15.05.1998

Der permanente Wahlkampf

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Der permanente Wahlkampf

■ Vor kurzem veröffentlichte der amerikanische Journalist Mark Hunter das Ergebnis einer langen Recherche in den Kreisen des Front National. Sein Buch relativiert die herkömmlichen Vorstellungen, insbesondere in bezug auf die aktiven Mitglieder der rechtsextremen Partei.

In Melun machte ich die Bekanntschaft eines Aktivisten, der gerade vom französischen Nachrichtendienst pensioniert worden war. Dort hatte er seine Arbeitstage damit aufgelockert, Flugblätter des Front National in die Akten zu stecken, die über seinen Schreibtisch wanderten. So erinnerte er seine Kollegen daran, daß die Bewegung all das weiß, was sie selbst wissen. Jetzt, da er aus dem Staatsdienst ausgeschieden war und seine Fotokopien selbst bezahlen mußte, verteilte er weiterhin FN-Flugblätter in seinem Wohnviertel in Versailles. „Wir sind die einzige Partei, die permanent Wahlkampf macht“ sagte er voller Stolz zu mir.

Das stimmt. Ein anderes Parteimitglied, Georges Pennequin, den ich später bei einem Arbeitsessen traf, trug in seiner Tasche ein Päckchen Aufkleber, die er abends an die Schaufenster der Läden klebte, an denen er vorbeikam. Während wir uns unterhielten, holte er einen davon heraus und führte mir seine Technik vor: eine rasche Drehung des Handgelenks – „Zack – Fertig!“ (...)

Wenn die Aktivisten des Front National plakatieren, ist es gerade so, als bewegten sie sich bereits in einem Frankreich, dessen Gesetze sie selbst verfaßt haben, gemeinsam, im Dunkel verlassener Straßenzüge.

Überall in Europa hat sich der Aufschwung der neuen nationalistischen Parteien in den physischen Räumen vollzogen, die zuvor von den Anhängern der großen Volksparteien verlassen worden waren. Der flämische Wissenschaftler Marc Swyngedouw wies mich darauf hin, daß der Vlaams Blok in den armseligen Arbeitervierteln von Antwerpen die einzige noch vertretene Partei ist und dort regelmäßig in den Schänken Versammlungen abhält. Die Lombardische Liga in Norditalien hat ihre Wählerschaft durch aktive Parteiarbeit in „den Kegelclubs, Bars, Kirchengemeinden, Videospielhallen und selbst auf den Sportplätzen“ gefunden, konstatierte verwundert der Corriere della Sera, während ihre Gegner aus dem Establishment „ihre aktive Basis fast vollständig verloren haben“, wie die Wissenschaftler Carlos Ruzza und Olivier Schmidtke feststellen. (...)

Dieses Phänomen ist entscheidend: daß eine politische Mobilisierungsform, die die etablierten Parteien aufgegeben hatten, weil sie sie für nutzlos hielten, genau zu dem Zeitpunkt wiederbelebt wird, da sie zur Niederlage dieser Parteien beiträgt.

Warum hat die politische Elite das geschehen lassen? Der Hauptgrund ist sicherlich ihre Faszination für das Fernsehen, das als brauchbarer Ersatz für die traditionellen öffentlichen Organisations- und Kommunikationsformen angesehen wird. In gewisser Hinsicht war das Fernsehen genauso lebenswichtig für den Front National: Wo auch immer ich hinkam, traf ich auf Parteimitglieder, die zum FN gekommen waren, nachdem sie im Jahr 1984 den Auftritt von Le Pen in der Sendung „L'Heure de la vérité“ (“Die Stunde der Wahrheit“) gesehen hatten. Doch auch wenn der Front National das Fernsehen genutzt hat, um die Zahl seiner Anhänger zu vermehren, so war er nie in demselben Maße davon abhängig wie seine Rivalen. Andernfalls wäre die Partei zum heutigen Zeitpunkt bereits erledigt, weil ebendiesen Rivalen auf den verschiedenen Sendern wesentlich mehr Sendezeit zugestanden wird. Zumindest was die Kader des Front National anbetrifft, steht fest, daß sie, wenn die Medien mehr und wohlwollender über sie berichtet hätten, schneller vorwärtsgekommen wären und mehr ausgerichtet hätten.

Doch da sie nun einmal gezwungen war, sich auf ihre aktive Basis zurückzubesinnen, entdeckte die Bewegung, daß es noch ganz andere Möglichkeiten der Mobilisierung gab als die Abendnachrichten. Und daß ihre Gegner es auf diesem Gebiet mit ihr nicht aufnehmen konnten.

(Auszug aus Mark Hunter, „Un Américain auFront: enquête au sein du FN“,Paris, Stock, 1998, S. 102 und 103).

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von MARK HUNTER