13.02.1998

Süd-Korea auf dem Rückweg in die Dritte Welt

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Süd-Korea auf dem Rückweg in die Dritte Welt

Von JEAN-FRANÇOIS ARNAUD *

UND dafür haben wir uns abgerackert?“ Der einundsiebzigjährige Cho Sang Jac trauert um sein Land. Er erzählt von der bewegten Geschichte Koreas seit dem Abzug der Japaner 1945. Von all dem Blut und den Tränen, den Revolutionen und Putschen, den politischen Morden und Bürgerkriegen, von politischem Terror und Katastrophen. Aber das Schlimmste war für ihn der finanzielle Zusammenbruch im vergangenen Dezember, der Hilferuf an den IWF und an die internationalen Banken, und seitdem die Krise, die Pleiten und die Entlassungen. „Wir, die Männer und Frauen meiner Generation, haben in den sechziger und siebziger Jahren hart gearbeitet, damit unsere Kinder ein wohlhabendes Land übernehmen, und jetzt ist alles in Frage gestellt. Ich mache mir Sorgen, aber vor allem fühle ich mich gedemütigt.“

Der Sturm auf den Finanzmärkten ist noch nicht vorüber, und die Menschen stehen noch unter Schock. Genauso wie 1994, als in Seoul das Großkaufhaus Sampong wie ein Kartenhaus einstürzte und 500 Menschen unter sich begrub, was eine gewaltige Vertrauenskrise zur Folge hatte. Durch das dramatische Ereignis sah sich das Land, dessen Baufirmen innerhalb und außerhalb Süd-Koreas so viele Gebäude hochgezogen hatten, in den Rang eines Entwicklungslandes zurückgestuft.

Und jetzt das ganze noch mal: Obwohl Süd-Korea der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und damit dem Club der reichen Länder angehört, obwohl sein BIP pro Kopf bei etwa 10000 Dollar liegt und das Land die Nummer eins der Welt bei der Halbleiterproduktion und im Schiffbau ist, wurde es als elftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt zusammen mit Indonesien von einem Sturm verwüstet, dem Japan derzeit noch widersteht.

„Der IWF wird uns auf eine Stufe mit Somalia stellen“, prophezeite ein Student der angesehenen National-Universität in Seoul bei einer spontanen Diskussion im Dezember 1997. Zur gleichen Zeit hat Michel Camdessus, der Generaldirektor des IWF, mit viel Realismus, aber wenig Rücksicht auf demokratische Gepflogenheiten von den Kandidaten für das Präsidentenamt gefordert, sich schriftlich auf die Einhaltung des IWF-Plans zur Rettung Süd-Koreas zu verpflichten. Zwei der drei aussichtsreichsten Kandidaten haben dies widerspruchslos getan, nur der widerspenstige Kim Dae Jung hat protestiert. In den dreißig Jahren seines politischen Lebens wurde er von den Militärs eingeschüchtert, ins Exil getrieben und zum Tode verurteilt, Kim Dae Jung aber hat sich ihnen nie gebeugt. Es waren die Finanzmärkte, die ihn schließlich überzeugten: Zwei Tage lang hatte der Favorit für die Präsidentschaftswahlen die Zwänge des IWF angeprangert, was dann um den 15. Dezember herum zu einer zweiten Finanzkrise führte. Daraufhin änderte er innerhalb weniger Stunden seine Taktik, fügte sich dem Diktat und gelobte Gehorsam.

Abends sind die Straßen von Seoul wie leergefegt. Die eisige Kälte und vor allem die Krise haben es geschafft, diese lebendige und farbenfrohe Stadt zu lähmen. „Es gibt keine Staus mehr, und die Taxifahrer sind richtig hilfsbereit“, nimmt Cho Kyung Shil die Sache mit Humor: Als Berufstätige in Seoul war sie es gewohnt, stundenlang im Stau zu stehen. Die Bevölkerung beginnt die Auswirkungen der Dezemberkrise mit ganzer Härte zu spüren. Kim Dae Jung hat die Präsidentschaftswahlen letztendlich gewonnen, aber jetzt hat er keinen Spielraum. Er steht vor der Alternative „Sparen oder Bankrott“. Tag für Tag muß das Gericht in Seoul in Hunderten von Fällen über die juristische Möglichkeit von privaten Konkursen informieren – eine Einrichtung, die es Privatpersonen erlaubt, sich an die Gerichte zu wenden, wenn sie ihre Verbindlichkeiten nicht mehr zurückzahlen können.

Seit dem ersten Januar sind einige Preise um 20 bis 100 Prozent gestiegen; zugleich sind Löhne und Gehälter gesunken, und sämtliche Unternehmen kündigen Entlassungen an. Der Preis für den ermäßigten Busfahrschein ist von 430 auf 500 Won gestiegen, das Kilo Weizenmehl ist um 50, Zucker um 40 und Milch um 20 Prozent teurer geworden. Aber noch stärker sind wegen der Abwertung des Won die Preise für Importprodukte gestiegen: Auf dem Markt von Namdaemun im Zentrum von Seoul kostete eine Büchse Mais am 25. Dezember 800 und am 3. Januar 1800 Won.

„Das neue Mondjahr trägt die Farben der Verzweiflung“ heißt es in einem Leitartikel der Korea Times. Am ersten Tag des asiatischen Kalenderjahres werden die Koreaner wie jedes Jahr ihre Eltern und Großeltern ehren. „Dieses Jahr habe ich meine Kinder gebeten, keine Geschenke mitzubringen. Unsere Feier wird nicht so fröhlich sein wie sonst“, erklärt Cho Sang Jac. Shinsegae, Lotte und Midopa, die großen Kaufhäuser in der Innenstadt von Seoul, verzeichnen gegenüber dem Vorjahr Umsatzeinbußen zwischen 10 und 30 Prozent. Im Geschäftsviertel von Myongdang im Zentrum von Seoul fordern Mitglieder von Bürgerinitiativen die Passanten auf: „Kauft Produkte aus unserem Land!“

Die Stimmung bei den ausländischen Unternehmen ist schlecht: „Unsere Umsätze sind um 20 Prozent zurückgegangen“, meint Martin Guillou, der Chef der Niederlassung von L'Oréal in Süd-Korea. „In bestimmten Vierteln stehen die Bürgerinitiativen den ganzen Tag vor den Parfümerien. Für die Händler gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ziehen sie die nichtkoreanischen Kosmetika zurück, oder sie verstecken sie ganz hinten in ihrem Geschäft.“ Einige koreanische Marken mit französischem oder englischem Namen – wie die Kosmetika von La Neige – sitzen in der Boykott-Falle. Damit man sie nicht für ausländische Produkte hält, tragen sie die Aufschrift „100 Prozent koreanisches Produkt“.

Der koreanische Sportschuhhersteller Pro-Specs hatte einen amerikanischen Namen, weil er in der Liga von Nike und Reebok mitspielen wollte. Letzten Monat hat man aus strategischen Gründen die Taktik geändert: Pro-Specs hat eine Werbekampagne gestartet – „Tragen Sie keine Dollar-Schuhe!“ –, um potentielle Kunden zu beruhigen und ihnen zu versichern, daß sie es mit einem koreanischen Unternehmen zu tun haben.

Die Händler von ausländischen Autos hatten bereits unter der Wirtschaftskrise zu leiden, aber der Boykott gibt ihnen den Rest. Ihre Bilanz: Ford Korea hat im Dezember ganze 50 Autos verkauft und sein Jahresziel nur zu 50 Prozent erreicht. Bei Chrysler sind die Verkäufe gegenüber 1996 um 25 Prozent zurückgegangen.

Ein Süd-Koreaner, der seinen Urlaub im Ausland verbringt, gilt fast als ein Verräter. Auch hier versuchen die Bürgerverbände, die Menschen aufzustören und ihre Schuldgefühle zu wecken. Das Ergebnis sind leere Flugzeuge nach Australien, Europa und den Vereinigten Staaten. Im Stadtviertel Chongno werden die Air- France-Tickets nach Paris für den halben Preis verschleudert. Das Land schottet sich wieder hermetisch ab, die Süd-Koreaner ziehen sich auf sich selbst zurück. In den Gesprächen wird der IWF, der dem Land etwa 60 Milliarden Dollar geliehen hat, für alle Übel verantwortlich gemacht.

Ehering und goldener Schlüssel als Retter der Nation

IM ganzen Land beginnen die importierten Rohstoffe knapp zu werden. Die Raffinerien haben Erdölvorräte nur noch für dreißig Tage und die Autohersteller nicht mehr genügend Einzelteile. Hyundai und Kia mußten deswegen schon ihre Fließbänder anhalten. Weitaus schlimmer ist aber, daß den Krankenhäusern allmählich auch die medizinischen Materialien ausgehen. „Wir zehren von unseren Reserven“, erklärt Professor Yoon Jung Koo, Mikrobiologe am Aju-Hospital in Suwon, das zum Daewoo-Konzern gehört. „Wir müssen bestimmte Forschungsarbeiten aufschieben und Reagenzgläser mehrfach benutzen“, erklärt der renommierte Wissenschaftler, der früher am Pariser Institut Pasteur geforscht hat. „Das Pflegepersonal ist sehr besorgt, denn in einigen Wochen werden wir keine Spritzen und keine Handschuhe mehr haben. Die US-amerikanischen Laboratorien wollen uns nicht mehr beliefern, weil sie fürchten, daß wir nicht mehr zahlen können.“

Allenthalben wird wieder zu gemeinsamen Anstrengungen und zu einer allgemeinen Mobilisierung aufgerufen. Auf Initiative mehrerer großer Unternehmen und Fernsehsender wurden die Einwohner aufgefordert, ihren Schmuck und sonstiges Gold bei den Banken abzuliefern, um auf diese Weise dem Land über die Devisenknappheit hinwegzuhelfen. Das Gold wird eingeschmolzen und im Ausland verkauft. Die Kampagne hatte einen durchschlagenden Erfolg: Schon jetzt sollen 50 Tonnen Gold zusammengekommen sein. Das ganze Unternehmen wird von den Fernsehsendern mit großem Trara übertragen: Ein regelrechter „Tele-Marathon“, live aus den verschiedensten Provinzstädten, um das Land aus der Gefahr zu retten.

„Und Sie, Großmutter, was bringen Sie uns?“ Die gebeugte alte Dame übergibt dem Moderator einen Ehering und einen Schlüssel aus Gold und erklärt ihm, daß diese Gegenstände für sie sehr wertvoll sind. Den „Glücksschlüssel“ habe sie vor sechzig Jahren zu ihrer Hochzeit bekommen. „Geben Sie alles dem Herrn dort, er wird Ihnen eine Quittung dafür geben.“ Diesen Schein hält die alte Frau voller Stolz in die Kamera. Ihre Familienreliquien sind nur noch einige Gramm Metall, die man ihr einige Monate später in Won zurückzahlen wird. Schon immer waren die Koreaner in Gold vernarrt. Gold schenkt man zum ersten Geburtstag eines Kindes, zur Hochzeit, zum Studienbeginn und zur Pensionierung. Und für alle, die sich vor einem nordkoreanischen Angriff fürchten, war Gold schon immer eine sichere Rücklage.

Die Presse in Seoul schätzt die privaten Goldreserven auf etwa 20 Milliarden Dollar, das entspricht einem Drittel des IWF- Kredits. In dieser schwierigen Zeit versucht der neue Präsident Kim Dae Jung gegen den Strom zu schwimmen: „Denkt nicht nationalistisch, denn wir brauchen die ausländischen Investitionen in unserem Land, um es von seinen riesigen Schulden zu befreien, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Wirtschaft wieder anzukurbeln.“ Aber ist das eine angemessene Antwort auf die Ängste, die die wirtschaftliche und moralische Krise hervorbringt? Eine Antwort auf kursierende Komplottgerüchte, eine Antwort für Menschen, die sich belagert fühlen?

dt. Christian Voigt

* Journalist, Seoul.

Le Monde diplomatique vom 13.02.1998, von JEAN-FRANÇOIS ARNAUD