12.06.1998

Wenn die Stars vom Himmel fielen ...

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Wenn die Stars vom Himmel fielen ...

OHNE die Stars gäbe es die Schallplattenindustrie wohl nicht. Ebenso wie der Film ist die Musikaufnahme ein Kulturgut mit künstlerischem Inhalt und von großem symbolischem und identitätsstiftendem Wert. Der Künstler und das, was er repräsentiert, verleihen dem Musikkonsum seinen Sinn. Hinter dem „Publikumsgeschmack“ stehen also gesellschaftliche Vorstellungen, die der Künstler verkörpert.

Zu den Weltstars der derzeitigen Musikmythologie gehören Barbra Streisand, David Bowie, Genesis, Jean-Michel Jarre, Julio Iglesias, Michael Jackson und Madonna ebenso wie Luciano Pavarotti, Prince, Ray Charles, die Scorpions, U2 und andere. Sie bewegen die Menschheit, sorgen für Verkaufserfolge (in der Regel mehr als 100 Millionen Platten) und für entsprechenden Medienrummel. Auf ihren Tourneen um die ganze Welt haben sie überall das gleiche Merchandising im Gepäck.

Man muß allerdings unterscheiden zwischen den „Sternschnuppen“ und den etablierten Stars, deren Erfolgsproduktionen auch lange nach der Veröffentlichung noch in den Back-Katalogen der Majors verzeichnet sind. Wird zum Beispiel die englische Gruppe Oasis, die zur Zeit alle Hitparaden erobert, den Aufstieg in den Gotha der Musik schaffen, wo die seit mindestens einem Jahrzehnt Etablierten versammelt sind, gemeinsam mit den „Großen Alten“, die selbst nicht mehr aktiv sind, aber als obligatorische Referenzen quasi einen Heiligenschein besitzen?

Im Bereich der symbolischen Produkte kommt dem Starkult eine enorme wirtschaftliche Bedeutung zu. Man braucht den Star, denn er bedeutet, daß das Publikum einen Künstler wiedererkennt, daß dieser also eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Daß sein Name aus der breiten Masse hervorsticht. Im Zuge der permanenten Weiterentwicklung der Reproduktionstechnologien im Bereich von Ton und Bild hat sich der Starkult enorm ausgeweitet.

Bei jedem neuen Album der Stars rollt spätestens zum Zeitpunkt des Erscheinens eine weltweite Kampagne an, die sich auf die großen Medien, die Presse und die Fachorgane stützt. Es handelt sich hierbei um eine wahrhaftige Inszenierung, die einer hohen Regiekunst bedarf und sich eindrücklicher Bilder bedient. Dies gilt sowohl für den Auftritt von Michael Jackson – nebst Doppelgängern – beim Filmfestival in Cannes, für den von Mstislaw Rostropowitsch am 11. November 1989 an der Berliner Mauer wie für den von Elton John bei der Beerdigung von Prinzessin Diana, wo er einen ihrer Lieblingsschlager – umgedichtet – vortrug. Die Aufnahme, nach drei Wochen bereits weltweit auf dem Markt, hat sich mittlerweile in über 33 Millionen Exemplaren verkauft. Wenn es denn eines Beweises bedürfte, dann bezeugen diese drei Ereignisse, welch hoher Rang der Musik und den Interpreten in der Mediengesellschaft zukommt.

Die Produktion eines musikalischen Werkes selbst allerdings ist eine quasi handwerklich organisierte Teamarbeit, an der Textschreiber, Arrangeure, Toningenieure, Produzenten u. a. beteiligt sind. Sehr oft sind Produktionsstrukturen deshalb unabhängig und klein, weil dies der notwendigen Kreativität am förderlichsten ist. Denn bei derlei Größenordnungen wirken Marketingstrategien nicht in die Konzipierung eines Produktes hinein. Natürlich finden diese Strategien in dem Moment Anwendung, wo jemand „marktgerechte“ Künstler sucht. Was es aber nicht gibt, ist die Fabrikation eines Musikstücks aus dem Nichts, nur aufgrund einer vorhandenen Nachfrage, was bedeuten würde, daß das künstlerische Team sich in einen Erfüllungsgehilfen der jeweiligen Konsumentenerwartung verwandelte.

Vor allem bei der Vermarktung, bei der Inszenierung des Produkts und bei der Verfertigung des Künstlerimages greift man auf Marketingstrategien zurück. Diese liefern die standardisierten Verfahren beim Aufbau der Stars. Die Kritik, es gebe keine wahre Kreativität mehr, weil alle Künstler längst nur noch Marketingprodukte seien, ist wirklichkeitsfern. Nach wie vor spielt die Innovation im künstlerischen Bereich eine große Rolle. Sie sorgt dafür, daß sich die Branche und die Produkte permanent regenerieren.

Wie vermarktet man ein Produkt international?

WELTSTARS sind Produkte der Industrie, die sich dem Siegeszug der Schallplatte verdanken. Der erste war der Tenor Enrico Caruso, der schon zu Beginn des Jahrhunderts Weltruhm erlangte, als die Plattenindustrie noch ganz auf Operngesang und Klassik setzte, um das wohlhabende Publikum zu bedienen. Caruso, von 1903 bis 1920 Erster Tenor an der New Yorker Metropolitan Opera, hat in seinen späten Jahren sein Repertoire auch um Lieder der „leichten Muse“ erweitert, vor allem um neapolitanische Volkslieder, was seine Popularität weiter steigerte.

In der Zwischenkriegszeit waren es die Stars der Music Hall wie Josephine Baker und Maurice Chevalier, die in den Himmel der Schallplattenproduktion (damals noch Langspielplatten mit 78 Umdrehungen) aufstiegen. Ost- und Westküste der USA beherrschten den Weltmarkt, der damals ein Aggregat der nationalen Märkte war. Ein Künstler mußte zunächst in einem Land den Durchbruch schaffen, dann konnte er mit Hilfe des internationalen Vertriebsnetzes die anderen Länder erobern. Dieses Schema blieb bis in die fünfziger Jahre erhalten, so lange, wie die Sprache eine mächtige Bremse für die „supranationalen“ Produktionen darstellte.

Doch bereits 1945 konnten sich überall, wo die USA präsent waren, amerikanische Stars, crooner (wie Bing Crosby und Frank Sinatra) ebenso wie die Großen des Jazz, international durchsetzen, und man hörte sie in der Originalsprache.

Der wirkliche Umbruch vollzog sich Mitte der fünfziger Jahre mit Elvis Presley – dem „King“ – und dem Rock 'n' Roll. Amerika wird das Zentrum der musikalischen Welt, so daß am Ende der „Fifties“ sich nicht nur die Kultur der USA, sondern der ganzen Welt grundlegend veränderte; selbst vor dem Eisernen Vorhang machte diese Entwicklung nicht völlig halt.

Die neue Musik und ihre Stars setzten sich in ihrer Originalsprache durch. Englisch ist kein Hindernis mehr, sondern ein Trumpf. Auch dort, wo nicht in englisch gesungen werden kann, ist Amerika entweder das Vorbild, das man (trotz Verbot) kopiert – wie in der Sowjetunion –, oder es ist die Produktionsstätte für Hits, die von den jeweils einheimischen Schlagerstars in die Landessprache transponiert werden – etwa Johnny Hallyday in Frankreich. Doch im Laufe der sechziger Jahre verdrängen englischsprachige Produktionen in Westeuropa die deutschen und romanischen Produkte; die Stars der neuen Generation heißen Beatles und Stones.

Träger dieser Entwicklung sind die Singles, der Plattenspieler und das tragbare Transistorradio. Diese drei Elemente haben den identitätsstiftenden Charakter der Musik gerade für die Jugend enorm vorangetrieben. Jugendliche Konsumenten werden zunehmend wichtiger, als Plattenkäufer wie als Konzertbesucher. Die Rockmusik artikuliert ihren Protest, und die Rockstars sind ihre Idole.

Ganz gleich, ob es die Protestsongs der Hippiebewegung (von Joan Baez, Leonard Cohen oder Bob Dylan) sind, die man noch heute unmittelbar mit den großen Festivals von Woodstock und der Isle of Wight assoziiert, oder ob es die Discomusic am Ende der siebziger Jahre ist: Die Amerikaner geben den Ton an. 1976 etwa entsteht die Gruppe Village People, die zwar von einem französischen Produzenten lanciert wird, sich aber am multikulturellen Bild Amerikas orientiert.

In den achtziger Jahren erlebt die Schallplattenindustrie dank der technologischen Revolution der CD einen Boom; neue Inhalte entwickeln sich, allen voran Hard Rock, Rap, Dance Music, Techno und World Music. Sie alle greifen auf angelsächsische Terminologien zurück, und abgesehen von Salsa und World Music ist alles, was sich nicht englisch anhört, kaum international durchsetzbar. In Europa profitiert England am meisten von dieser Situation, denn seit den sechziger Jahren ist London die zweitwichtigste Metropole der Musikproduktion.

Man wird nicht als Weltstar geboren; man wird einer. Gefragt ist die Fähigkeit eines Systems, das aufzubauen, was langfristig entscheidend ist: nämlich den Künstler, der weltweit anerkannt ist, denn das ist schließlich das wichtigste, wenn man ein Produkt weltweit vertreiben will.

Wie haben die lokalen Märkte, die ursprünglich räumlich begrenzt und kulturell verschieden waren, diese „ausländischen“ Produkte aufgenommen – in ihre Sprache und Kultur, die sich zunehmend „internationalisierte“? Wie wenig selbstverständlich das ist, liegt auf der Hand. Die ständige Berieselung durch Radio und Werbung, gewiß ein unmittelbar einleuchtender Grund, erklärt das Phänomen nur zum Teil. Bekanntlich hat eine vergleichbare Berieselung auch schreckliche Mißerfolge gezeitigt.

Wie steuert man ein Image im Cyberspace?

DIE weltweite Promotion ist Ursache und Wirkung zugleich. Sie wirkt sich unmittelbar auf die Verkaufszahlen aus, aber sie beruht auf einer Hintergrundentscheidung darüber, welche Werbemittel ein Major für eine Produktion einsetzen will. Wenn diese von den Medien und vom Markt gut aufgenommen wird, dann entsteht schnell eine dynamische Wechselwirkung von Nachfrage und Werbung: Das eine pusht das andere und umgekehrt. Natürlich werden die Werbemittel für einen bekannten Namen, der eine neue Platte herausbringt, von Anfang an in angemessener Höhe festgelegt. Auf jeden Fall muß der Major diese Maßnahme effizient durchführen, was eine Koordination zwischen der Zentrale und den verschiedenen Tochtergesellschaften in den einzelnen Ländern verlangt.

Wird der Cyberspace die gegenwärtigen Gegebenheiten spürbar verändern, indem er zum Beispiel die Stars aus Fleisch und Blut durch virtuelle Stars ersetzt? Auf jeden Fall beruht die zunehmende Bedeutung der Stars in der Gesellschaft neben ihrer anerkannten Professionalität auf den gesellschaftlichen Vorstellungen, die sie mit ihrem Image bedienen, und auf ihrer Fähigkeit, sich zu Meinungsmachern aufzuschwingen. Sie sind also weder Roboter noch Marionetten.

Die Cyberwelt wird sich den Künstlern aber als ein neuer „Raum für Werbefeldzüge“ darbieten: Wenn nicht für sie oder von ihnen selbst spezielle Websites eröffnet werden, dann lassen auf jeden Fall die Websites der Schallplattenfirmen, die für Produktinformationen vorgesehen sind, genug Raum für die Werbung für die Künstler. Ebenso wie die Platte nicht das Ende der Bühnenauftritte bedeutet hat, wird das Internet nicht die Totenglocke für die Musikaufnahmen sein, und noch viel weniger für die Stars.

M. d'A.

Le Monde diplomatique vom 12.06.1998, von M. d'A.