Der öffentliche Raum im Fadenkreuz der Kameras
AUF Straßen und Bahnhöfen, in Kaufhäusern, Einkaufszentren und Parkhäusern werden immer mehr Videokameras installiert. Noch die kleinste Bewegung kann inzwischen aus der Distanz auf dem Bildschirm beobachtet werden. In Frankreich soll es insgesamt mehr als eine Million Videoüberwachungsanlagen geben, an öffentlichen Orten fast 150000. Durch die Verbreitungsmöglichkeit im Internet eröffnen diese und andere, in Privaträumen installierte Kameras die erschreckende Aussicht, alles sehen und alles überwachen zu können (siehe den Artikel von Paul Virilio). Was wird angesichts dieser beispiellosen sozialen Kontrollmöglichkeiten aus den individuellen Freiheiten und Persönlichkeitsrechten?
Von ANDRÉ VITALIS *
Die ersten Videoüberwachungssysteme wurden Anfang der siebziger Jahre zur Unterstützung der Verkehrsregelung und zum Schutz gegen Banküberfälle und gegen Diebstähle in Geschäften des gehobenen Bedarfs installiert. Im Laufe der achtziger Jahre wurde sie vermehrt im Bereich der öffentlichen Verkehrsmittel eingesetzt, in Geschäften, an Arbeitsstätten, in Freizeiteinrichtungen und im Eingangsbereich von öffentlichen Gebäuden. Ein weiterer Schritt zur Normalisierung des Einsatzes dieser Technologie war getan, als Anfang der neunziger Jahre auch an öffentlichen Plätzen, in Fußballstadien und auf den Straßen mancher Städte Kameras installiert wurden.
Diese neue Art der Überwachung erregte von Anfang an Mißtrauen. Ende der achtziger Jahre schlug die französische Datenschutzkommission CNIL erste Schutzbestimmungen vor. Doch die Bevölkerung akzeptierte die Technologie, denn sie sah darin ein Mittel zur Verbrechensbekämpfung. Eine Umfrage von 1996 zeigt allerdings, daß die soziale Akzeptanz je nach Anwendungsbereich erheblich schwankt. Nur 9 Prozent der Befragten betrachten die Installation von Kameras in Parkhäusern und Geschäften als Verletzung ihrer Privatsphäre; dagegen sind 51 Prozent der Ansicht, daß es eine „schwere Verletzung“ darstellt, wenn ein in der Öffentlichkeit von ihnen aufgenommenes Bild ohne ihr Wissen verbreitet wird.
Die Kameras werden ständig leistungsstärker. Manche können ein Blickfeld von 360 Grad überwachen; andere sind mit Zoom-Objektiven ausgestattet, die erkennen können, welchen Preis die Kassiererin eingibt oder welches Kennzeichen ein bis zu 300 Meter entferntes Auto hat; und wieder andere, die sogenannten „intelligenten“, verfügen über Detektoren, die bei Zwischenfällen Alarm auslösen. Die Übertragung dieser Bilder über die allgemeinen Telefonnetze eröffnet die Möglichkeit, alles zu sehen und zu hören, was sich irgendwo auf der Welt ereignet.
Der Zweck der Videoüberwachung ist geeignet, ihr eine starke Legitimität zu verschaffen. Sicherheit ist in der Tat eines der wichtigsten Menschenrechte. Nun hat die Zahl der Übergriffe auf Sachgüter und Personen in Europa stark zugenommen, wenngleich Mord weiterhin selten bleibt. In Frankreich zum Beispiel ist die Zahl der Raubüberfälle zwischen 1963 und 1991 um das dreiundzwanzigfache gestiegen, während sich die Zahl der Einbruchsdelikte verachtfacht hat. Konnte die Polizei 1950 noch die Hälfte aller Diebstähle aufklären, so waren es 1993 nur noch 12,5 Prozent.
Aus diesem Grund entstand in den siebziger Jahren das Bedürfnis nach Sicherheitsvorkehrungen im Nahbereich, das die traditionelle Polizei offenbar nicht befriedigen konnte. So suchte man anderweitig nach Lösungen und griff zunehmend auf private oder kommunale Sicherheitsdienste und moderne Technologien wie die Videoüberwachung zurück.
Wie die Zahlen zeigen, hat sich die Sicherheitslage durch Videosysteme zum Teil verbessert. Da bereits 90 Prozent der Bankfilialen mit Kameras ausgerüstet sind, kann die Hälfte aller Bankräuber identifiziert und innerhalb von höchstens zwei Jahren nach dem Überfall festgenommen werden. In der Pariser U-Bahn werden mit Hilfe des Videosystems 83 Prozent der Zwischenfälle aufgespürt, während die Zahl der Personenüberprüfungen um 36 Prozent gestiegen ist. Auch Kaufhausdirektoren bestätigen, daß das Mausen dank der neuen Technik um zwei Drittel nachgelassen hat. Mitunter führt die Techno-Sicherheit jedoch nur zur Verlagerung der Kriminalität: Die Straftäter gehen ihren Aktivitäten dort nach, wo es keine Kameras gibt. So liegt die Kriminalitätsrate in Monaco, das mit einem Kontrollnetz von mehr als sechzig Zoom-Kameras überzogen ist, bei nur 44 Verbrechen und Vergehen pro 1000 Einwohner, während sie im benachbarten Departement Alpes-Maritimes auf 130 pro 1000 gestiegen ist (der Landesdurchschnitt liegt bei 90 pro 1000).
Nicht immer zeitigt die Anbringung von Kameras die erwartete Wirkung. In Levallois-Perret, einem Vorort von Paris, der mit seinen 86 Straßenüberwachungskameras an der Spitze der französischen Städte liegt, hat die Kriminalität 1996 weiter zugenommen, mit einem starken Anstieg von Diebstählen.
Einmal installiert, kann eine Videoüberwachungsanlage jederzeit zweckentfremdet werden. Das spektakulärste Beispiel in dieser Hinsicht war die politische Kontrolle der Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz in Peking im Juni 1989, als mehrere Demonstranten offensichtlich mit Hilfe fest installierter Kameras identifiziert und verhaftet wurden.
So entdeckt man auf einmal, daß die in einem Einkaufszentrum gegen Ladendiebstahl installierten Kameras zur Überwachung des Personals eingesetzt werden. Die Anlage verwandelt sich in ein Instrument zur Kontrolle von Arbeit und Produktivität, wie die zahlreichen Kündigungsklagen zeigen, bei denen das elektronische Auge als Belastungszeuge auftritt. Darüber hinaus können Kameras auch zur Erforschung des Konsumentenverhaltens eingesetzt werden. Man kann sie zur Beobachtung eines bestimmten Kaufverhaltens verwenden. Durch die Analyse noch der geringfügigsten Umstände und Handlungen wird es möglich, die Plazierung des Warenangebots zu vervollkommnen, um den Kunden optimal durch den Laden zu schleusen.
Andererseits bietet die Videoaufzeichnung von Ladendieben auch die Möglichkeit, eine Fotodatei von Verdächtigen und Wiederholungstätern anzulegen. Derzeit wird an der Entwicklung von Software- Programmen gearbeitet, die auf einem Videoband aus einer Gruppe von Personen automatisch das gesuchte Gesicht ermitteln können.
Die Entwicklung von Überwachungs- Software ermöglicht eine gewissermaßen „objektive“ Beobachtung, die auf die Erkennung anormaler Verhaltensweisen, atypischer Bekleidung oder einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit abstellt. Im Unterschied zum Menschen zeichnet die Sehmaschine automatisch alles auf, was sich in ihrem Operationsfeld befindet. Fehlinterpretationen können hier gefährliche Folgen nach sich ziehen.
Über eine Reihe von Anlagen, die an verschiedenen öffentlichen Orten in Frankreich installiert sind, wurden Untersuchungen durchgeführt. Die Ergebnisse, die 1995 veröffentlicht wurden, legen nahe, zwei Arten der Videoüberwachung zu unterscheiden: die eine verfolgt präventive Zwecke und will die überwachte Person zum jeweils geforderten Verhalten bewegen; die andere steht im Dienst der Strafverfolgung und greift nur bei unerwünschtem Verhalten ein.
Die Präventivüberwachung ist eine Fortsetzung der alten Disziplinartechniken. Dreihundert Jahre lang konnte die Befriedung der Sitten und Verhaltensweisen vermittelt über Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin durchgesetzt werden. Norbert Elias zeigt, wie die Entstehung der höfischen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert gewalttätige Konfrontationen beseitigte und dazu beitrug, neue, auf Selbstkontrolle beruhende Verhaltensnormen auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten.
Michel Foucault führt die Fabrikation des passenden Individuums auf die seit Ende des 18. Jahrhunderts sich durchsetzenden panoptischen und disziplinartechnischen Dispositive zurück. Durch Einsperren in geschlossene Räume (Schule, Kaserne, Fabrik, Krankenhaus, Gefängnis) und eine Zeichnung des Körpers wurde das Individuum gefügig gemacht. Einmal eingesperrt, macht sich das überwachte Individuum die Zwänge der Macht zu eigen.
Seit den fünfziger Jahren haben die alten Disziplinartechniken viel von ihrer Wirksamkeit verloren. Die Moderne brachte hervor, was der Anthropologe Marc Augé „Nicht-Orte“ nennt, Flughäfen zum Beispiel oder Einkaufszentren, Orte also, an denen nur noch partielle und anonyme Identitäten zum Ausdruck kommen. In diesem Zusammenhang ist die Videoüberwachung ein Versuch, die alten panoptischen Dispositive zu modernisieren. Die allgemeine Funktion, „gesehen zu werden, ohne je selbst zu sehen“, die bislang geschlossenen Räumen vorbehalten blieb, wird nun auch auf offene Räume ausgedehnt, in denen sich die zunehmend mobilen Individuen bewegen.
Ein Bild vom gläsernen Menschen
WENN man sich von Kameras überwacht fühlt“, bemerkt Paul Virilio, „wird man, auch wenn niemand am Videopult sitzt, in seinem Verhalten konditioniert, so daß man es mit einer Art Befehl zu tun hat. Videoüberwachung ist Befehlsgewalt über Verhaltensweisen. Sie schreckt Straftäter ab, verändert gleichzeitig aber auch die Verhaltensweisen aller Menschen.“ Wichtig ist, daß der Videoüberwachte weiß, daß er überwacht wird. Erst dieses Wissen bringt die Disziplinarbeziehung hervor und veranlaßt den einzelnen, sich so zu verhalten, wie man es von ihm erwartet. Die Wirksamkeit des panoptischen Schemas ergibt sich aus der Beziehung „gesehen zu werden, ohne je selbst zu sehen“.
Deshalb ist diese Form der Techno-Sicherheit stets gut sichtbar angebracht und wird explizit durch Hinweisschilder angekündigt, der Art: „Lächeln Sie, Sie werden gefilmt.“ Manche Sicherheitsmaßnahmen versetzen den einzelnen in die doppelte Rolle des Überwachten und Überwachenden. So werden in Wohnanlagen derzeit neue Systeme getestet, die jedem Hausbewohner die Möglichkeit bieten, das Kommen und Gehen in den gemeinschaftlichen Gebäudeteilen auf ihren Fernsehbildschirmen zu verfolgen.
Die zweite Art der Videoüberwachung stellt eine neue Form der Kontrolle dar. Durch einen abstrakten, distanzierten, unpersönlichen, automatischen, bürokratischen und großenteils unsichtbaren und unverständlichen Mechanismus sammelt die Maschine Informationen und läßt die betreffenden Institutionen gegebenenfalls aktiv werden.
Die Kontrolle äußert sich hier eher als Manipulation denn als Zwang, und die Fäden werden aus der Ferne gezogen. Das überwachte Subjekt wird auf einen Informationsgegenstand reduziert. Die Transparenz des Individuums, das bereits in zahlreichen Karteien erfaßt ist und laufend elektronische Spuren hinterläßt, wird durch die Videokameras weiter erhöht, die sich ein Bild von ihm machen. Die überwachte Person weiß nichts von den Vorgängen und Manipulationen, die sich hinter ihrem Rücken vollziehen.
Aufgrund fehlender Richtlinien für den Kameraeinsatz werden die Übergriffe auf die persönlichen Freiheitsrechte immer zahlreicher. Das Sicherheitsbedürfnis kümmert sich wenig um den wesentlichen Freiheitsanspruch, sich unbeobachtet in der Öffentlichkeit bewegen zu dürfen. Ein französischer Verwaltungsrichter hob 1990 einen Stadtratsbeschluß auf, der die Einrichtung eines Videoüberwachungssystems vorsah. Der Richter war der Ansicht, daß die „allgemeine Installation und der Dauerbetrieb von Kameras eine übermäßige Beeinträchtigung der persönlichen Freiheitsrechte, insbesondere eine Verletzung der Privatsphäre und des Rechts am eigenen Bild darstellt, die weder durch eine richterliche Ermächtigung noch durch die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung oder die punktuelle Feststellung von Verletzungen der Straßenverkehrsordnung oder von Übergriffen auf Sachgüter und Personen gerechtfertigt ist“.
Da die persönlichen Freiheitsrechte in einer Demokratie als Rechtsgut gelten, muß bei einer Verletzung dieser Rechte, wie sie die Abbildung einer Person darstellt, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. An unsicheren Orten mag diese Beeinträchtigung gerechtfertigt sein, an anderen ist sie es nicht. In einem Technischen Gymnasium in Belgien etwa spürt man den Rauchern mit Kameras bis in die Toiletten nach, um sie zu verunsichern. Und in manchen Einkaufszentren werden die Umkleidekabinen mit versteckten Kameras überwacht, um den Diebstahl von Kleidungsstücken zu reduzieren. Darüber hinaus hat man festgestellt, daß sich mit manchen Kameras, die an öffentlichen Straßen oder im Eingangsbereich von Kaufhäusern installiert wurden, auch das Leben in den benachbarten Wohnhäusern filmen läßt.
Das Widerspruchsrecht gegenüber einer Maschine
ANGESICHTS dieser Bedrohung für die individuellen Freiheitsrechte hat die Datenschutzkommission CNIL eine wichtige Aufgabe wahrgenommen. Um der sich abzeichnenden Gefahr entgegenzutreten, versuchte sie, die Datenschutzkonvention des Europarats von 1981 in französisches Recht umzusetzen. Dabei bezog sie sich ausschließlich auf Systeme, die an öffentlichen oder öffentlich zugänglichen Orten installiert sind. Die am 24. Oktober 1995 verabschiedete EU- Richtlinie zum Datenschutz legt fest, daß Bild- und Tonaufnahmen ebenso als personenbezogene Daten zu behandeln sind wie schriftliche Daten.
In ihrer im Juni 1994 veröffentlichten Empfehlung sprach sich die CNIL dafür aus, die Öffentlichkeit über die installierten Systeme zu informieren, das Blickfeld der Kameras auf den zu überwachenden Raum zu beschränken, die Filmaufnahmen nach relativ kurzer Zeit zu löschen (es sei denn, es ist ein gerichtliches Verfahren anhängig), und die betroffenen Personen über ihr Recht auf Einsichtnahme zu informieren.
Manche Bestimmungen sind jedoch schwer umsetzbar. Die Ausübung des Rechts auf Einsichtnahme steht im Widerspruch zum Schutz des Bildes Dritter, wenn auf dem Bild, das die betreffende Person einsehen will, eine Menschengruppe zu sehen ist. Desgleichen scheint es unmöglich, das Widerspruchsrecht in Anspruch zu nehmen gegenüber einer Maschine, die nie um Filmerlaubnis bittet. Nach der EU-Richtlinie vom Oktober 1995 genießen alle personenbezogenen Daten den gleichen Schutz. Die Richtlinie sieht vor, daß die vorherige Information der betroffenen Personen, die Sicherheit der Daten, ihre vertrauliche Verarbeitung und die zeitliche Begrenzung ihrer Speicherung für sämtliche Arten personenbezogener Daten gilt.
In Frankreich regelt ein im Januar 1995 verabschiedetes Gesetz zur öffentlichen Sicherheit die Installation von Videoüberwachungsanlagen an öffentlichen und öffentlich zugänglichen Orten. Es beschränkt die Installation solcher Systeme auf Orte, „an denen die Gefahr von tätlichen Übergriffen und Diebstählen besonders hoch ist“. Die Installation unterliegt der Genehmigungspflicht durch den Präfekten, dem die Stellungnahme einer Departement-Kommission unter Vorsitz eines Richters vorzuliegen hat. Das Gesetz greift verschiedene klassische Prinzipien des Datenschutzes auf: die Pflicht, die Öffentlichkeit „ständig und klar“ zu informieren, die zeitliche Begrenzung der Datenspeicherung auf einen Monat (es sei denn, es ist eine gerichtliche Untersuchung anhängig) und das Recht der gefilmten Personen auf Einsichtnahme.
Wir brauchen einen Kompromiß zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten, der die Freiheitsrechte der videoüberwachten Person unbedingt wahrt.
dt. Bodo Schulze
* Professor am Centre d‘études des médias der Universität Michel de Montaigne (Bordeaux-III). Er verfaßte in Zusammenarbeit mit Eric Heilmann den Bericht „Nouvelles technologies, nouvelles régulations“, Paris (CNRS) 1996.