15.05.1998

Die Bündnisfalle

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Die Bündnisfalle

VOR zwanzig Jahren spielte der französische Front National bei Wahlen kaum eine Rolle. Zehn Jahre später, am 24. April 1988, bekam ihr Chef Jean-Marie Le Pen als Präsidentschaftskandidat 4375000 Stimmen, das sind 14,39 Prozent der abgegebenen Stimmen. Anstatt sich über die neuesten regionalen Ereignisse auszulassen, wäre es sinnvoller, über den Wendepunkt der achtziger Jahre nachzudenken. Denn seither haben dieselben Ursachen dieselben Effekte hervorgerufen.

Moralische Beschwörungen oder Veränderungen am Wahlverfahren werden nichts daran ändern können: In einem Land wie Frankreich ist die extreme Rechte den sogenannten Regierungsformationen in einem Punkt überlegen: Sie weiß die Hoffnungslosigkeit und die Herabwürdigung der öffentlichen Sache zu nutzen, um den Primat des Willens zu betonen. Während die großen Parteien sich mit der Stagnation abfinden und zugeben, daß sich das Kräfteverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten immer weiter verschlechtert (stets im Namen der „Zwänge“ von Markt und Globalisierung), ersetzen die Kader des Front National die bedrückende Pädagogik des Verzichts weiterhin durch Engagement, ideologischen Kampf und aktive Arbeit vor Ort.

Seine Argumentation dreht sich bevorzugt um das Thema des Niedergangs oder gar des Verfalls, doch gibt er vor, Mittel zu suchen, um diesem zu „widerstehen“. Damit entspricht er stärker der Wahrnehmung, die ein Teil der Wählerschaft (und meist der sozial schwächste) von seinem eigenen Leben hat, als alle enthusiastischen Verkündigungen seitens der Apostel der Einheitswährung und der Informationsrevolution – Verkündigungen, die in einem Land, wo die sozialen Mißstände zunehmen, auch provozierend wirken. Selbst hundert Papon-Prozesse werden daran nichts ändern: Die französischen Rechtsextremen beziehen ihre Stärke nicht mehr aus Vichy und Nürnberg, sondern von der Börse in Paris und Frankfurt.

Die Unbelehrbaren denken, man könne die Welle stoppen, indem man das Meer abschafft. In ihrem Traum von einer Politik ohne Politik wollen sie das wieder auflegen, was bereits gescheitert ist: eine „große Koalition“ oder eine „republikanische Front“ gegen die Rechtsextremen. Entweder sind diese Bündnisse zwischen rechts und links Eintagsfliegen und dienen lediglich der Verteidigung von Terrain, oder aber sie basieren auf einer Grundübereinstimmung, und das wäre noch schlimmer. Wenn die Auseinandersetzung über verschiedene Gesellschaftsprojekte im Namen einer notwendigen Eindämmung der „braunen Pest“ noch ein wenig mehr aus unserem politischen Panorama verschwindet, wird niemand anderes als ebendiese den hauptsächlichen Gewinn daraus ziehen, weil sie dann zum Sammelbecken für jegliche Art des Unmuts werden wird.

Manchen Leuten ist alles recht: Das Ende der Politik zu dekretieren, weil es nur eine mögliche Politik gebe, gegen die der Front National opponiert; die Nation verbieten oder sie in der Globalisierung auflösen, in der Hoffnung, so die Rechtsextremen ihres Rekrutierungsfeldes zu berauben. Doch hier ist gar nichts recht: Es war ausgerechnet im November und Dezember 1995, in dem Moment, als die Streiks und Demonstrationen Millionen Franzosen aus ihrem Verdruß und ihrer Hoffnungslosigkeit rissen, als Jean-Marie Le Pen endlich verstummte. Und seit nunmehr fünfzehn Jahren kommt der Front National um so mehr voran, desto mehr die Staatsmacht zurückweicht.

Trotz dieser Bilanz ist jeder Ausdruck von Protest inzwischen dem Vorwurf ausgesetzt, er „bereite dem Lepenismus das Bett“: Der öffentlich weithin bekannte Philosoph, der diesen Ausdruck prägte (B.-H. Lévy), beschuldigt die „Linke“. Der Innenminister scheint mit ihm gleichzuziehen, und sein Kollege vom Erziehungsressort wirft den Lehrkräften von Seine-Saint-Denis vor, „den FN zu begünstigen“. Ein konservativer Leitartikler (Jean-François Revel) zögert nicht, „das antiliberale Geschrei“ als „Quelle von Wählerstimmen für die FN“ zu denunzieren, ein anderer (Pascal Bruckner) schreckt nicht davor zurück, die Infragestellung des Kapitalismus mit Antisemitismus gleichzusetzen2.

Jegliche Sozialkritik zu disqualifizieren unter Verweis auf den Mißbrauch, den Gegner damit anstellen könnten, bedeutet jedoch, diesen einen Vorteil zu verschaffen. Denn seit zwanzig Jahren sind es in Frankreich zuallererst die sozialen Ungleichheiten, die Verwüstungen des Neoliberalismus, die Unterdrückung der demokratischen Auseinandersetzung, das heimliche Einverständnis und die Korruption, die dem Front National „in die Hände gespielt haben“. Dieser wird nicht zurückweichen, solange die Brandherde, die ihr Wachstum genährt haben, sich weiterhin ausdehnen.

S. H.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von S. H.