Eine plötzliche, unerklärliche Epidemie
„De Geruchten“, von Hugo Claus, Amsterdam 1997, erscheint voraussichtlich im Herbst 1998 bei Klett-Cotta.
GERÜCHTE“, wie der Titel auf deutsch heißt, impliziert Laute ebenso wie Verwirrung. Und in dem neuesten Roman des flämischen Erfolgsautors Hugo Claus geht es um beides: Laute und Verwirrungen. Die Geschichte spielt 1967 in einem kleinen Dorf im westlichen Flandern.
Hugo Claus wählte den Ort nicht von ungefähr, er hat seine eigenen offenen Rechnungen mit der tiefen Provinz Flanderns. Doch er bleibt nicht dabei stehen, mit unübertrefflicher Sprachgewalt Dummheit, Selbstgefälligkeit, Geiz, bornierte Grausamkeit und blinde Lust zu geißeln; seine Geschichte wurzelt vielmehr in den Mythen und der Geschichte der Region: in der zwielichtigen Versöhnung mit der beunruhigenden Vergangenheit (der Kollaboration mit den Nazi-Besatzern), in Anspielungen auf die griechische und römische Götterwelt. Unterhalb der sich trivial gebenden Erzähloberfläche des Romans lagern mehrere Sedimentschichten – wie schon die Struktur des Romans nahelegt, in welchem die Stammgäste einer Kneipe (wir?) die Rolle des antiken Chors übernehmen.
Die Gerüchte greifen um sich, als das Dorf von einer plötzlichen, unerklärlichen Epidemie heimgesucht wird. Einer nach dem anderen werden die Bewohner unter gräßlichen Qualen dahingerafft, meist just durch das, wodurch sie gesündigt haben. Die Vox populi hat den Schuldigen schnell ausgemacht: René Catrysse, ein Deserteur, der aus dem Kolonialkrieg im Kongo erkrankt nach Hause zurückkehrt. Der Sündenbock stirbt, doch nicht durch die Hände derer, die ihn beschuldigt haben.
IN der Welt von Hugo Claus gehen Liebe und Tod Hand in Hand. Unschuld ist eng an Grausamkeit gebunden. Der Schmerz besitzt keinerlei sühnenden oder erlösenden Aspekt. Hugo Claus, der früher der Malergruppe „Cobra“ angehörte, malt mit Worten. Das Universum, das er kreiert, ist drall und wird in allen seinen grotesken Auswüchsen wahrgenommen. Es ist bevölkert mit obszönen Jungfrauen, frustrierten Beamten, angewiderten Söldnern und scheinheiligen Moralaposteln. Ist die Krankheit vielleicht eine Prüfung, die der Teufel geschickt hat? Doch wir sind nicht bei Albert Camus: Die Pest ist für Claus kein Anstoß zu einer philosophischen Debatte über eine Moral ohne Gott. Wenn es in „De Geruchten“ einen Gott gibt, dann ist er jedenfalls nicht von der katholischen Sorte. Der Bruder von René Catrysse rezitiert eines Tages ein Gedicht zu Ehren von Gott Apollo und hat seither den lautverwandten Spitznamen „zotte Paulo“ (wobei zot soviel heißt wie „verrückt“).
Der Chor (der Gemeinplätze) in dem Dorfcafé wird wohlwollend, ja mit einer gewissen Sympathie beschrieben. Andere Szenen wiederum entspringen der reinen Fantasie. Das brillante Werk „De Geruchten“ liest sich schlußendlich durch die eiternden Wunden hindurch wie ein Drama auf die Unschuld, die Grausamkeit und die Initiation.
SERGE GOVAERT