13.02.1998

Arm und ausgegrenzt

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Arm und ausgegrenzt

Von IGNACIO RAMONET

AUCH in diesem Winter kamen die Mächtigen der Welt wieder in Davos zusammen, wo sich alljährlich die Spitzenvertreter aus Finanz, Wirtschaft und Politik mit führenden Vertretern der OECD, des IWF, der Weltbank und der WTO zum „Weltwirtschaftsforum“ treffen.

Im wesentlichen gingen die Diskussionen in Davos um Ausmaß und Schärfe der Asienkrise, die auch die Mächtigen der Welt (Japan, USA und Europäische Union) nicht verschont hat. Aufgrund der massiven Abwertung der Währungen wichtiger asiatischer Länder werden deren Produkte auf dem europäischen Markt konkurrenzfähiger, während die Nachfragekonjunktur der Länder Südostasiens einen deutlichen Einbruch erlitten hat.

Alle Experten rechnen mit einem Rückgang der französischen Exporte in diese Region, insbesondere in den Bereichen Luftfahrt, Luxusgüter und öffentliche Unternehmen. Bereits jetzt sind etliche Bestellungen storniert worden. So hat die staatliche indonesische Fluggesellschaft Garuda den Kauf von drei Airbus-Maschinen rückgängig gemacht, das Projekt der Hochgeschwindigkeitsbahn in Süd-Korea ist vorläufig ausgesetzt, und das Unternehmen Daewoo hat ein 4-Milliarden-Franc- Projekt in Lothringen vertagt, das 1700 neue Arbeitsplätze schaffen sollte. Mit dem Rückgang der Exporte nach Südostasien geht ein Zuwachs der Importe aus dieser Region einher: In 1998 wird der Zuwachs des französischen Bruttoinlandsprodukts um mindestens 0,5 Prozent sinken. Dazu kommen die Folgen der erwarteten Abwertung des japanischen Yen und des amerikanischen Dollar. Die Wachstumsrate für 1998, die vor der Katastrophe in Südostasien auf 3 Prozent veranschlagt wurde, wird wahrscheinlich um 2 Prozent liegen. Konkret bedeutet das: Wenn sich nichts ändert, wird die Wirtschaft keine Arbeitsplätze schaffen, sondern weiterhin massiv Arbeitsplätze abbauen.

Eine ultraorthodoxe Wirschaftspolitik, wie sie durch die Beitrittsbestimmungen zum „Euro“ erzwungen wird, erweist sich als völlig ungeeignet, auch wenn Lionel Jospin sich unmittelbar nach seiner Wahl dazu bekehrt hat. Was wir benötigen, ist eine andere Politik, eine sozialere und phantasievollere Politik. Die derzeitige Revolte der Arbeitslosen, die an die Bewegung vom Dezember 1995 und die Wut anderer von der Gesellschaft ausgeschlossener Gruppen (der Obdachlosen und der illegal im Lande lebenden) anknüpft, zeigt das Ausmaß der Verzweiflung in diesem Land, in dem die Armut ständig zunimmt. Mit sechs Millionen Menschen, die auf Sozialhilfeniveau leben, drei Millionen Arbeitslosen und fast drei Millionen Arbeitnehmern mit einem Monatseinkommen von weniger als 5000 Franc leiden insgesamt mehr als zehn Millionen Einwohner unter den Folgen der Unsicherheit und Abwertung der Arbeit.

Arbeitslose, Teilzeitarbeiter, Arme und alle anderen marginalisierten Gruppen werden von Jospin vertröstet – auf die bevorstehende Verabschiedung des (überfälligen) Gesetzes zur Reduzierung der Arbeitswoche auf 35 Stunden und auf die erwarteten Erfolge seiner makroökonomischen Politik. Dabei ist letztere einzig und allein an einer Erfüllung der Maastricht- Kriterien orientiert.

Stützung des Franc, Senkung des Haushaltsdefizits auf die schicksalhaften 3 Prozent und Kampf gegen die Inflation bleiben – wie schon zu Zeiten von Balladur und Juppé – die wahren Prioritäten auch dieser „Regierung der pluralistischen Linken“. Prioritäten wie diese haben in den letzten zwanzig Jahren innerhalb der Europäischen Union tiefe Gräben der Ungleichheit aufgetan, die Arbeitslosigkeit verschlimmert und 57 Millionen Menschen in die Armut gestürzt.

KEIN Wunder, daß die Menschen, die in dieser sozialen Katastrophe im Stich gelassen werden, gegen die Verhältnisse revoltieren. Zumal die meisten Unternehmen 1997 beträchtliche Gewinne gemacht haben; allein die französischen Exportunternehmen haben 160 Milliarden Franc Profit zu verbuchen, und die Aktienkurse an der Börse von Paris sind um 29,5 Prozent gestiegen.

Seit 1974 wird die Welt immer reicher. Gleichzeitig nimmt die Anzahl der Menschen, die in äußerster Armut leben, explosionsartig zu. Die Warenproduktion ist um 70 Prozent gestiegen, doch die Zahl der Arbeitslosen hat sich versiebenfacht. Der Anteil der Lohnarbeit am Mehrwert der Unternehmen ging unterdessen stetig zurück (seit 1980 um 9 Punkte), und nur eine kleine privilegierte Schicht erwies sich als Nutznießer des technischen Fortschritts. Die Arbeiter hatten das Nachsehen, und so verschärfte sich das Ungleichgewicht: 5 Prozent der Franzosen (die Reichsten) sind im Besitz von 40 Prozent des Gesamtvermögens des Landes, während 50 Prozent der Bevölkerung (die Ärmsten) nur über knapp 8 Prozent verfügen.

Offensichtlich wird nach wie vor Reichtum geschaffen, doch was fehlt, ist eine gerechte Verteilung. Es geht im Grunde nicht um ein Wirtschaftsproblem, sondern um eine Frage des politischen Gestaltungswillens und unseres Demokratieverständnisses. Indem Jospin just zum Zeitpunkt des schlimmsten sozialen Debakels die Währungspolitik und den Staatshaushalt auf dem Euro-Altar opfert, bringt er die Regierungsgeschäfte auf das Niveau schlichter Verwaltungstätigkeit herunter. So hindert er sich selbst daran, sich gegenüber seinen Partnern für eine zielgerichtete Politik neuer Projekte auf europäischer Ebene stark zu machen und für massive Arbeitszeitverkürzung, regional orientierte Arbeitsbeschaffungspolitik sowie eine spürbare Erhöhung des Mindesteinkommens einzutreten (letzeres wäre nicht nur gerecht, sondern würde außerdem noch die Nachfrage ankurbeln).

Kurz gesagt: Es geht heute darum, Mut, politisches Durchsetzungsvermögen und Menschlichkeit unter Beweis zu stellen. Denn wer möchte bestreiten, daß angesichts des verbreiteten gesellschaftlichen Elends nur das gerecht sein kann, was zugleich menschlich ist?

Le Monde diplomatique vom 13.02.1998, von IGNACIO RAMONET