Erinnerungen
ICH verbrachte die letzten Tage vor der Wahl in meinem geliebten armen Tocqueville. Es war das erste Mal seit der Revolution, daß ich es wiedersah; vielleicht würde mein Abschied von ihm der letzte sein! Beim Betreten meines Besitzes ergriff mich eine tiefe und eigentümliche Trauer, deren Spuren trotz allem, was ich seither erlebt habe, noch heute in meiner Erinnerung lebendig und sichtbar sind. Ich kam an, ohne daß man mich erwartete. Die leeren Säle, in denen mich niemand empfing als mein alter Hund, die schlecht verschlossenen Fenster, die aufeinandergetürmten und staubbedeckten Möbel, die erloschenen Kamine, die stillstehenden Uhren, die düstere Stimmung im Hause und die Feuchtigkeit der Mauern, das alles waren für mich Vorboten des Verfalls und der Vernichtung (...)
Ich hatte die Monarchie stürzen sehen; später hatte ich den blutigsten Szenen beigewohnt; aber ich muß sagen, bei keinem dieser gewaltigen Schauspiele war meine Ergriffenheit jemals so schmerzlich und tief wie damals, als ich mich beim Anblick des alten Sitzes meiner Väter an die friedlichen und glücklichen Tage erinnerte, die ich dort verlebt hatte, ohne mir ihres Wertes bewußt zu sein. An diesem Orte, in dieser Stunde begriff ich am besten die ganze Bitterkeit der Revolution. (...)
Wir hatten alle zusammen in der kleinen Gemeinde St.-Pierre zu wählen, die eine Meile von unserem Dorfe entfernt ist. Am Morgen der Wahl versammelten sich alle Wähler (das heißt die ganze über zwanzig Jahre alte männliche Bevölkerung) vor der Kirche. Alle ordneten sich in alphabetischer Folge in Reihen zu zweien. Ich wollte mich an der Stelle anschließen, die mir nach meinem Namen zukam, denn ich wußte, daß man sich in demokratischen Ländern und Zeitläuften nicht selbst an die Spitze des Volkes setzen, sondern abwarten soll, bis man dahin gerufen wird. Am Ende des langen Zuges kamen auf Packpferden und in Karren die Siechen und Kranken, die sich uns hatten anschließen wollen; nur die Kinder und Frauen blieben zurück. Wir waren im ganzen einhundertsiebzig Mann. Als der Zug auf dem Gipfel des Hügels angekommen war, der Tocqueville beherrscht, hielt er einen Augenblick an; wie ich wußte, wünschte man, daß ich sprechen solle. Ich bestieg daher die Rückwand eines Grabens, man bildete einen Kreis um mich und ich sagte einige Worte, die mir der Augenblick eingab. Ich erinnerte die braven Leute an den Ernst und die Bedeutung des Wahlaktes; ich empfahl ihnen, sich bei unserer Ankunft in St.-Pierre nicht von Leuten, die sie irreleiten wollten, ansprechen oder ablenken zu lassen, sondern im Zuge weiterzugehen und zusammen zu bleiben, bis jeder gewählt habe. (...)
Alle Stimmen wurden zugleich abgegeben, und ich habe Grund zur Annahme, daß sie fast alle den gleichen Kandidaten wählten.
aus: Alexis de Tocqueville, „Erinnerungen“, Stuttgart (Koehler) 1954, S. 149-152.