschine und der Eisenbahn und schließlich die geopolitischen Umwälzungen (das britische Empire, das wiedererstarkte Deutschland, die wachsende Macht der Vereinigten Staaten). Das Zusammentreffen dieser Faktoren löste die erste kapitalistische Revolution aus, die zwar eine erhebliche wirtschaftliche Expansion mit sich brachte, jedoch die Menschen auf der Strecke ließ, wie Charles Dickens, Emile Zola und Jack London treffend schilderten.
Wie kann die Gesellschaft Nutzen aus dem unermeßlichen Reichtum ziehen, der durch die Industrialisierung entsteht, ohne daß ihre Bürger dabei zwischen die Mühlsteine geraten? Auf diese Frage antwortete Karl Marx 1867 mit seinem Hauptwerk „Das Kapital“. Doch sollten noch fünfzig Jahre vergehen, bis es einem genialen Strategen namens Lenin gelang, in Rußland die Macht zu erobern, um die „Proletarier aller Länder“ zu befreien.
Achtzig Jahre später ist die Sowjetunion untergegangen, und die Welt erlebt eine neuerliche große Umwälzung, die man als zweite kapitalistische Revolution bezeichnen könnte. Sie entsteht, wie schon die erste, aus dem Zusammenwirken mehrerer Wandlungen in dreierlei Bereichen.
Das ist zunächst der Bereich der Technologie. Die Computerisierung aller Tätigkeitsfelder sowie der Einsatz der digitalen Technik haben Arbeit, Ausbildung, Freizeit und vieles mehr tiefgreifend verändert.
Zum zweiten der ökonomische Bereich. Die neuen Technologien erleichtern eine Ausweitung des Finanzsektors. Sie wirken sich fördernd auf Tätigkeiten aus, die pausenlos, weltumspannend, mit sofortiger Wirkung und ohne materielle Präsenz durchgeführt werden. Der „big bang“ der Börsen und die wirtschaftliche Deregulierung, die in den achtziger Jahren von Margaret Thatcher und Ronald Reagan betrieben wurden, haben die Globalisierung verstärkt. Diese stellt an dieser Jahrtausendwende die hauptsächliche Triebkraft dar, deren Einfluß sich kein Land entziehen kann.
Drittens der gesellschaftliche Bereich. Die zwei vorgenannten Umwälzungen stellen die traditionellen Vorstellungen vom Nationalstaat in Frage und damit auch das alte Konzept von politischer Repräsentanz und Machtausübung. Während Macht früher hierarchisch strukturiert war, vertikal und autoritär, tritt sie heute zunehmend horizontal auf, vernetzt und – dank der Manipulation durch die großen Massenmedien – auf der Basis von Konsens.
Die Gesellschaften haben ihren Kurs verloren und suchen verzweifelt nach einem Sinn und nach Modellen, denn diese drei großen Umwälzungen vollziehen sich gleichzeitig, was die Schockwirkung noch verstärkt.
Das moderne demokratische System beruhte auf zwei Hauptpfeilern, dem Fortschritt und dem sozialen Zusammenhalt. Diese Pfeiler werden zunehmend durch zwei andere ersetzt, die Kommunikation und den Markt, wodurch der Charakter des Systems an sich grundlegend verändert wird.
Die Kommunikation, der größte Mythos unserer Zeit, wird dargestellt als das Wundermittel, mit dem alles geregelt werden kann, insbesondere die Konflikte innerhalb der Familie, in der Schule, dem Unternehmen oder dem Staat. Sie erscheint als die große Friedenstifterin. Erst langsam formiert sich der Verdacht, daß der Überfluß an Kommunikation eine neue Form der Entfremdung auslöst und daß er, statt zu befreien, das Denken weiter versklavt.
Der Markt droht alle menschlichen Tätigkeiten zu vereinnahmen und ihnen seine Regeln aufzuzwingen. Früher lagen einige gesellschaftliche Bereiche wie Kultur, Sport oder Religion außerhalb seiner Reichweite, inzwischen werden auch sie davon aufgesogen. Die Regierungen übertragen immer mehr Funktionen auf den Markt, etwa durch die Auflösung des staatlichen Wirtschaftssektors und durch Privatisierungen. Dabei ist der Markt der Hauptfeind des sozialen Zusammenhalts (und des weltweiten Zusammenhalts), denn seine Logik teilt jede Gesellschaft in zwei Gruppen: die Zahlungsfähigen und die nicht Zahlungsfähigen. Die letzteren interessieren ihn wenig: Sie bleiben aus dem Spiel. Der Markt produziert naturbedingt Ungleichheit.
Alle diese strukturellen und konzeptionellen Veränderungen, die seit etwa zehn Jahren im Gang sind, haben die Welt aus dem Gefüge gebracht. Geopolitische Begriffe wie Staat, Macht, Demokratie, Grenze haben ihre Bedeutung gewechselt. Mittlerweile haben sogar die Akteure gewechselt, die bestimmen, was sich auf der internationalen Bühne abspielt.
Waren früher Adel, Kirche und Dritter Stand die gesellschaftlichen Hauptakteure, so sind es heute die suprastaatlichen Unionen wie EU, Nafta, Mercosur, Asean usw., die multinationalen Unternehmen sowie die großen Finanz- und Medienkonzerne und schließlich die weltweit tätigen regierungsunabhängigen Organisationen wie Greenpeace, amnesty international, World Wild Fund for Nature usw. Diese drei Akteure handeln innerhalb eines weltumspannenden Rahmens, der weniger durch die Vereinten Nationen gekennzeichnet ist, als – und das ist nicht zufällig – durch die Welthandelsorganisation (WTO), die sich zum neuen globalen Schiedsrichter aufgeschwungen hat.
Der Wählerwille hat auf die inneren Mechanismen dieser drei neuen Akteure keinerlei Einfluß. Die große Umwälzung der Welt hat fast unmerklich stattgefunden, jedenfalls ohne daß die politisch Verantwortlichen sich ihrer bewußt geworden wären. Dürfen aber die Bürger tatenlos zusehen, wie bei alledem die Demokratie ihres Sinnes beraubt wird?