Die zehn Gebote der EINE ANDERE WELT
Von BERNARD CASSEN
ZEHN „Maßregeln (...), die im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben“, schlagen Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest vor (im Kapitel „Proletarier und Kommunisten“). Die Maßregeln reichen von der Expropriation des Grundeigentums und der Beseitigung der Kinderarbeit in den Fabriken bis hin zur Einheit von Erziehung und materieller Produktion. Zweck dieser zehn Maßregeln – eine implizite Anspielung an die Zehn Gebote – ist es, „der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen“ und „alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates (...) zu zentralisieren“, was anfangs „despotische Eingriffe“ erfordert.
Zwar übt das internationale Finanzkapital, der Hauptmotor der Globalisierung, heute in anderer Form die gleiche unerbittliche Tyrannei aus wie die „Bourgeoisie“ Mitte des vergangenen Jahrhunderts, doch der Bankrott der Regime, die sich auf den Kommunismus beriefen, hat jedwede gesellschaftliche Umwälzung diskreditiert, die sich „despotischer“ Mittel bedienen will und nur den Staat als Handlungssubjekt anerkennt.
Auf die verschiedenen Formen der Gewalt – auf physische und psychologische Unterdrückung, Hunger, Arbeitslosigkeit und Armut –, die Hunderte Millionen Menschen erleiden und weitere Hunderte Millionen Menschen in absehbarer Zeit zu erleiden fürchten, gibt es derzeit keine anderen als legitim erachteten Antworten denn friedliche Meinungsäußerung, Wahlen und gesetzliche Maßnahmen. Doch dieses Postulat gilt nicht für beide Seiten, wie die Vorgänge im Chile der Unidad Popular (1971-1973) gezeigt haben. Während die herrschende Klasse mit Gewalt und Terror gegen Regierungsbeschlüsse vorging, die sich immerhin auf ein demokratisch legitimiertes Parteiprogramm stützten, verhielt sich das Volk doppelt gesetzestreu. Das wurde ihm schlecht vergolten: mit fast zwanzig Jahren Diktatur.
Wer immer sich daranmacht, die im Kommunistichen Manifest vorgeschlagenen Maßregeln zu „aktualisieren“, muß sich dabei an ein einfaches Prinzip halten: „Vorrang für den Citoyen“. Angesichts der selbstmörderisch entfesselten Allmacht von Geld und Markt ist es dringend notwendig, das wachsende Defizit an Menschlichkeit in unserer heutigen Gesellschaft auszugleichen und also den Menschen wieder in den Mittelpunkt unserer Anliegen, Strategien und politischen Perspektiven zu stellen. Nicht den Menschen als Aktionär, Rentner, Konsumenten oder Steuerzahler, für den sich alles „im Hier und Jetzt“ auszahlen und berechnen lassen muß. Nein, vielmehr den solidarischen Mitbürger, der sich nicht nur seiner lokalen und nationalen Gemeinschaft, sondern auch der Weltgemeinschaft und darüber hinaus den kommenden Generationen solidarisch verbunden fühlt.
Mit anderen Worten, wir müssen mit den Praktiken und den „Werten“ der Herren unserer Welt brechen und radikale Alternativen ins Auge fassen. Um den Spielregeln Genüge zu tun, haben wir im folgenden zehn solche Alternativen zusammengestellt. Da es unmöglich ist, eine neue Welt mit den Worten und Kategorien der alten zu erdenken, müssen wir zunächst aufzeigen, wie relativ und absurd die zentralen Begriffe der Wirtschaftsrhetorik sind.
1. Neue analytische Instrumentarien suchen
Beispiel Arbeitslosenquote: Man isoliert sie von anderen Faktoren wie der demographischen Entwicklung, dem Prozentsatz der inhaftierten Erwerbstätigen (in den Vereinigten Staaten fast 2 Prozent), der Unterbeschäftigung, dem Zugang der Frauen zum Arbeitsmarkt, dem Einkommensniveau usw. und berechnet sie in jedem Land nach verschiedenen Kriterien. Das erschwert einen Vergleich und läßt jede Vorstellung von einem Modell als abenteuerlich erscheinen. Oder das Bruttoinlandsprodukt (BIP): Es wird „gedopt“, indem man die durch Verkehrsunfälle entstehenden Kosten (in Frankreich jährlich 100 Milliarden Franc, umgerechnet knapp 30 Milliarden Mark) hineinrechnet, wohingegen es sinken würde, wenn man die Autos durch Fahrräder ersetzte. Produktivität, Reichtum, Freihandel, Wettbewerbsfähigkeit usw.: alles Begriffe, die sich ebenso umdrehen ließen. Dagegen müssen wir neue Maßstäbe wie das vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) geschaffene Kriterium der „menschlichen Entwicklung“ in den Vordergrund rücken und beispielsweise unterscheiden zwischen Primärreichtümern (anthropologische und ökologische Ressourcen) und abgeleiteten Reichtümern, die auf den ersteren basieren. Wir brauchen einen „Zerstörungsindikator“, eine Negativ-Rubrik gewissermaßen, in der alles aufgelistet ist, was zwar das BIP in die Höhe treibt, aber Mensch und Natur zerstört (Unfälle, Umweltverschmutzung usw.). Umgekehrt sollten wir auch alle Ausgaben registrieren, die aufgrund von Vorsorgemaßnahmen nicht getätigt werden mußten. Kurz, wir benötigen ein Begriffsinstrumentarium, das der Wirtschaft wieder einen Sinn verleiht, indem es den Menschen nicht auf einen Aktiv- oder Passivposten der Bilanz reduziert. Ein dringendes Projekt für alle Ökonomen, die nicht im wirtschaftsliberalen Konformismus versackt sind.
2. Die Medien dem Zugriff des Kapitals entziehen
Die großen privaten Radio- und Fernsehsender, die die Masse der Zuhörer und Zuschauer erreichen, befinden sich weltweit in den Händen von Industrie- und Finanzkonzernen, die die Medien als Machtinstrument für andere Zwecke benutzen. In Frankreich läßt sich dieser Sachverhalt beispielsweise an TF1, M6 und Europe1 beobachten. Der „Marktjournalismus“ ist somit auch ein Resultat der (erzwungenen oder spontanen) Verinnerlichung dieser Zweckentfremdung.
Da dieselben Industrie- und Finanzgruppen sich ununterbrochen als Vorkämpfer der Informationsfreiheit gerieren, soll der Gesetzgeber sie beim Wort nehmen und in einem verbindlichen gesetzlichen Rahmen die Redaktionen zu geschützten Räumen erklären, sowohl in juristischer wie in finanzieller Hinsicht: Den Journalisten obläge dabei die alleinige Zuständigkeit für die Informationen (Nachrichtensendungen, Magazine), für welche sie dann vor der Öffentlichkeit allein verantwortlich wären. Den „Vermarktungsstrategen“, die gewöhnlich von der Wertschätzung der Aktionäre abhängen, obläge dabei die „Programmgestaltung“ und somit die Möglichkeit, den Auftraggebern von Werbesendungen Hörer und Zuschauer zu verkaufen.
Nebenbei bemerkt ließe sich am Kursabschlag im Gefolge dieser Maßnahme exakt ablesen, wie hoch der Börsenmarkt den derzeitigen politischen Einfluß bewertet, den Medienkonzerne wie Bouygues, CGE oder Matra-Hachette durch die inhaltliche Kontrolle über Radio- und Fernsehnachrichten ausüben. Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie Presseorgane, die nicht von den Redakteuren kontrolliert werden, müßten sich diesen Bestimmungen unterordnen, wobei für die Parteipresse Sonderregeln zu überlegen wären.
3. Die neuen Technologien allgemein zugänglich machen
Die explosionsartige Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien – mit dem Internet als Symbol – bringt derzeit eine „Informationsgesellschaft“ hervor, die allein dem Handel, der Macht der Großkonzerne und der US-amerikanischen Hegemonie dient. Der Bürger bleibt davon weitgehend ausgeschlossen. Jedoch sind diese Technologien, die in viele Bereiche der menschlichen Tätigkeit eingreifen, keineswegs neutral: Sie strukturieren die Art, wie wir lernen, denken, produzieren, austauschen, entscheiden und uns die Welt vorstellen. Die öffentliche Hand muß die gesellschaftliche Aneignung dieser Technologien zu einer Grundlage der staatsbürgerlichen Erziehung der Bevölkerung machen. Und zu diesem Zweck die Großunternehmen dieses Sektors zur Kasse bitten, anstatt ihnen die Schulen schlüsselfertig abzuliefern. Es ist nicht auszuschließen, daß eine solche Besteuerung die Verbreitung der multimedialen Anwendungen bremsen und uns so „ins Hintertreffen“ bringen könnte. Doch es besteht kein Grund zur Eile. Vordringlich ist allein, daß die Bürger an diesen neuen Waffen der demokratischen Praxis ausgebildet werden.
4. Allen ein Mindesteinkommen zusichern
Die Umwälzungen des Computerzeitalters ermöglichen die Produktion von immer mehr Gütern und Dienstleistungen mit immer weniger menschlicher Arbeit. Was eigentlich eine gute Nachricht sein sollte, dient nur allzu oft zur Rechtfertigung der Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile. Diese Logik gilt es umzukehren und die Waffen des „Re-engineering“ (Umgestaltung) in den Dienst des Bürgers zu stellen. Zunächst einmal müssen wir uns fragen, welche Gesellschaft wir wollen, und diesem Projekt müssen wir dann unter Einsatz aller vorhandenen Mittel, vor allem der politischen und technologischen, zu Leben verhelfen. Denn finanziell und technisch ist es durchaus möglich, einem jeden, unabhängig von seiner Arbeitssituation, eine Mindestabsicherung zu gewähren, das heißt ein garantiertes Einkommen und eine soziale Grundversorgung. Die Umverteilung von Arbeit und Einkommen im Rahmen einer „pluralen“ Wirtschaft, in der sich neben dem Markt ein solidarwirtschaftlicher Sektor entwickeln kann und immer mehr Zeit zur freien Verfügung steht – solche Vorschläge wurden in dieser Zeitung schon häufig erörtert. Was fehlt, ist der politische Wille zur Umsetzung, solange noch Zeit ist – bevor sozialer Ausschluß und Marginalisierung ein Ausmaß erreicht haben, das kein Zurück mehr erlaubt. Dies alles bezieht sich heute auf die nördliche Hemisphäre, soll jedoch schon morgen für die ganze Welt gelten.
5. Den Süden miteinbeziehen
Die Globalisierung der Finanzmärkte ist nicht nur nicht global, sondern sie verursacht überall dort, wo sie zum Zuge kommt, enorme soziale und ökologische Schäden. Ein trauriges Beispiel dafür ist Ostasien. Wen wundert das? Schließlich verfolgte das Kapital niemals einen anderen Zweck, als in möglichst kurzer Zeit möglichst hohe Gewinne zu erwirtschaften. Wobei es sich in seinen Niederlassungsgebieten, in denen es im übrigen stets nur kurzzeitig verweilt, einen Dreck um die Lage der Bevölkerung und die dortige Umwelt schert. Das von ihm exportierte „Entwicklungsmodell“ des reichen Nordens ist ökologisch nicht haltbar.
Den Süden miteinzubeziehen heißt: Wir müssen Schluß machen mit der Strukturanpassungspolitik, einen Großteil der öffentlichen Schulden streichen, die rapide sinkende Entwicklungshilfe aufstocken und durch Entwicklungszusammenarbeit die Entstehung binnenmarktzentrierter Volkswirtschaften fördern. Nur so kann in diesen Ländern ein gesundes Wachstum und eine ausreichende Nahrungsmittelproduktion sichergestellt werden. Darüber hinaus müssen wir massiv in den Bau von Schulen, Wohnungen und Gesundheitszentren investieren, Milliarden Menschen mit dem nötigen Trinkwasser versorgen usw.
Für den Norden bedeutet dies, daß er bereit sein muß, seine Lebensweise des Raubbaus (zumal in puncto Energieverbrauch) in Frage zu stellen und seine öffentlichen und privaten Ressourcen für die Schaffung eines neuen weltweiten Gleichgewichts zu mobilisieren – vor allem die Unsummen, die heute in den High-Tech-Wahnsinn gesteckt werden. Das soziale Band kann nicht an den Grenzen eines Gemeinwesens oder einer Nation Halt machen. In einer endlichen Welt muß es grenzüberschreitend gezogen werden. Wenn dies nicht geschieht, wird es nicht gelingen, die destabilisierenden Tendenzen (Massenmigrationen, Fundamentalismus) aufzuhalten, denen der Egoismus des Nordens den Weg ebnet.
6. Eine Weltöffentlichkeit schaffen
Auch wenn die Bürger ihre demokratischen Rechte nur im Rahmen der Nation effektiv ausüben können – vorausgesetzt, sie haben welche –, so macht die Globalisierung der anstehenden Probleme ebenso wie die Globalisierung der maßgeblichen Akteure (Finanzmärkte, transnationale Unternehmen, Mafia) Regulierungsmaßnahmen im Weltmaßstab notwendig. Theoretisch sind dafür die internationalen Organisationen und zwischenstaatlichen Behörden zuständig, deren Befugnisse erweitert werden müssen. Und wenn die Vereinigten Staaten, die ihre UNO-Beiträge nicht zahlen, die multilateralen Strukturen abzuwickeln wünschen, weil sie ihren Willen im Rahmen bilateraler Abkommen besser durchsetzen können, so kann die übrige Welt immerhin den Versuch unternehmen, sich ohne die USA zu organisieren. Warum fordert keine europäische oder asiatische Regierung, daß die UNO New York und der IWF beziehungsweise die Weltbank Washington verlassen – vorausgesetzt, daß IWF und Weltbank überhaupt weiterbestehen sollen?
Allerdings bleiben internationale Superstrukturen ohne eine gleichgewichtige internationale Öffentlichkeit wohl das, was sie sind: oligarchische oder bürokratische Organisationen. Zu fördern sind daher alle Initiativen, die grenzüberschreitende Zusammenhänge schaffen oder festigen und zur Herausbildung eines Weltbewußtseins beitragen: Netzwerke auf gewerkschaftlicher, religiöser, sportlicher und kultureller Ebene, Bürgerinitiativen, humanitäre und andere regierungsunabhängige Organisationen, Vereinigungen, die auf einer gemeinsamen Sprache basieren (Frankophonie, Hispanophonie, Lusophonie), Partnerschaftsabkommen für solidarische oder alternative Wirtschaftsbeziehungen, Initiativen für einen fairen Handel – die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Ohne diese Vereinigungen zu idealisieren (die häufig nicht sonderlich demokratisch vorgehen) oder ihnen eine Repräsentativität zuzuschreiben, die nur das allgemeine Wahlrecht verleihen kann: Fest steht, daß wir eine Fülle solcher Initiativen brauchen, wenn auch nur der Keim einer globalen Öffentlichkeit entstehen soll, die imstande ist, Druck auf die Regierungen und die internationalen Organisationen auszuüben und Lernprozesse bei ihnen in Gang zu setzen.
7. Die Finanzmacht entwaffnen
Die unerläßliche Rückkehr zum Primat der Politik und der Bürgerrechte impliziert die Rückeroberung jener Räume, die an die Finanzsphäre verlorengegangen sind. Einige der Mittel hierfür sind bereits bekannt: Wir brauchen eine signifikative Besteuerung des Kapitals, der Finanzprofite und Transaktionen auf den Devisenmärkten. Öffentliche und halböffentliche Unternehmen dürfen keine Konten bei Banken eröffnen, die Filialen in Steueroasen unterhalten, wobei die entsprechende Länderliste ständig zu aktualisieren und allgemein bekanntzumachen ist. Wir müssen eine internationale Kampagne initiieren, um die Aktionäre von Privatunternehmen zu bewegen, sich diesem Ziel anzuschließen. Das „Bankgeheimnis“ muß fallen, besonders in der Schweiz und in Luxemburg. Pensionsfonds dürfen nicht an die Stelle der Rentenversicherung treten, die nach dem Umlageverfahren funktioniert. Dies sind die Themen der internationalen Vereinigung für die Tobin-Steuer, Attac, die sich gerade in der Gründungsphase befindet (vgl. Le Monde diplomatique, Dezember 1997).
8. Sozialnormen und Umweltauflagen durchsetzen
Zügelloser Freihandel oder freie Geschäftemacherei führen durch die systematische Ausnutzung von Billigarbeitskräften bei gleichzeitiger rücksichtsloser Umweltvernichtung zu sozialer Desintegration. National wie regional sollten die lokal produzierten Güter in der Regel auch lokal konsumiert werden, während Ein- und Ausfuhr die Ausnahme bleiben sollten. Dies impliziert keineswegs eine Autarkiepolitik. Es ist nur das einzige Mittel, um die Stabilität der verfaßten Einheiten – seien es Länder oder regionale Länderzusammenschlüsse –, die demokratische Kontrolle ihrer Entwicklung und eine Sicherung ihrer Sozialsysteme (Gesundheit, Bildung, Renten usw.) zu garantieren. Werden Güter oder Dienstleistungen importiert, bei deren Produktion die im Importland geltenden Sozialnormen und Umweltauflagen nicht respektiert wurden, müssen die dadurch verursachten Kosten auf den Verkaufspreis aufgeschlagen werden, beispielsweise in Form einer variablen Einfuhrabschöpfung. Gleiches gilt für die „externalisierten“, das heißt auf die Gemeinschaft abgewälzten Kosten der Umweltverschmutzung, die in Folge des grenzüberschreitenden Warenverkehrs auftreten.
Die durch eine solche Einfuhrabschöpfung zusammenkommenden Summen bleiben nicht im Importland oder der Importregion, sondern werden unter noch festzulegenden Konditionen an die Exportländer oder –regionen ausgezahlt und dort in Bildungs- und Sozialprogramme, kulturelle Projekte usw. investiert. Derzeit streichen die transnationalen Unternehmen diesen Differenzbetrag ein. Daß solche Maßnahmen einen radikalen Umbau der Welthandelsorganisation WTO erfordern, springt ins Auge.
9. Ein echtes MAI erarbeiten
Das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) – eine Art universelle Kapitalrechtserklärung – zeigt, daß die Vertreter der OECD-Mitgliedstaaten bereit sind, auf jede Verteidigung des Gemeinwohls zu verzichten, um die grenzenlosen Ansprüche der Investoren zu befriedigen. Der Druck der Öffentlichkeit – der die französische Regierung bereits zu einem Teilrückzug zwang – darf nicht nachlassen, auch wenn der Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens verschoben wurde. Nutzen wir die Gelegenheit vielmehr zur Ausarbeitung eines echten MAI: Es sollte den Bürgern in den Empfängerländern der Auslandsinvestitionen Rechte garantieren und den Investoren Pflichten auferlegen: u.a. die bedingungslose Einhaltung aller derzeitigen und künftigen Sozial- und Umweltnormen; die Auflage, einen bestimmten Prozentsatz der Wertschöpfung am Produktionsort einzusetzen, einen Teil der Produktion im Empfängerland zu verkaufen und einen Teil des Gewinns dort zu reinvestieren; die Rückzahlung öffentlicher Finanzhilfen einschließlich Zinsen sowie hohe Geldstrafen bei Produktionsverlagerung ins Ausland.
10. Europa zum Hebel der Veränderung machen
Eine nach den genannten Grundsätzen neugegründete Europäische Union besitzt die nötige Macht und Legitimation, um solche Maßnahmen durchzuführen. Derzeit befindet sich die EU jedoch auf einem anderen Gleis: immer mehr Liberalisierung, Freihandel und Vorteile für das Finanzkapital, auch wenn sie sich jüngst der spontanen Unterordnung unter US-amerikanische Interessen verweigerte und vorerst (glücklicherweise) das Projekt eines Neuen Transatlantischen Markts aufgab.
Eine Regierung mit historischem Weitblick und Problembewußtsein bräuchte sich vor der zeitweiligen „Krise“, die sie mit der Forderung nach einer „Pause“ auslösen würde, nicht zu fürchten, und um eine solche Pause geht es: um eine „Denkpause“ für die von der Europäischen Kommission betriebene allseitige Liberalisierungspolitik, begleitet von einer offenen Debatte über die bisherigen „EU-Errungenschaften“. Nur so läßt sich herausfinden, welches Europa die Menschen wirklich wollen, und nur so haben wir genügend Zeit, mittels einer gründlichen Diskussion ein wirkliches Zivilisationsprojekt für die Welt des nächsten Jahrhunderts zu erarbeiten. Gigantische Generalstände, deren Debatten in einem neuen Manifest münden würden – dem des „Vorrangs für den Citoyen“. Damit wäre einer europäischen Öffentlichkeit weitaus mehr gedient als durch die jahrzehntelange Praxis, nichts klar und deutlich auszusprechen und stets vollendete Tatsachen zu schaffen.
dt. Bodo Schulze