12.12.1997

Von Lenin zu Stalin

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Von Lenin zu Stalin

Von MICHEL DREYFUS *

VON den sehr unterschiedlichen und häufig zusammenhanglosen Beiträgen im „Schwarzbuch“ ist der Text von Nicolas Werth, der sich mit den staatlich sanktionierten Gewaltmaßnahmen in der UdSSR befaßt, der ernsthafteste. Er hebt sich ab von dem Gestus des „Ungefähr“, wie er für eine Reihe der übrigen Autoren kennzeichnend ist, die ihr Thema allenfalls aus zweiter oder dritter Hand kennen.

Nicolas Werth beschreibt einen ersten Zyklus (Ende 1917 bis Ende 1921), der mit der „Machtübernahme“ zusammenfällt, „die Lenin zufolge notwendigerweise in einen Bürgerkrieg münden würde“, dann kommt er auf die Hungersnot 1921-1922 (6 Millionen Tote) zu sprechen. Der zweite Zyklus beginnt mit der Zwangskollektivierung und der „Entkulakisierung“ (Februar 1930 bis 1933), darauf folgt die Hungernsnot 1932-1933, mit der die Unterdrückung der „sozialen Fremdelemente“ zwischen 1930 und 1935 einhergeht. Zwischen 1936 und 1938 erreichen der Große Terror und die damit verbundene Unterdrückung einen Höhepunkt, zur gleichen Zeit entsteht das „Reich der Lager“. Der Gulag blieb auch nach dem Sieg von 1945 bestehen, und erst mit Stalins Tod im Jahre 1953 begann sein Abbau. Mit diesem Datum hört die Studie übrigens auf. Innerhalb der Logik des Buches wäre es vermutlich schwierig zu erklären gewesen, wie der Kommunismus noch vierzig Jahre lang ohne Massenterror überleben konnte.

Darf man die Opfer der Unterdrückung des sowjetischen Staates und die der Hungersnot auf eine Ebene stellen, obwohl doch die Ursache der Hungersnot von 1918 bis 1920 ein Bürgerkrieg war, den die Bolschewiken, so viel steht fest, nicht allein vom Zaun gebrochen hatten? Für die Ermordung der Kulaken hingegen ist einzig und allein der sowjetische Staat verantwortlich.

Werth vergißt immer wieder die dramatische Situation, in der sich Rußland zwischen 1917 und 1921 befand, und er unterschätzt drei wesentliche Elemente: Die Zerrüttung der Gesellschaft nach drei Jahren Weltkrieg, die Notwendigkeit, in den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk mit Deutschland zu einer klaren Entscheidung zu kommen, und den Bürgerkrieg gegen die Weißen, die von den meisten westlichen Ländern unterstützt wurden. Und warum ist nicht die Rede von den bedeutenden Mitbegründern des sowjetischen Staates (unter anderen Leo Trotzki und Nikolai Bucharin), die von Anfang an gegen die „Entkulakisierung“ waren? All das führt zu der umstrittenen Grundsatzfrage des Verhältnisses zwischen Leninismus und Stalinismus zurück. Erinnern wir uns daran, daß Stalin nach Lenins Tod 1924 seine Gegner Sinowjew, Bucharin und Trotzki beseitigte und sich 1929 endgültig an die Spitze einer mundtot gemachten Partei setzte, die spätestens von da an nichts mehr mit jener Organisation zu tun hatte, die zwölf Jahre vorher der Revolution zum Sieg verholfen hatte.

Die Lokomotiven von Shanghai

IN Rußland, wo es demokratische Traditionen nicht gab, wurden die Bolschewiken von dem Augenblick an, in dem sie die Macht übernahmen, in einen Kreis der Gewalt gezogen, den sie nicht durchbrechen konnten. Die Art und Weise der Organisation der bolschewistischen Partei begünstigte diese Entwicklung. Dennoch war nichts im voraus festgelegt. Auf die Frage, ob die Anlage zu Stalin bereits bei Lenin enthalten war, antwortet Werth eher verneinend: Während der erste Rote Terror (1918-1921) sich „in einem Kontext der allgemeinen Konfrontation“ abspielte, „griff die Entkulakisierung in ein befriedetes Land ein“. Werth betont eher die Brüche zwischen der ersten Phase und dem 1929 eröffneten zweiten Zyklus, der durch die Entstehung des Gulag-Phänomens gekennzeichnet ist.

Das kürzere Kapitel über die Komintern von Stéphane Courtois und Jean-Louis Panné zeichnet eine zuweilen verzerrte Geschichte. Auf der Grundlage einer selektiven Bibliographie behandelt dieses Kapitel unterschiedliche Versuche der Machtübernahme durch kommunistische Parteien in Europa – vor allem in Deutschland – und dann in China bis zum Jahre 1927, ohne den Zusammenhang dieser Länder zu erhellen. Wenn man den Autoren glaubt, ist die Gewalt immer nur von den Kommunisten ausgegangen, was Leser des Romans „La Condition humaine“ von André Malraux erstaunen dürfte, die sich an die schrecklichen, historisch wahren Bilder von kommunistischen Aktivisten in Shanghai erinnern, die in den Kesseln von Dampflokomotiven verheizt wurden.

Dieselben Autoren behandeln dann den „Terror“ innerhalb der kommunistischen Parteien und die Liquidierung von in die Sowjetunion geflüchteten Aktivisten unter Stalin. Sie schildern die Jagd auf die Trotzkisten und auf die POUM in Spanien sowie die dortigen Aktionen des NKWD. Dort steht zu lesen, daß das republikanische Spanien für den sowjetischen Staat 1936 „ein unverhofftes Interventionsfeld“ gewesen sei, kein Wort jedoch über die italienische und die deutsche Intervention.

dt. Esther Kinsky

* Historiker am CNRS, Autor von „L‘Histoire de la CGT“, Brüssel (Complexe) 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von MICHEL DREYFUS