Henri Curiel, ein Bürger der Dritten Welt
Am 4. Mai 1978 wurde der Internationalist Henri Curiel von zwei gedungenen Mördern umgebracht. Die Tat blieb ungesühnt, die Täter blieben unbehelligt. Das Opfer aber ist unvergessen: Henri Curiel, in Ägypten geboren, war Mitbegründer der dortigen kommunistischen Bewegung, wurde 1950 durch König Faruk des Landes verwiesen, übersiedelte nach Frankreich und schuf ein Unterstützungsnetz für die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Daneben engagierte er sich als hintergründiger Mittelsmann für den Frieden zwischen Israel, den arabischen Staaten und den Palästinensern (siehe hierzu die Erinnerungen von Uri Avnery auf Seite 2). Der Vaterlandslose Gesell Henri Curiel schulte antikoloniale Aktivisten und hatte durch sein Netzwerk viele Feinde. Einer trachtete ihm nach dem Leben.
Von GILLES PERRAULT *
ER wurde als Ägypter geboren und starb als Ägypter. Es war sein Herz, das diese Entscheidung traf. Sein Geburtsort war so zufällig, daß ebenso alles hätte anders kommen können. Denn Henri Curiel kommt zwar am 13. September 1914 in Kairo zur Welt, also noch eigentlich im 19. Jahrhundert, doch seine jüdische Familie besitzt die italienische Staatsbürgerschaft, obwohl kein Mitglied der Familie auch nur ein Wort Italienisch spricht; er wächst auf in einem Land, dessen Sprache er nicht versteht und das unter englischer Besatzung ist; seine Ausbildung schließlich erfolgt bei französischen Jesuiten. Man ahnt: Kein einfaches Leben.
Die Familie wurde durch die Inquisition aus Spanien vertrieben und gelangte wahrscheinlich auf dem Umweg über Portugal und Italien letztlich im Kielwasser Napoleons nach Ägypten. Henris Großvater ist Geldverleiher. Sein Vater erweitert diesen Wirkungskreis und erlangt die Würde eines Bankiers. Die Familie lebt auf der von Reichen bewohnten Insel Zamalek in einem riesigen Haus, das teils im Stil Louis-seize, teils modern eingerichtet ist. Ihre Lebensführung vermeidet alles Großspurige, ohne gleichwohl ins Gegenteil zu verfallen; zehn Dienstboten müssen genügen. Die tägliche Mittagstafel steht Freunden offen. Sie kommen zwanglos zum Essen vorbei. Es sind ständig etwa zehn, und mit ganz wenigen Ausnahmen gehören sie alle der jüdischen Gemeinde an.
Der italienische, griechische, französische oder britische Paß (oder irgendein anderer) dient nur der Bequemlichkeit: Wer einen solchen hatte, war ein Subjekt der britischen Protektoratsregierung und konnte gewisse (rechtliche) Privilegien in Anspruch nehmen. Diese „Fremden“, die dennoch Generationen von Vorfahren auf dem Kairoer Friedhof liegen haben, betreiben ihre Interessen in Ägypten, aber ein Interesse an Ägypten haben sie nicht.
Ihre Wahlheimat wäre Frankreich. Henri Curiels Eltern und ihre Freunde sehen das Land mit den gleichen Augen wie ihr Zeitgenosse, der junge Charles de Gaulle, es beschrieben hat: „wie eine Märchenprinzessin oder eine Madonna auf den Freskenbildern, der ein großartiges und außergewöhnliches Schicksal vorherbestimmt ist“. Allabendlich läßt sich der seit seinem dritten Lebensjahr erblindete Bankier Daniel Curiel von seiner Frau aus Le Temps vorlesen. Henri und sein älterer Bruder Raoul werden in der Schule mit „Unsere Vorfahren, die Gallier“ traktiert; das einzige, was sie aus der Geschichte Ägyptens lernen, ist die Zeit der Pharaonen, die auf dem Lehrplan für die Sexta steht.
Jeden Sommer reist man nach Frankreich. Aber diese heute nur schwer nachvollziehbare Leidenschaft animierte damals zahllose Freiwillige zum extrem bitteren Aufenthalt in den blutigen Schützengräben von Verdun, wo einige ihr Leben verloren. Ein Jahr vor seiner Ermordung sagte Henri Curiel im Rückblick auf seine Jugend: „Das einzige Land, dem ich mich verbunden fühlte, war Frankreich.“
Das unermeßliche Elend des ägyptischen Volkes
WÄHREND sein Bruder Raoul in Paris studieren darf – er wurde später ein bedeutender Archäologe –, muß Henri bei seinem Vater arbeiten, um eines Tages sein Nachfolger zu werden. Dies trifft ihn hart. Man nimmt ihm das Frankreich, in das sich einer nach dem anderen seine Verwandten und Freunde absetzen, und schmiedet ihn an die Galeere des Bankgeschäfts. Tagein, tagaus schieben sich ganze Prozessionen verzweifelter Bauern durch sein Büro, die gezwungen sind, ihre künftige Ernte zu verpfänden. Wie aber sich gegen einen blinden Vater auflehnen? Henri tröstet sich mit Büchern und Frauen. Er widmet sich Bürgerstöchtern wie Prostituierten. Den einen bringt er Proust nahe, den anderen Dostojewski.
Sein ausgeprägtes Gefühlsleben trägt ihm den Spitznamen „erblühter Flieder“ ein. Dabei hat er die Figur einer Vogelscheuche, 1,82 Meter groß und 50 Kilogramm schwer. Als sich das Frühstadium einer Tuberkulose zeigt, lernt er eine junge, sozial engagierte Krankenschwester aus seinen Kreisen kennen, die ihm die verordneten Injektionen verabreicht.
Sie überredet ihn, gemeinsam den Bauern, die auf den Besitzungen der Curiels arbeiten, medizinische Pflege angedeihen zu lassen. (Die Mehrheit der Fellachenfamilien, die auf dem 100 Hektar großen Gut im Nildelta arbeiten, müssen mit zwei oder drei Ar auskommen.) So entdeckt Henri Curiel an der Seite seiner zukünftigen Ehefrau Rosette Aladjem das unermeßliche Elend des ägyptischen Volkes.
Alle späteren Kampfgefährten, die wie er aus Ägypten stammen, haben dieselbe erschütternde Initiation hinter sich: den Schock der Konfrontation mit unerträglichem Leid. Es ist teurer, einen Esel zu mieten, als einen Menschen. In den Baumwollfabriken, die ihren Familien gehören, sehen sie vor allem Kinder zwischen sieben und dreizehn Jahren arbeiten; diese verdingen sich unter der Peitsche europäischer Vorarbeiter, die als einzige einen Mundschutz gegen den erstickenden Staub tragen.
Ein Drittel der Kinder stirbt jedes Jahr an Schwindsucht. Die Malaria löscht ganze Dörfer aus. 95 Prozent der Bauern sind mit Bilharziose infiziert. Das Trachom (auch „Körnerkrankheit“ oder „ägyptische Augenkrankheit“) verschafft Ägypten weltweit die höchste Blindenrate. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 27 Jahren, die im ersten Jahr verstorbenen Kinder nicht mitgerechnet.
Wie die jungen Leute in Frankreich lesen auch die jungen Bourgeoissprößlinge in Ägypten Malraux, Nizan oder die sozial engagierten Reiseberichte des frühen Gide und liebäugeln mit dem Marxismus. Anders als die gleichaltrigen Franzosen jedoch finden sie den Weg in die Politik nicht über intellektuelle Reflektion: Sie werden vielmehr durch eine Erschütterung ihres ganzen Daseins in sie hineingestoßen. Was ihr kleines Grüppchen von der militanten europäischen Linken auf immer unterscheiden wird, ist ihre Herkunft aus der damals noch nicht so genannten Dritten Welt – ihr Heranwachsen unter Produktionsverhältnissen, die mit beispiellosem Zynismus die optimalen Bedingungen für die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen herstellen. Ihre Einsichten sind nicht abstrakt oder Ergebnis von Indoktrination, Schulungslektüre oder Mehrwertanalyse, sondern physisch, unaustilgbar und für alle Zeiten in ihre Seelen eingebrannt. Sie mußten einfach Kommunisten werden – so sehr deckte sich die Marxsche Analyse mit den eigenen Erfahrungen. Das Problem war nur: In Ägypten gab es keine kommunistische Partei.
Kaum hat sich Henri Curiel ganz der internationalen Solidarität verschrieben, macht er die Bekanntschaft mit einem offensichtlichen Widersacher: der selbstbezogenen Kraft des Nationalgefühls.
Wie seine Freunde ist er ein entschiedener Antifaschist. Im September 1939 versuchen er und sein Bruder vergeblich, in die französische Armee aufgenommen zu werden. Er engagiert sich in der Union démocratique, die er mit seinen Freunden ins Leben ruft, um die Sache der Alliierten voranzutreiben. Und beteiligt sich an der Gründung der Amitiés françaises, die die französische Exilregierung in London unterstützt.
Als Kairo 1942 kurz vor der Einnahme durch Rommels Afrikakorps zu stehen scheint, stürmt die wohlhabende jüdische Bevölkerung die Züge nach Jerusalem. Henri Curiel entschließt sich zu bleiben. Er will den Widerstand gegen eine eventuelle deutsche Besatzung organisieren. Die ägypische Polizei aber verhaftet ihn, denn sie will alle Juden in ihre Gewalt bekommen, um sie den Deutschen zur Begrüßung zu übergeben. Die britische Botschaft wird über die Verhaftungen nicht informiert. Im Gefängnis wimmelt es vor ägyptischen Agenten, die die britische Spionageabwehr wegen Spionage für die Deutschen verhaftet hatte. Von seiner Zelle aus hört Curiel Tausende Demonstranten den Namen Rommel skandieren. Eine erschreckende Entdeckung: Die Volksmassen Ägyptens sind mehrheitlich für Hitler. Gegen Churchill. Die später so genannten „Freien Offiziere“, mit Anwar as-Sadat an der Spitze, bandeln mit dem deutschen Geheimdienst an und suchen den Engländern in den Rücken zu fallen. Mit gemeinsamer Weltanschauung hat das nichts zu tun. Henri Curiel lernt seine Lektion: Der Unabhängigkeitswille eines Volkes ist stärker als jede weltpolitische Einsicht.
1943 gründet er den Mouvement égyptien de la libération nationale (MELN). Die Organisation kann sehr bald substantielle Ergebnisse vorweisen: Übersetzungen und Verbreitung grundlegender kommunistischer Schriften, Aufbau von Kaderschulen, aktive Beteiligung an den sozialen Auseinandersetzungen, die das Land erschüttern, sowie natürlich an der nationalen Befreiungsbewegung und den großen Demonstrationen im Februar 1946, die zum Abzug der Briten aus den Städten führen.
Schwere Defizite belasten die Zukunft. Der Mangel an Parteifunktionären hemmt die Entwicklung; die Fabrikarbeiter, die leichter zu mobilisieren sind als die Landarbeiter, machen 1945 nur 3 Prozent der Bevölkerung aus. Zudem tauchen neue Organisationen auf, die alle um den Anspruch buhlen, „die“ kommunistische Partei Ägyptens zu werden. Aus den vielen ragen drei heraus: der MELN von Henri Curiel, Iskra von Hillel Schwartz und Libération du peuple von Marcel Israél. Alle drei Parteiführer entstammen dem Reichen-Ghetto der jüdischen Bourgeoisie, was die politischen Konkurrenzen eher befördert als schmälert. Vor allem aber erleichtert die Herkunft nicht den Kontakt mit den Massen, trotz des einhelligen Willens, die Bewegung zu „ägyptisieren“. Als England 1936 Ägypten die volle Souveränität zuerkannt hatte (lediglich die Sueskanal-Zone blieb unter ihrer Kontrolle), hatte Curiel die ägyptische Staatsbürgerschaft angenommen und begonnen, arabisch zu lernen, was ihm nur unzureichend gelang. Kann man sich einen gebrochen russisch sprechenden Lenin vorstellen? Dreißig Jahre später wird sein alter Mitstreiter Said Soliman Rifai bedauernd feststellen: „Wäre Henri als Ägypter geboren worden, hätte die Landkarte des Nahen Ostens anders ausgesehen.“
Der ausgebürgerte Jude
IM Mai 1947 fusionieren die führenden Bewegungen. Eigentlich hätte nun endlich jene Kommunistische Partei entstehen können, von der alle geträumt hatten. Doch interne Streitigkeiten sprengen die Einheit schnell wieder auseinander. Ein Jahr später – im Internierungslager – kommt eine neuerliche Vereinigung zustande.
Henri Curiel und seine Freunde hatten die Gründung des Staates Israel begrüßt. Das ägyptische Volk hatte – sieht man von den Muslimbrüdern ab – in seiner großen Mehrheit auf das Ereignis gelassen reagiert; die Niederlage im ersten israelisch- arabischen Krieg hingegen wurde als unerträgliche Demütigung empfunden.
Mit Verhängung des Ausnahmezustands hatte man Hunderte kommunistische Aktivisten verhaftet. Besonders die Juden unter ihnen hielten ihr Schicksal für besiegelt. Raymond Stambouli, ein Mitkämpfer Curiels: „Der Krieg bedeutete das Ende all unserer Hoffnungen, die gerade begonnen hatten Wirklichkeit zu werden. Wir verstanden uns als Ägypter, auch wenn wir wußten, daß die Ägypter uns als Fremde ansahen. Damit war nun Schluß. Wir waren nicht mehr bloß Fremde, sondern Juden. Also Feinde, eine mögliche Fünfte Kolonne. Wer von uns konnte das vorhersehen!“
Wie ungeschickt und unzulänglich auch immer ihre politische Arbeit gewesen sein mochte, sie hatten sich mit einer Hingabe in den Dienst des ägyptischen Volkes gestellt, deren Unbedingtheit ihre europäischen Gesinnungsgenossen nur erstaunen konnte. Sie waren der Repression nicht entkommen, und viele, allen voran Curiel, waren nach Streiks und Demonstrationen ins Gefängnis gewandert. Der Krieg mit Israel machte alles zunichte. Mit einem Mal waren sie Gefangene ihres Judentum geworden.
Henri Curiel wird für achtzehn Monate im Lager Huckstep interniert. Seine Freunde werden entlassen, nachdem sie sich bereit erklärt haben, zu emigrieren. Weil Curiel sich weigert, wird ihm die ägyptische Staatsbürgerschaft aberkannt; der Weg für seine Ausweisung ist damit frei. Mit Gewalt bringt man ihn auf ein Schiff. Am 26. August 1950 verläßt er das Land, das er nie wiedersehen und nie vergessen sollte.
Der Mann, der in Europa an Land geht, ist zweifellos ein Kommunist, wenn auch ein untypischer. Wäre er zehn oder fünfzehn Jahre früher geboren, hätte er sich wahrscheinlich der Komintern und ihren „Handlungsreisenden der Revolution“ angeschlossen.
Die Zeiten aber hatten sich geändert. Mit dem Kalten Krieg war der revolutionäre Fluß endgültig zu Eis erstarrt. Ost und West standen sich in Europa in einem unüberwindlichen Grabenkrieg gegenüber. Welch ein Kontrast zu Ägypten, wo noch alle Möglichkeiten offen schienen! Die Sowjetunion? Curiel stellt ihre führende und auch beispielhafte Rolle keineswegs in Frage, doch ist sie für ihn weniger das sozialistische Paradies auf Erden als vielmehr ein Dritte-Welt-Land, dem ein vielversprechender Start geglückt ist.
Nach der Ankunft in Genua kontaktiert er die Führung der Kommunistischen Partei Italiens. Es wird ein eisiger Empfang. Heimlich begibt er sich nach Frankreich, wo ihm André Marty mehr entgegenkommt. Beide kennen sich seit 1943, als der Kominternler Marty auf einer seiner Reisen von Moskau nach Algier in Kairo eine Zwischenstation gemacht hatte, weil er sich vom britischen Intelligence Service überwacht wähnte, und bei den Curiels Unterschlupf gefunden hatte.
Frankreich besaß damals einen enormen Einfluß auf die gesamte ägyptische Gesellschaft; entsprechend unterhielt die KPF in Kairo sogar eine „Kolonialvertretung“, die sich faktisch als ideologischer und politischer Treuhänder verstand. Aber die Angestellten dieser Vertretung, durchweg eiserne Stalinisten, begegneten den jungen jüdischen Bourgeois, die das arabische Volk auf den Pfad des Sozialismus führen wollten, mehr als reserviert. Da die KPF der ewigen Streitereien und Spaltungen der kommunistischen Bewegung Ägyptens überdrüssig war, hatte sie es immer abgelehnt, sich für die eine oder andere Organisation zu entscheiden.
Ein Internationalist der Praxis
Nach dem Staatsstreich der Freien Offiziere, der am 23. Juli 1952 zur Absetzung von König Faruk führt, hat Henri Curiel keine Chance mehr, zum Zuge zu kommen. Während die von ihm gegründete Organisation, die er noch von Paris aus beeinflußt, den Staatsstreich begrüßt, denunziert die gesamte kommunistische Welt – einschließlich der ägyptischen Kommunisten – die Offiziere als „militaristisch-faschistisch“; daß sie kurz darauf deren untadelige Fortschrittlichkeit preisen werden, hilft Curiel wenig.
Curiel hatte seit über zehn Jahren Kontakt zu den progressiven Militärs gehalten, mehrere der Freien Offiziere (nicht die unbedeutendsten) gehörten sogar seiner Organisation an. Außerdem wußte er, wie begeistert die Bevölkerung die neue Regierung begrüßte und daß deren Reformprogramm (soziale Gerechtigkeit, Bodenreform, Demokratisierung des Ausbildungswesens) keineswegs eine faschistische Handschrift trug. Aber die kommunistischen Gralshüter hatten gesprochen. Damit war alles klar und Henri Curiels Organisation als „Ausgeburt der faschistischen Diktatur“ abgestempelt.
Es war die Affäre Marty, die dem Exilchef Curiel den endgültigen Bannfluch der kommunistischen Bewegung einbrachte. Gegen den alten paranoiden Kominternler lief eine gnadenlose Vernichtungskampagne; unter anderem warf man ihm vor, 1943 bei einem „dubiosen ägyptischen Pärchen“ Unterschlupf gesucht zu haben. L'Humanité setzte noch einen drauf: „Diese Ägypter stehen in Verbindung mit einem Verwandten, einem Trotzkisten, der beschuldigt wird, während der Résistance ein Polizeispitzel gewesen zu sein.“
Dürftige Zeilen nur, aber voll Niedertracht, Fehlinformation und Verleumdung. Die Niedertracht bestand darin, die Curiels nicht namentlich zu nennen, aber voll kenntlich zu machen. Ihr Cousin André Weil-Curiel war nie Trotzkist gewesen und erst recht kein Spitzel. Henri Curiel war zum Paria geworden, eine politische Leiche.
Seine politische Intuition bestand vor allem darin, schon in den vierziger Jahren das nationale Unabhängigkeitsstreben in seiner ganzen Stärke erahnt, mithin das bedeutendste politische Ereignis der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts vorausgesehen zu haben. Diesen Weitblick hatten andere nicht. Das Kolonialbüro der KPF mahnte die kolonisierten Schutzbefohlenen zur Geduld: Erst nach einem Sieg des „großen Bruders“, also der französischen Kommunisten, würden sie ihre eigene Mündigkeit erlangen können. Curiel aber hatte verstanden, daß die aufgestaute Forderung nach Unabhängigkeit zwangsläufig eine mächtige Dynamik enwickeln würde, daß man also auf den Zug aufspringen mußte, wenn man nicht unter die Räder geraten wollte. So kam es, daß der staatenlose, aus der kommunistischen Bewegung verbannte Jude Henri Curiel zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der Dritten Welt wurde.
Als Curiel 1957 den Journalisten Robert Barrat trifft, einen engagierten Gegner des schon drei Jahre währenden Algerienkriegs, ist sein Interesse immer noch ausschließlich auf Ägypten gerichtet, das aber in immer weitere Ferne rückt. Sein depressiver, für ihn ganz untypischer Zustand beunruhigt alle, die ihm nahestehen.
Robert Barrat eröffnet ihm ein neues Betätigungsfeld: Im November 1957 bringt er Curiel mit Francis Jeanson zusammen, dem führenden Kopf einer Unterstützerorganisation des FLN, die seit einem Jahr existierte, aber erst einen Monat zuvor ein richtiges Netzwerk aufgebaut hatte. Sie werden als „Kofferträger“ (Jean-Paul Sartre) in die Geschichte eingehen. Drei Jahre lang stellt Henri Curiel sein Organisationstalent und seine außergewöhnliche Einsatzbereitschaft in den Dienst des Netzwerks. Seine Frau Rosette arbeitet mit ihm zusammen, ebenso Joyce Blau und Didar Fawzi Rossano, die beide aus Ägypten gekommen sind. Als Francis Jeanson nach einem Schlag des Geheimdienstes DST abtauchen muß, bitten die Algerier, Henri Curiel möge die Leitung der Operationen übernehmen.
Er wollte das Netzwerk ausbauen und seinen Fortbestand über den Algerienkrieg hinaus sichern, doch er erleidet mit dem dafür gegründeten Mouvement anticolonialiste français (MAF) bitteren Schiffbruch. Sein Pragmatismus verprellt die romantischen Illusionen zahlreicher Kofferträger, die glauben, die „algerische Revolution“ könne in einer Kettenreaktion auf Europa übergreifen; tatsächlich wird sie später Kuba, China und Vietnam erfassen. Aufgrund seiner Erfahrungen in Ägypten sieht Henri Curiel im FLN lediglich eine nationale Befreiungsbewegung. Ahmed Ben Bella verkörpert eine unvermeidliche Etappe in der Geschichte der algerischen Nation, aber er wird kein Lenin sein. Und was den Export der algerischen Revolution nach Frankreich betrifft: Curiel hält dergleichen für leeres Geschwätz.
Am 20. Oktober 1960 wird Henri Curiel wegen seiner proalgerischen Aktivitäten verhaftet. Die nächsten achtzehn Monate verbringt er im Gefängnis von Fresnes. Nach dem Ende des Algerienkrieges hätte logischerweise die Ausweisung erfolgen müssen, die man bei seiner Verhaftung gegen ihn verhängt hatte, doch dank alter Verbindungen zur Machtebene bleibt Curiel die Ausweisung erspart. Zugute kommt ihm dabei die Tatsache, daß er selber während des Zweiten Weltkrieges 1943 mit seiner Organisation in Kairo erhebliche Dienste für einige Franzosen aus der Exil-Widerstandsbewegung um General de Gaulle geleistet hatte, von denen einige inzwischen im Pariser Kabinett unter de Gaulle Ministerämter hatten.
Als Curiel im Alter von 48 Jahren aus dem Gefängnis von Fresnes entlassen wird, ist ihm klar, daß er fortan eine Randexistenz führen wird. Da er nirgends eingebunden ist, übernimmt er die Rolle eines Verbindungsmannes, für die er wie geschaffen ist. Seine Bildung und seine umfangreiche Lektüre verschafften ihm eine enorme Kenntnis der revolutionären Bewegungen in Europa. Warum soll er nicht dieses Potential den nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zur Verfügung stellen, zumal er aus Ägypten weiß, welche enormen organisatorischen Schwierigkeiten solche Bewegungen zu bewältigen haben.
Aus dieser Idee entsteht „Solidarité“, eine Organisation, die zu einer zentralen Anlaufstelle für Freiheitskämpfer aus der ganzen Welt werden sollte. Hier finden sie die selbstlose Unterstützung von einigen Dutzend zumeist französischen Aktivisten aus allen sozialen Schichten und Gruppierungen (evangelische Pastoren, Gewerkschafter, katholische Priester, Mitglieder der Kommunistischen Partei, die allerdings auf eigene Faust agieren, und andere mehr). Den „Solidarité-Leuten geht es nicht darum, als politische Lehrmeister aufzutreten, sondern um die Vermittlung lebensnotwendiger Techniken: Vorsichtsmaßnahmen gegen polizeiliche Beschattung; das Drucken von Flugblättern und Broschüren mittels leichter Gerätschaften; die Herstellung von falschen Papieren, verschlüsselten Texten und unsichtbarer Tinte; medizinische Versorgung und Erste Hilfe; der Umgang mit Waffen und Sprengstoff; kartographische und topographische Kenntnisse... Viele der Vermittler dieser improvisierten Ausbildung zweifeln anfangs an der Nützlichkeit solcher notgedrungen summarischen Unterweisungen. Die katastrophale Unerfahrenheit der Teilnehmer belehrt sie jedoch sehr bald eines Besseren. Freiheitskämpfer, wie etwa die südafrikanischen ANC-Anhänger, waren grausamen und raffinierten Repressionen ausgesetzt, hatten aber keine Ahnung vom Leben und Überleben im Untergrund.
Obwohl das Schwergewicht der Aktivitäten geographisch in der Dritten Welt liegt, unterstützt man selbstverständlich auch antifaschistische Gruppierungen, die im Spanien Francos, im Portugal von Salazar und Caetano und im Griechenland der Obristenjunta agieren.
Nach Frankreich kommen die Teilnehmer in kleinen Gruppen, die Kurse sind unterschiedlich lang und behandeln die jeweils aktuellsten Themen. Für die Finanzierung sorgt zunächst die algerische Regierung Ben Bella, die auf diese Weise gewissermaßen eine Schuld abträgt. Nach der Machtergreifung von Houari Boumedienne 1965 tragen die unterstützten Bewegungen selbst die Teilnahmekosten, die aber dank der ehrenamtlichen Arbeit vieler Mitglieder minimal sind.
Nur Henri Curiel konnte auf eine solche beispiellose Initiative kommen und sie auch umsetzen. Solidarité repräsentierte die Summe seiner Fehlschläge und Erfolge. Befähigt hat ihn dazu sein Lebensweg. Erst dieser Weg voller Hindernisse und herber Enttäuschungen hat ihn auf die Form internationaler Solidarität gebracht, die einer Zeit angemessen war, in der sich so viele Nationen der Dritten Welt ihre Unabhängigkeit erkämpften.
Als Terrorist denunziert
AUCH wenn Solidarité eine Untergrundorganisation war, veranstaltete sie jedes Jahr ihren ordentlichen Kongreß, auf dem ein Vorstand und ein Sekretariat gewählt wurden. Die unterschiedlichen Hintergründe und Meinungen der Mitglieder sorgten für dauernde Spannungen. Einige lehnten die Autorität des Gründervaters ab, doch die meisten brachten ihm eine tiefe Zuneigung entgegen. Henri Curiel bemühte sich ständig, jeden, der sich ihm anschloß, nicht nur als Kämpfer zu betrachten, sondern auch seine persönliche Entfaltung im Blick zu haben. Für viele Menschen trug die Begegnung mit Curiel dazu bei, daß sich ihr Leben zum Positiven veränderte.
Das ging so über fünfzehn Jahre. Sie gehen auch an dem unerschütterlichsten Willen nicht spurlos vorüber. Die Brüder Wangen, denen die Solidarité viel verdankte, begannen sich anderweitig zu engagieren. Henri Curiel selbst sah sich schließlich wieder mit einem Problem konfrontiert, das ihn seit 1948 verfolgt hatte: mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Getreu der Überzeugung, daß der Dialog die einzig mögliche Lösung biete, hatte er mit seinen im französischen Exil lebenden ägyptischen Freunden heimliche Kontakte zwischen den israelischen und palästinensischen „Tauben“ organisiert (vgl. den Bericht von Uri Avnery auf Seite 2). Immer wieder zerriß ein Krieg oder ein mörderisches Attentat die mühsam geknüpfte Verbindung. Ohne sich je entmutigen zu lassen, nahm er die losen Fäden stets wieder auf. Gerade als es ihm gelungen war, ein Treffen zwischen dem israelischen Reservegeneral Matti Peled und Issam Sartaui herbeizuführen, einem ehemaligen Terroristen und Vertrauten Arafats, der sich inzwischen zu einer friedlichen Lösung bekannte, veröffentlichte die Wochenzeitung Le Point in ihrer Ausgabe vom 21. Juni 1976 einen Artikel von Georges Suffert. Darin wurde er beschuldigt, „Chef eines Netzwerks zur Unterstützung terroristischer Vereinigungen“ zu sein.
Die Anschuldigung war ebenso haltlos wie tödlich. Henri Curiel haßte den Terrorismus. In seinen Augen war er nicht nur Ausdruck von politischer Dummheit, sondern auch von monströser Unmenschlichkeit. Aber in den Zeiten, da die RAF und die Roten Brigaden ihre Anschläge verübten, kam die von Georges Suffert erhobene Anschuldigung einer endgültigen Verurteilung gleich. Die Pressekampagne gegen ihn hielt nicht lange an. Doch sie hatte behördliche Zwangsmaßnahmen zur Folge (so durfte er den ihm zugewiesenen Aufenthaltsort in Digne nicht verlassen), die allerdings aufgehoben werden mußten, als sich die Vorwürfe als haltlos erwiesen. Schließlich wußten sich Henri Curiels Feinde nicht anders zu helfen als mit terroristischer Gewalt: Am 4. Mai 1978 wurde er im Aufzug seines Hauses von zwei Killern erschossen.
Sein Einsatz für den Frieden im Nahen Osten war den „Falken“ beider Lager ein Dorn im Auge, die vor standrechtlichen Verfahren bekanntlich keine Skrupel hatten. Auch der südafrikanische Geheimdienst sah in ihm einen seiner ärgsten Feinde, denn bis zum Schluß leistete Solidarité den ANC-Aktivisten sehr tatkräftige Unterstützung. Inzwischen wissen wir, daß die südafrikanischen Geheimdienste nicht zögerten, ihre Killerkommandos in Europa einzusetzen. Die polizeilichen Untersuchungen hatten keinen Erfolg. Die Täter und ihre Hintermänner wurde nie ausfindig gemacht. Die Akte Curiel ist heute offiziell geschlossen.
Er war weder ein Ideologe noch ein Theoretiker, aber er war ein ausgezeichneter Analytiker der verschiedenen Situationen. Von der Kultur her Europäer, von Geburt und Lebenserfahrung her aber Bürger der Dritten Welt, war Henri Curiel gewiß einer der engagiertesten – und mit seiner klugen Zurückhaltung einer der effektivsten – Internationalisten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die Zeiten haben sich gewandelt. Die wirtschaftliche Globalisierung schreitet mit der gleichen Geschwindigkeit voran, wie die politische Solidarität unter den Völkern abnimmt. Vergeblich würde man bei Henri Curiel nach passenden Patentrezepten für das dritte Jahrtausend suchen. Aber wenn es so etwas wie ein Testament gäbe, dann enthielte es die Aufforderung, den Internationalismus neu zu erfinden.
dt. Christian Hansen
* Schriftsteller, Autor von „Curiel“, aus dem Franz. von Karin Balzer, Wien (Europaverlag) 1991; „Unser Freund, der König von Marokko. Abgründe einer modernen Despotie“, aus dem Franz. von Kristina Hering, Leipzig (Kiepenheuer) 1992, sowie von „Doppelmord in der Avenue Victor Hugo“ (1993), „Geheimakte 51“ (1994) und “Die Gärten des Observatoriums“ (1996), alle erschienen bei edition q, Berlin.