Das Heysel-Syndrom
Am 29.Mai 1985, vor Beginn des Endspiels um den Europapokal der Landesmeister kommt es im Brüsseler Stadion zu Ausschreitungen. Panik entsteht. Am Ende sind 39 Menschen tot. Damals, zur Hochzeit der Terrorismus-Debatte in Frankreich, kommentierte Jean Baudrillard dieses Ereignis.
■ Von JEAN BAUDRILLARD *
HEYSEL-STADION, Brüssel, 29. Mai 1985: Um etwas von dem zu verstehen, was sich dort ereignet hat, muß man daran erinnern, daß wir es hier in erster Linie mit einem am Fernseher beobachteten Ereignis zu tun haben, mit einem ultramodernen televisuellen Ereignis also, das sich von ähnlichen Zwischenfällen in den Sportarenen der Dritten Welt unterscheidet. Die weltweite Verstörung betrifft weniger die Gewalt als solche, sondern vielmehr die globale Verbreitung des Ereignisses durch das Fernsehen, die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Globalisierung. Getrost vergessen sollte man derweil alle banalen Hypothesen des Typs: „Wie ist eine solche Barbarei im ausgehenden 20. Jahrhundert überhaupt möglich?“ oder auch: „Gewalt ist eben immer ein Ventil kollektiver Triebkräfte oder des sozialen Elends.“ Diese Erklärungsmuster sind sämtlich Platitüden.
Statt das Wiederaufleben atavistischer Gewalt zu beklagen, muß man einsehen, daß unsere Modernität selbst es ist, unsere Ultramodernität, die diese Sorte Gewalt, diese speziellen Auswirkungen zeitigt, denen auch der Terrorismus zuzurechnen ist (doch davon später). Die traditionelle Gewalt, wie sie unter anderem in Ländern der Dritten Welt anzutreffen ist, ist ungleich leidenschaftlicher und sakrifizieller, rituell und spontan zugleich. Unsere Gewalt hingegen ist simuliert, in dem Sinn, daß sie weniger der Leidenschaft oder dem Instinkt entspringt als vielmehr dem Bildschirm; in gewissem Sinne ist sie auf dem Bildschirm und in den Medien angelegt; diese tun zwar so, als würden sie sie aufzeichnen und nachträglich ausstrahlen, doch in Wirklichkeit kommen sie ihr zuvor und fordern sie heraus. Wie überall sind die Medien dieser Gewalt (wie auch den Terrorakten) um einen Schritt voraus. Das macht sie zu einem spezifisch modernen Phänomen und der traditionellen Gewalt absolut inkommensurabel. Darum auch läßt sie sich auf wirkliche (politische, soziologische oder psychologische) Gründe nicht zurückführen: alle derartigen Erklärungen greifen zu kurz.
Bestürzend für mich ist, daß ein solches Ereignis in gewisser Weise von aller Welt erwartet, herbeigesehnt wird. Jedenfalls wird es vom Fernsehen erwartet (damit wir uns recht verstehen: dies ist keine moralische Verurteilung des Fernsehens oder seiner Mitarbeiter, sondern eine seine Funktionsweise betreffende Feststellung), so daß es heutzutage geraten scheint, sich nicht an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, an denen das Fernsehen zugegen ist, weil die starke Wahrscheinlichkeit besteht, daß dessen bloße Anwesenheit ein gewaltsames Ereignis zur Folge hat. Wir alle sind gleichsam heimliche Komplizen in der Erwartung eines verhängnisvollen Geschehens, selbst wenn wir überrascht und bestürzt sind, wenn es dann eintritt.
Es wird viel erzählt: daß sich englische Polizisten unter den Liverpooler Fans befanden (eine Thatchersche Provokationsstrategie), daß Behörden und belgische Polizei scheinbar absichtlich günstige Voraussetzungen für die gewalttätige Eskalation geschaffen haben (die ohnehin vorauszusehen war) – aber das ist zweitrangig, verglichen mit jener Art von kollektivem Taumel, jener Art, sehenden Auges auf das mögliche Blutbad zuzusteuern, es nach terroristischem Vorbild herauszufordern. Ein Ereignis wie dieses ist kein Zusammenstoß feindlicher Kräfte, kein Aufeinanderprallen antagonistischer Leidenschaften, es ist das mörderische Ergebnis müßiger und indifferenter Kräfte (zu denen auch die träge vor dem Fernseher hockenden Zuschauer gehören), es ist die mörderische Kommunion der Indifferenz. Die offene Gewalt der Hooligans steht nicht im mindesten für irgendeine Forderung, sondern ist die ins Extrem getriebene Form der Indifferenz, die sich nur entfalten kann, weil sie sich vor einem Hintergrund allgemeiner Indifferenz abspielt, wie sie für unsere Gesellschaften charakteristisch ist.
Wie der Terrorismus auch, ist diese Gewalt im Grunde weniger ein Ereignis als vielmehr die explosive Form, die die Ereignislosigkeit annimmt. Oder richtiger, die implosive Form: Es ist die politische Leere (weniger die Verbitterung einer Randgruppe), ist das Verstummen des Sozialen und der Geschichte (weniger das psychologisch Verdrängte der Individuen), ist die Indifferenz und das Schweigen aller, was in diesem an und für sich sinnlosen Ereignis auf brutale Weise implodiert. Es handelt sich also um keine zeitweilige Verirrung unserer Gesellschaften: es liegt vielmehr in der ihnen eigenen, die Beschleunigung ins Leere forcierenden Logik.
(...) Die Frage, die sich stellt, lautet: „Warum hat niemand, vermutlich nicht einer von den hundert Millionen Fernsehzuschauern, sein Gerät ausgestellt und würde es wohl auch für alles Geld der Welt nicht getan haben?“ Warum hätte er es im übrigen auch tun oder sich seines Zuschauens schämen sollen? Wenn die Spieler die Verantwortung übernommen haben, zu spielen, warum dann die Fernsehzuschauer nicht auch die, zuzuschauen? Es gibt keinen moralischen Grund, sein Gerät in einem solchen Fall abzustellen (...). Im Gegenteil, der wahre moralische Imperativ unserer Zeit ist es, „immer dranzubleiben“.
Jedenfalls ist das Fernsehen die Reagenzglaszeugung eines Ereignisses als Spektakel, ein gläsernes Auge, das einen in einen Zustand glasig dreinschauender oder durchscheinender und völlig verantwortungsloser Komplizenschaft versetzt. Es ist also aussichtslos, einen derartigen Prozeß stoppen zu wollen, da es ein Mattscheiben-Prozeß ist, der, wenngleich nicht auf die Mattscheibe begrenzt, in ihr doch seinen Ausgang nimmt.
Ich sehe darin noch eine weitere, in gleichem Maße moderne Logik am Werk. Bei diesem Vorfall resultiert die Gewalt auch aus einer brutalen Rollenverkehrung: Die Zuschauer werden zu Akteuren, treten an die Stelle der auf dem Platz Agierenden und erfinden, unter dem Auge der Medien, ihr eigenes Spektakel (...). Seien wir einmal ganz offen: Handelt es sich hier nicht um das, was man von der modernsten Kultur fordert? Wird nicht von jedem Zuschauer verlangt, seine kontemplative Trägheit aufzugeben, zum Akteur, Teilnehmer zu werden und das Spektakel möglicherweise auf den Kopf zu stellen? (...)
Paradoxerweise materialisiert sich gerade in solch bestialischen Ereignissen das Ideal einer modernen, teilnehmenden Hypergesellschaft auf erschreckende Weise. Man mag es bedauern, aber was bedeutet das schon: Zweihundert zerschlagene Stühle bei einem Rockkonzert sind ein objektives Zeichen des Erfolgs. Wo hört Teilnahme auf, wo beginnt Ausschreitung?
Freimütig führten die Römer derartige Spektakel mit Tieren und Gladiatoren direkt in den Arenen auf; wir gönnen sie uns nur in den Kulissen oder auf den Tribünen und verurteilen sie im Namen der Reinheit des Sports (wenngleich wir sie uns weltweit televisuell zu Gemüte führen). Schließlich glauben wir ja, oder tun, als glaubten wir, daß die wahre Bestimmung des Stadions immer noch der Sport ist. Werfen wir jedoch einen Blick auf die Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles (...), die bereits von einer auf ihre Weise terroristischen Aura der Machtdemonstration überschattet waren – die Weltspiele des Sports wurden zu einer Strategie des Kalten Krieges erhoben: eine Pervertierung des olympischen Prinzips. Hat man sich einmal von diesem Prinzip verabschiedet, kann der Sport zu jedem beliebigen Zweck herhalten: Als Leistungsschau des Prestiges oder der Gewalt verkommt er von einem Spiel des Kräftemessens und der Repräsentation zu einem Zirkusspiel und leeren Taumel (...). Und auch das entspricht der allgemeinen Tendenz unserer Gesellschaften: Übergang von den Systemen der Repräsentation zu Systemen der Simulation und des Taumels. Das macht auch vor der Politik nicht Halt. Ich würde übrigens soweit gehen, in der Tragödie von Heysel eine Form von Staatsterrorismus zu sehen; dieser äußert sich ja nicht bloß in geplanten Aktionen (CIA, Israel, Iran). Es existiert vielmehr eine Art der Politikführung, die auf Katastrophen spekuliert, auf die Provokation der eigenen Bürger, eine Art, ganze Schichten der Bevölkerung der Verzweiflung preiszugeben, sie in eine nachgerade suizidäre Situation zu stürzen, wie es heutzutage zur Politik einiger moderner Staaten gehört. Darin bestand jedenfalls die Politik einer Frau Thatcher; ihre Strategie, die Verhältnisse auf die Spitze zu treiben, versetzte den Bergarbeitern den Todesstoß – so daß diese sich in den Augen der Öffentlichkeit schließlich selbst disqualifizierten. Gegenüber den Hooligans die gleiche Strategie: Es ist ganz so, als hätte sie aus ihnen verzweifelte Rollkomandos gemacht und sie außer Landes geschickt – natürlich wurden sie im Namen der Moral verurteilt, tatsächlich aber ist die von den Hooligans demonstrierte Brutalität die gleiche wie die von Frau Thatchers Machtausübung. Diese Liquidationsstrategie, die den Protektionismus und den welfare abgelöst hat und unter dem Vorwand der Krise von allen modernen Staaten auf mehr oder weniger drastische Weise praktiziert wird, führt unweigerlich zu derartigen Extremformen.
In Ermangelung einer entschlossenen und konzertierten Politik (die vielleicht nicht mehr möglich ist) und unfähig zu einer rationalen Steuerung gesellschaftlicher Prozesse, erlebt der Staat den sozialen Zerfall. Er funktioniert nicht mehr über politische Willensbildung, Repräsentation und politische Entscheidung, sondern über Arbeitslosigkeit, Abschreckung, Simulation, Provokation oder spektakuläre Stimulation. Er entwickelt eine Politik der Indifferenz, gerade auch der Indifferenz gegenüber dem Sozialen (...). Das genau ist die Realität des Transpolitischen, die sich hinter der ganzen offiziellen Politik der Teilnahme verbirgt, die bloß eine zum Scheitern verurteilte Mattscheiben-Politik ist. Eine Doppelstrategie also, und in gewissem Sinne eine zynische Parteinahme für das Verschwinden des Sozialen. Die Hooligans treiben die beiden Seiten der transpolitischen Situation nur auf die Spitze: sie treiben das Bedürfnis des Teilnehmens in sein tragisches Extrem und treiben gleichzeitig ein erpresserisches Spiel mit Gewalt und Liquidierung. Nichts anderes machen die Terroristen. Und was uns an diesem Vorgang allem menschlichen oder moralischen Abscheu zum Trotz fasziniert, ist die Aktualität dieses Modells, wie es von den Medien vervielfältigt wird, deren Arbeit nicht minder zweideutig ist, da sie gleichzeitig Nachrichten erstellen und die Liquidierung des Sinns betreiben. Ereignisse dieser Art halten unserem eigenen Verschwinden als politischer Gesellschaft den Spiegel vor.
Die Szenen im Brüsseler Heysel-Stadion, die sowohl an „Blade Runner“ wie an „Rollerball“ erinnern, sind eine Vorwarnung. Sie haben nicht umsonst die Gemüter in aller Welt aufgestört. Sie sind Anzeichen für ein unbegreifliches Ereignis: für die Implosion unserer Gesellschaften, für ihren allmählichen oder brutalen Schrumpfungsprozeß vor der Kulisse von Expansion und Reichtum. Diese Ereignisse sind einzig und allein faszinierend, weil nur sie die Phasen unserer indifferenten und involutionären Logik aufzeigen, die die Pseudo-Ereignisse des sogenannten Politischen, die des alten Repräsentationssystems, verzweifelt zu verschleiern suchen.
dt. Christian Hansen
* Philosoph, Soziologe und Schriftsteller; zuletzt erschien auf deutsch „Amerika“, aus dem Frz. v. Michaela Ott, und „Das perfekte Verbrechen“, aus dem Frz. v. Riek Walther, beide München (Matthes & Seitz) 1995 bzw. 1996. Der vorliegende Text erschien erstmals in der Zeitschrift Autrement, Mai 1986, S. 159-163.