10.07.1998

Mäandernde Grenzen

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Mäandernde Grenzen

BEREITS vor zwei Jahren haben die Regierungen Eritreas und Äthiopiens eine geheime Kommission gebildet, um über die Zukunft der „umstrittenen Grenzgebiete“ zu verhandeln; viel mehr als eine Auflistung der Streitpunkte ist dabei nicht herausgekommen.

Formal scheint Eritrea in der besseren Position: In zwei Erklärungen vom 14. und 20. Mai 1998 wird lediglich Anspruch auf die „koloniale“ Grenzlinie erhoben, die zu Anfang dieses Jahrhunderts zwischen dem Königreich Italien und dem Kaiserreich Äthiopien gezogen worden war. Den genauen Grenzverlauf regelten mehrere internationale Abkommen, die nach der Niederlage der italienischen Truppen 1896 bei Adua von Menelik II., dem damaligen Kaiser von Äthiopien, ausgehandelt worden waren. Der entscheidende Vertrag, der zwischen drei Parteien – England, Italien und Äthiopien – geschlossen wurde, datiert vom 15. Mai 1902 und korrigiert das italienisch-äthiopische Abkommen vom Juli 1900. Mit diesem trilateralen Abkommen ist jener westliche und mittlere Grenzabschnitt festgelegt worden, in dem sich die jüngsten Zwischenfälle zugetragen haben. Von West nach Ost folgt die Grenzlinie von Khor Um Hagger an der sudanesischen Grenze dem Fluß Tekeze (Setit) bis zu dessen Mündung in den Maieteb und stößt von dort in gerader Linie nach Norden auf den Zusammenfluß von Mereb und Ambessa. Über weite Teile der zentralen Hochebene folgt sie dem Mereb, sodann Richtung Osten dessen Zufluß Melessa und schließlich dem Fluß Muna.

Offiziell hat die äthiopische Regierung diesen seit 1902 unverändert gebliebenen Grenzverlauf nie bestritten. Er findet sich so auf allen äthiopischen Landkarten, ob sie touristischen oder Verwaltungszwecken dienen, auch auf den Karten, die ausländischen Diplomaten am 19. Mai dieses Jahres vom Außenministerium in Addis Abeba ausgehändigt wurden.

Die Eritreer werfen jedoch den Behörden in Tigre vor, eine andere Karte zu verwenden, die 1997 in Mekele, der Hauptstadt des Gliedstaates, erschienen sein soll. Dieser Karte nach beansprucht Äthiopien kleinere Gebiete nördlich der Linie Melessa-Muna (Tserona, Belissa, Alitenia) und ein größeres Gebiet westlich der geraden Linie zwischen dem Tekeze und dem Mereb: das Gebiet von Badme, wo die Vorfälle von Anfang Mai für Zündstoff gesorgt haben.

UM 1902 war das Gebiet von Badme ödes Land, der Name bezeichnete schlicht die Ebene, durch die die Grenze führte. Sie liegt unterhalb der abessinischen Hochebene, ein Ausläufer der eritreischen Steppenregion Gash-Setit, die sich Richtung Westen bis zum Sudan erstreckt.

In den vergangenen Jahrzehnten siedelten sich im Gebiet von Badme mehr und mehr Bauern an, die aus der eritreischen und tigreischen Hochebene kamen sowie aus den Dörfern der Kuneimas, der Ureinwohner des Landes. Als die Vereinten Nationen 1952 Eritrea Äthiopien zuschlugen, verlor die Grenze von 1902 ihre Bedeutung. Nicht zum Schaden des Ras Mengesha, Herrscher von Tigre, der auf beiden Seiten der Grenze Pflanzungen anlegen ließ, die vom tigreischen Shire aus verwaltet wurden.

Seither ist das Gebiet immer wieder zum Zankapfel geworden. So bekämpften sich hier in den Jahren 1976 und 1981 die Guerillaorganisationen der Eritreischen Befreiungsfront (ELF) und der Tigreischen Volksbefreiungsfront (TPLF). Aber die Aufständischen waren zugleich Verbündete im Kampf gegen Oberst Mengistu Haile Mariam. Nachdem sich die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) unter den eritreischen Buschrebellen durchgesetzt hatte, trat die Grenzangelegenheit vorläufig in den Hintergrund. Das Regime Mengistu machte die Sache allerdings noch komplizierter, als es 1987 die Verwaltungsgrenzen einer Korrektur unterzog. Auch als nach Ende des Krieges 1991 Soldaten beider Länder längs der Grenze patrouillierten, betrachteten die Tigreer das Gebiet von Badme noch als das Ihre. Die eritreisch-äthiopische Verhandlungskommission mußte sich also mit einer Situation zurechtfinden, die nur dem Papier nach eindeutig war: Beide Staaten akzeptieren ebenso wie die Vereinten Nationen und die Organisation der Afrikanischer Einheit (OAU) den „kolonialen“ Grenzverlauf – vor Ort ist die Lage jedoch sehr verworren. Um so mehr, als der Vertrag von 1902 genau in diesem Gebiet einen Vertrag von 1900 korrigierte und Eritrea ausdrücklich das Stammesgebiet der Kuneimas zusprach, die sich um eine imaginäre Linie mitten durch die Ebene ganz offensichtlich nicht scherten.

Rechtsunsicherheit herrscht seit 1991 ebenso in den kleineren Gebieten des mittleren Grenzabschnitts, auf die die Tigreische Volksbefreiungsfront (TPLF) bereits in den siebziger Jahren Anspruch erhoben hatte. Auf dem Papier ist dieser westliche und mittlere Grenzabschnitt zwischen Äthiopien und Eritrea immerhin klar definiert, was für die östliche Grenzlinie, parallel zum Roten Meer bis nach Dschibuti, die das eritreische Dankalie vom äthiopischen Afar trennt, nicht eben gilt. Der Vertrag von 1908 sah vor, daß die Grenze dem Küstenverlauf in einer Distanz von 60 Kilometern folgen und eine Abordnung beider Länder sie später an Ort und Stelle abstecken sollte. Als vierzig Jahre danach auf Initiative der Vereinten Nationen die Akten geöffnet wurden, ließ sich jedoch kein Hinweis darauf finden, daß die Grenzziehung tatsächlich stattgefunden hatte.

In der Region kennt man den Grenzverlauf zwischen der ehemaligen italienischen Kolonie und Äthiopien, aber inzwischen gibt es eine Reihe von Streitfällen. Dazu zählt Badda Amurug, das die Äthiopier im vergangenen Jahr besetzt haben, weil die Grenze mitten durch eine kleine fruchtbare Zone führt, die aus der Ferne den Golf von Thio überragt. Umstritten ist außerdem noch Burie, das sich auf der Straße nach Assab befindet.

J.-L. P.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von J.-L.P.