Die Grameen-Bank und die Macht der Frauen
In etwa 37000 Orten Bangladeschs hat die Grameen-Bank Kleinstkredite vergeben, vornehmlich an Frauen. Damit konnten viele Arme, die keinen Zugang zum traditionellen Bankensystem hatten, ihre Würde zurückgewinnen und der Armut entrinnen.
Von MUHAMMAD YUNUS *
ZU Beginn der siebziger Jahre habe ich als Professor an der Universität von Chittagong in Bangladesch, wie viele andere auch, elegante ökonomische Theorien gelehrt. Fragen habe ich mir dabei kaum gestellt. Aber als 1974 und 1975 eine schreckliche Hungersnot das Land heimsuchte, geriet meine Begeisterung ganz erheblich ins Wanken. Einigen von uns ist damals der Abgrund bewußt geworden, der zwischen der abstrakten ökonomischen Welt, mit der wir uns beschäftigten, und den Lebensbedingungen der Menschen klaffte, die unter dem Hunger leiden mußten.
In Wahrheit haben wir nichts von den Schwierigkeiten gewußt, mit denen die Ärmsten der Armen jeden Tag zu kämpfen hatten. Chittagong liegt in einem ländlichen Gebiet, und so war es nicht schwierig, Kontakte zu Familien in dem nahegelegenen Dorf Jobra zu knüpfen. Man konnte alles lernen, man mußte ihnen nur zuschauen.
Entsetzt mußten wir entdecken, daß alle diese Menschen in einem Teufelskreis steckten, weil sie nicht einmal ein minimales Betriebskapital zur Verfügung hatten. Ein einziger Dollar für jeden hätte genügt, und sie hätten diesem Teufelskreis entrinnen können. Aber um diesen einen Dollar zu bekommen und mit ihm den Prozeß der Entfremdung aufzuhalten, hätte sich der Antragsteller einer Reihe von Bedingungen unterwerfen müssen, von denen die eine ungerechter gewesen wäre als die andere. Zuallererst hätte er seine Erzeugnisse an einen Wucherer verkaufen müssen. Dieser hätte ihm dafür einen völlig willkürlichen Preis gezahlt, der natürlich auch weit unter dem Marktpreis gelegen hätte.
Das war rundum und vollständig unakzeptabel. Ebenso lächerlich war aber, wie sorglos und lässig wir in unseren Seminaren mit astronomischen Summen hantierten und den vergleichsweise geringfügigen Bedürfnissen der armen Arbeiter nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkten. Bei ihnen ging es um Alltagsprobleme, die häufig genug aber über Leben und Tod entscheiden – und doch standen dabei immer nur ganz kleine Summen zur Debatte.
Ich habe mich dann entschlossen, den Dorfbewohnern das nötige Geld aus meiner eigenen Tasche vorzuschießen, wobei mir jedoch klar war, daß ich schnell eine andere Lösung finden mußte. Ich habe mich bei Banken erkundigt, aber eine nach der anderen gab die Antwort, daß Arme keine ausreichende finanzielle Sicherheit bieten würden. Ich konnte mit ihnen diskutieren und ihnen entgegenhalten, sie könnten das doch gar nicht wissen, wo sie ihnen doch noch nie Geld geliehen hätten. Aber das machte auf sie keinen Eindruck. Es blieb nur die Möglichkeit, mich als Bürge für die aufgenommenen Kredite zur Verfügung zu stellen.
So geschah es, und ab 1976 haben die Armen aus Jobra ihre Darlehen ohne Probleme zurückgezahlt. Das war für das Projekt natürlich eine große Ermutigung. Trotzdem hatten die Banken nach wie vor Bedenken: Wenn wir unsere Operation ausweiten wollten, würde es garantiert schiefgehen. Wir haben es dennoch in fünf Dörfern versucht. Und es ist nicht schiefgegangen. Dann haben die Banken erneut behauptet, wir würden Schiffbruch erleiden, wenn wir unsere Aktivitäten in der nächsten Dimension, auf der Ebene der Distrikte, fortzusetzen gedächten. Wir haben es dennoch getan, und auch da war es wieder ein Erfolg.
Unsere Methode fand immer weitere Verbreitung, aber die Banken waren von ihrer ablehnenden Haltung einfach nicht abzubringen. Weil wir sie und ihre Vorurteile gegenüber den Ärmsten der Armen nicht verändern konnten, blieb uns nur noch eine Möglichkeit: Wir mußten eine Bank gründen, die speziell für die Armen da sein sollte. So entstand 1983 die Grameen-Bank (von gram, was auf bengali „Dorf“ bedeutet).
Heute arbeitet die Grameen-Bank in 37000 Orten Bangladeschs, also in mehr als 50 Prozent der Dörfer des Landes. Von den 2,1 Millionen Kreditnehmern sind 94 Prozent Frauen. Denn statt dem Familienvorstand (also meistens einem Mann) das Geld zu leihen, haben wir uns auf die Frauen konzentriert.
In Bangladesch arm zu sein, ist in jedem Falle hart, aber besonders hart ist es für Frauen. Wenn jedoch die verheirateten Frauen eine noch so winzige Möglichkeit sehen, der Armut zu entrinnen, dann zeigt sich, daß sie sich dafür mehr einsetzen als die Männer. Die Erfahrung lehrt uns, daß eine Veränderung schneller eintritt, wenn man das Geld einer Frau gibt und nicht einem Mann.
Es ging also nicht nur darum, ihnen den Platz zu geben, der ihnen zustand, sondern auch sie als diejenigen zu entdecken, die sich für die Entwicklung besonders engagieren. Und tatsächlich wurden die Frauen unsere wirksamste Waffe im Kampf gegen die Armut.
Die Grameen-Bank war sofort erfolgreich. Im März 1995 belief sich die Kreditsumme insgesamt auf etwa eine Milliarde Dollar. Zwei Jahre später hatte sie sich verdoppelt. Es werden verschiedene Arten von Krediten (mit einer durchschnittlichen Höhe von 160 Dollar) vergeben, um Arbeitsplätze zu schaffen. Oft geschieht dies im Bereich der Dienstleistungen, wie zum Beispiel dem Kauf von Wohnungen oder der Vermietung von Geräten oder sogar von Tieren. Unsere Rückzahlungsquote war immer sehr hoch (gegenwärtig liegt sie bei über 97 Prozent), und das haben die Menschen bei diesem Abenteuer im allgemeinen am wenigsten erwartet. Besitzer der Bank sind die Kreditnehmer – also mehrheitlich die Frauen – selbst.
Auch wenn das Kleinstkredit-System in Bangladesch erfolgreich war, so muß das anderswo nicht unbedingt der Fall sein. Gleich nach den ersten Erfolgen war dies auch das Argument unserer Gegner. Es war völlig klar, daß die Grameen-Bank gegen den Strom der überlieferten Bräuche einer patriarchalen Gesellschaft schwimmen würde, wenn sie in einem islamischen Staat wie Bangladesch Geld an Frauen verleihen würde. Viele dieser Frauen hatten noch niemals in ihrem Leben Bargeld in der Hand gehabt. Dank der bewilligten Kredite konnten sie nicht nur ihre Talente entdecken, sondern auch ihre Familien davon profitieren lassen.
Diese Fähigkeit, den herrschenden Traditionen die Stirn zu bieten, hat uns geholfen, den Kleinstkredit in der ganzen Welt zu verbreiten. In jedem Land passen wir unser Programm an die örtlichen Gegebenheiten an.
In den Vereinigten Staaten, zum Beispiel in den Ghettos von Chicago, half der Kleinstkredit den Armen, die seit drei Generationen von staatlicher Unterstützung lebten, diesem System der Abhängigkeit zu entkommen und ihr eigenes kleines Geschäft aufzumachen. In der norwegischen Polarkreisregion wird der Kleinstkredit eingesetzt, um den Bevölkerungsrückgang auf den Lofoten einzudämmen. Mit seiner Hilfe kann man Arbeitsplätze schaffen und damit die Abwanderung vieler Frauen in die südnorwegischen Städte verhindern. In den Sioux- und Navajo-Reservaten Nordamerikas hilft der Kleinstkredit indirekt, die allgegenwärtige Plage des Alkoholismus zu bekämpfen.
Inzwischen gibt es in 58 Ländern Kleinstkredit-Programme. Manchmal wird behauptet, diese Kleinstkredite würden nichts oder nur sehr wenig zur wirtschaftlichen Entwicklung der jeweiligen Länder beitragen. Aber was heißt „wirtschaftliche Entwicklung“? Geht es dabei um das Pro-Kopf-Einkommen? Oder um den Pro-Kopf-Konsum? Diese Kategorien sagen nicht viel aus. Das wesentliche Moment der Entwicklung ist die Verbesserung der Lebensqualität für die Ärmsten, oder sie sollte es jedenfalls sein. Und diese Lebensqualität kann sich nicht auf die Palette der für bestimmte Schichten angebotenen Konsumgüter beschränken, sie muß vielmehr für jeden die angemessenen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung einschließen.
Die Armut kann beseitigt werden
MEHRERE unabhängige Untersuchungen haben bewiesen, daß ein Drittel der Haushalte, die Kredite der Grameen-Bank in Anspruch nahmen, die Armutsschwelle überwinden konnten und daß ein weiteres Drittel dieser Schwelle sehr nahe gekommen ist. 20 Millionen Bewohner von Bangladesch, das sind 15 Prozent der Gesamtbevölkerung, sind gegenwärtig Nutznießer des Kleinstkredit-Systems. Gestützt auf diese Resultate lautet unsere Botschaft auch weiterhin: Die Armut kann beseitigt werden, und zwar überall und unverzüglich. Das Ganze ist nur eine Frage des politischen Willens. Man wird die Armut nur dann beseitigen können, wenn man den Ärmsten der Armen die Mittel an die Hand gibt, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nicht die Arbeit als solche kann die Armut beseitigen, sondern das Kapital, das eine Frucht dieser Arbeit ist.
Unsere Erfahrungen haben uns geholfen, etwas ganz Wesentliches zu begreifen: Schon mit einer bescheidenen finanziellen Hilfe können auch die Armen aus den Industrieländern ihre Lebensbedingungen beträchtlich verbessern. Oft reichen 300 bis 500 Dollar aus, um die Werkzeuge oder das Material zu kaufen, die man benötigt, um ein eigenes Geschäft zu gründen. Man braucht keine besondere Ausbildung, um von solchen Kleinstkrediten zu profitieren: Die Erfahrungen, die man in der Vergangenheit in einem Beruf oder bei irgendeiner häuslichen Tätigkeit gemacht hat, reichen im allgemeinen aus, um ein kleines Unternehmen zu gründen. Es fehlt lediglich das nötige Kapital.
Warum soll man Gelder vergeben, ohne vorab zu versuchen, eine Ausbildung zu vermitteln? Weil jeder Mensch von Anfang an über eigene Fähigkeiten verfügt, die man als „Überlebensfähigkeiten“ bezeichnen könnte. Wenn man ihm Geld leiht, kann jeder Mensch diese Fähigkeiten sofort produktiv einsetzen. Natürlich hat jede individuelle Initiative ihre Grenzen. Aber in vielen Fällen stellt sie die einzige Lösungsperspektive dar, um das Schicksal der Menschen zu verändern, die von unserem Wirtschaftssystem strukturell ausgegrenzt werden.
Die Armut wird nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden: Dazu braucht es viel Zeit, harte Arbeit und einen starken Willen. Unserer Erfahrung nach braucht ein Mensch, der keinen festen Wohnsitz hat und weder des Lesens noch des Schreibens mächtig ist, fünf bis acht Jahre, um sich mit Hilfe eines Kleinstkredits über die Armutsschwelle hinwegzuheben.
Armut ist wie gesagt nur zu oft die Folge davon, daß die Arbeiter nicht von den Früchten ihrer Arbeit profitieren können, weil sie keinerlei Kontrolle über das Kapital haben. In der Realität stehen die Armen im Dienste derjenigen, die über das Kapital verfügen. Das liegt nicht nur an der Tatsache, daß sie kein Kapital erben, sie können zudem auch nichts Eigenes unternehmen, solange man ihnen den Kredit verweigert. Im Laufe der Jahre hat sich wie von selbst die Vorstellung durchgesetzt, daß man den Armen in Geldangelegenheiten kein Vertrauen schenken kann. Aber hat man sich jemals die umgekehrte und viel grundsätzlichere Frage gestellt, ob nämlich die Banken – unter humanistischen Gesichtspunkten – vertrauenswürdige Institutionen sind?
Die Sozialhilfe, die in vielen Industrieländern vom Staat verteilt wird, ermöglicht den Ärmsten der Armen das Überleben, aber sie kann die Armut nicht beseitigen. Leben heißt nicht nur essen und schlafen. Staatliche oder individuelle Wohlfahrtsprogramme bergen automatisch die Gefahr in sich, daß sie die Armut zu einem Dauerzustand machen, indem sie das Gewissen der Reichen erleichtern und den Armen den Mut zu jeder Initiative nehmen. Wir sind unsere Verantwortung los und sehen nicht, daß die ursprünglich löblichsten Absichten zu Ineffizienz und Korruption führen.
Aber gute Worte reichen nun einmal nicht: Wir brauchen tatsächliche strukturelle Veränderungen, damit die Armen die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu den Märkten haben wie die Reichen. Die Kleinstkreditnehmer können sich organisieren, um gemeinsam ein großes Unternehmen zu etablieren.
Grameen Phone zum Beispiel ist ein landesweit operierendes Mobiltelefonunternehmen. Bis zum Jahr 2003 wird es etwa eine Million Kunden in den städtischen und ländlichen Regionen von Bangladesch haben. Die Frauen, die einen Kredit bei der Grameen-Bank aufnehmen, werden zur „Telefonzelle“ ihres Dorfes. Oft haben sie weder Telefon noch Elektrizität gekannt, aber jetzt verfügen sie über ein Mobiltelefon, das sie an die übrigen Dorfbewohner vermieten, womit sie sich ein bißchen Geld verdienen. Diese Frauen werden nach einiger Zeit Eigentümer von Grameen Phone: Sie kaufen Anteile des Unternehmens, wie sie es zuvor mit der Grameen-Bank gemacht haben. Dieses Unternehmen wird in seinem Bereich das einzige auf der Welt sein, bei dem Frauen aus den ärmsten Schichten die Aktionäre stellen.
In den Dörfern von Bangladesch, die nicht an das Stromversorgungsnetz des Landes angeschlossen sind, installiert Grameen Systeme mit erneuerbaren Energiequellen (wie zum Beispiel Sonnenenergie), die Telefon, Beleuchtung und Computer mit Strom versorgen können. Grameen Cybernet bietet Internet-Dienstleistungen an. Das Ziel besteht darin, den Menschen zu ermöglichen, zur Arbeit in ihrem eigenen, womöglich abgelegenen Dorf zu bleiben. Sie müssen also nicht in die Städte drängen, damit sich ihre Hoffnung auf Arbeit erfüllt.
Eine Welt, in der die Armut nur noch im Museum zu finden wäre, ist ein realisierbares Ziel. Materielle Not sollte eigentlich der Geschichte angehören. Wenn irgendwann in der Zukunft ganze Busladungen von Schülern die Abteilung „Armut“ im Menschenkundlichen Museum besichtigen werden, dann werden sie mit Entsetzen sehen, welche Dimension von Armut und welch unwürdige Zustände wir so lange toleriert haben. Sollten die Gechicke des Menschen bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts noch keine Wende genommen haben, werden unsere Kinder uns das niemals verzeihen.
dt. Christian Voigt
* Gründer und Präsident der Grameen-Bank; Verfasser von „Vers un monde sans pauvreté“ (Zus. mit Alan Jolis, Jean-Claude Lattès) Paris 1997.