10.07.1998

Der Freidenker

zurück

Der Freidenker

Die Demokratie war eine Waffe im Kampf gegen totalitäre Regime. Sie bewahrte sich ihren vitalen Glanz, bis die letzte Diktatur im Westen unterging – auf der Welt gibt es zur Zeit mehr als hundert von Diktaturen beherrschte Länder – und entschied dann, daß sie nicht länger strahlend lächeln mußte: Sie hatte gewonnen.

Von EDUARDO HARO TECGLEN *

ICH entstamme einer Familie von Freidenkern. Schon als Kind wurde ich mit den Liedern garibaldinischer Verschwörer und mit den Freiheitsgesängen der kubanischen Schwarzen in den Schlaf gesungen, derweil mein Land unter der Diktatur eines Generals stand, der mit einem König unter einer Decke steckte, der seinerseits seine Leute in den Marokko-Kriegen verheizte.

Der Freidenker – „freethinker“ – ist eine Gestalt aus dem England des 17. Jahrhunderts, der auf den Kontinent übersiedelte, in der Aufklärung Unterschlupf fand und in der Epoche der französischen Enzyklopädisten verstärkt in Erscheinung trat – damals, als man seinesgleichen als „esprits forts“ bezeichnete: Er hob die Göttin der Vernunft auf den Schild und zog mit ihr, die von einer jungen, barbusigen Schauspielerin verkörpert wurde, durch die Straßen von Paris.

Die Begriffsgeschichte kennt viele Bezeichnungen, in denen die Haltung des Freidenkers, in ferne Jahrhunderte zurückreichend, zum Ausdruck kommt: Die Libertins („libertin d'esprit“, „libertin érudit“), die Rationalisten, die Skeptiker in der Nachfolge Pyrrhons, bis hin zu den Nihilisten; die Naturphilosophen, die Freigeister und Anarchisten. Der Freidenker – um einen allen angemessenen Begriff zu verwenden, bei allem Respekt für die jeweiligen Schattierungen und Unterschiede – ist in erster Linie jemand, der das kritische Denken stärkt, wobei er eine Grundüberzeugung zur Maxime erhebt: Denken ist kein Verbrechen. Was sich in der Praxis als schwerer Irrtum erweist. Das Denken ist eines des gefährlichsten Schmuggelgüter auf den politischen Schwarzmärkten der Welt.

Denken kann zum Tode oder ins Gefängnis führen. So geschieht es Tag für Tag. Die großen Exilgruppen setzen sich aus Freidenkern zusammen, und einige Nationen wie die Vereinigten Staaten oder Australien haben ihren Ursprung in der Emigration von Menschen, die ob ihres Denkens in Europa an den Pranger gebracht oder zu Sträflingen gemacht worden waren.

Die Libertins als Ausgangspunkt zu nehmen, war mir aus zwei Gründen lieb: Zum einen, weil von einer ursprünglich so ehrwürdigen und unbescholtenen Bezeichnung der Vorwurf sexueller Perversion, Wollust und Triebhaftigkeit abgeleitet wurde, um diese Menschen in Mißkredit zu bringen. Zum anderen, weil ich an einen Libertin im umfassenden Sinne des Wortes erinnern möchte, den man selten als Denker, Philosophen und freien Menschen anzuführen pflegt: Oscar Wilde. Gequält für die Freiheit, eingesperrt, zur Zwangsarbeit verurteilt, war sein frühzeitiger Tod die Folge der in der Haft erlittenen Verletzungen. Ich zitiere eine Stelle aus einem seiner in den Vereinigten Staaten gehaltenen Vorträge: „In der Kunst wie in der Politik haben alle Revolutionen immer ein und denselben Ursprung: die Sehnsucht des Menschen nach einem würdigeren Leben, nach freierer Ordnung und nach einer Freiheit der Äußerung, die eine neue Brüderlichkeit unter den Menschen zu stiften in der Lage sind.“ Nach den Worten seines Biographen Richard Ellmann, ist sein Vermächtnis an uns sein Kampf um „die Verknüpfung von Kunst und sozialer Veränderung, mit dem Ziel, das Einzig- und Andersartige davor zu bewahren, herabgewürdigt und niedergemacht zu werden, und eine Moral der Strenge durch eine des Verständnisses zu ersetzen“. Jacop Epstein, ein weiterer Wilde-Forscher, sieht ihn als Vorreiter der tiefgreifenden Umwälzung des Bewußtseins, die „im Guten wie im Schlechten die Grundzüge der modernen Weltsicht vorzeichnete; die Transformation oder (um einen Wildeschen Terminus zu benutzen) Dekonstruktion der Kultur mittels der persönlichen Sichtweise jedes einzelnen“. Siebzig Jahre danach waren es die Bücher Derridas, die, indem sie die Formulierung aufgriffen oder gleichsam neu erfanden, die westliche Metaphysik dekonstruierten. Die Schule der Yale Critics um Edward Wilson wurde in den siebziger und achtziger Jahren ein Zentrum dekonstruktivistischer Theoriebildung. Dank ihrer befinden wir uns heute im sogenannten postmetaphysischen Zeitalter. Im „kritischen Denken“ also.

Die Klasse der anständigen Leute

GEGEN die Freiheit des Denkens sind die verschiedensten, prestigebehafteten Begriffe ins Feld geführt worden: Schicklichkeit, Moral, Ethik, Religion, Disziplin, Ordnung, Strenge, Gesetz, Gerechtigkeit, Respekt, Unschuld, Gemeinschaft... Mit diesen sollte, zuweilen sehr reizvoll und mit einiger doktrinärer Brillanz, nie etwas anderes bemäntelt werden als die Einengung oder Vernichtung bestimmter Freiheiten, und dieses Vernichtungswerk ist das einer akkumulierten Macht, die sich reduziert und konzentriert auf Mehrheiten, welche sie zum Gehorsam nötigt. Mit anderen Worten: Die Freiheit des Denkens ist ein Teil des Klassenkampfes; allerdings ist auch in diesem Kampf das Denken immer wieder in Engstirnigkeit verfallen und hat sich in Herrschaftsstrukturen einbinden lassen. Man weiß nicht, wohin das kommunistische Denken geführt hätte, wie es, auf immer noch erschütternd zutreffende Weise durch Marx und Engels definiert, durch Bakunin bereichert und während der ersten Internationale weitergetrieben worden war; wohin, sage ich, es hätte führen können, hätten jene, die als Abweichler eingestuft wurden, ihre Gedanken und ihre Systemkritik einfließen lassen können. Ihre Säuberung und ihr Ausschluß wogen nicht minder schwer als jene Säuberungen, die in den damals bürgerlich genannten Gesellschaften praktiziert wurden, also seitens der gesellschaftlichen Klasse, die sich hinter den bereits genannten Begriffen zu verschanzen begonnen hatte. Die Klasse der anständigen Leute. Vor der Zeit dieser Klasse wurde bei der Verfolgung der Gedankenfreiheit wenig Federlesens gemacht; damals war das Einheitsdenken monarchistisch und monotheistisch; dann machte die Bourgeoisie ihre erste große Revolution und drang darauf, daß der Monarch von ihr gewählt würde. Von ihr, damit will ich sagen, nicht von allen, wie es das Wort nahezulegen scheint, das sie auf ihre Fahnen schrieb und das jetzt mit solcher Vehemenz die Runde macht: Demokratie. Sie war eine Waffe im Kampf gegen totalitäre Regime; sie bewahrte sich ihren vitalen Glanz, bis die letzte Diktatur im Westen unterging – auf der Welt gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr als hundert von Diktaturen beherrschte Länder – und entschied dann, daß sie nicht länger strahlend lächeln mußte: Sie hatte gewonnen.

Aus dem Wunsch heraus, diesen Sieg zu zementieren, proklamierte die Demokratie zwei Grundsatzurteile: das Ende der Geschichte und das Einheitsdenken. Da die Geschichte immer die Geschichte eines Kampfes ist, hatte sie jetzt, wo der Feind verschwunden war, keine Daseinsberechtigung mehr. Wenn Lenin recht hatte mit seiner Interpretation des Marxismus, dann ist Geschichte immer eine Geschichte des Klassenkampfes. War eine der Klassen besiegt – in unserem Fall jene, die sich einst den Namen Proletariat gegeben und mittlerweile eingebüßt hatte –, gab es keinen Grund mehr, weiterzukämpfen. Außerdem gab es auch keinen Grund mehr weiterzudenken; zumindest sofern man davon ausgeht, daß das menschliche Denken immer auf ein glückliches Endziel hin bezogen ist, auf die Annahme eines Paradieses, wie es alle Systeme lehren, wenngleich sie es zeitlich und räumlich unterschiedlich verorten. Gemeinhin stimmen sie darin überein, daß es bereits existiert hat, verloren wurde und wiederhergestellt werden muß. Für die Rekonstruktion sind Wissenschaft und Technik zuständig. An dieser Art der Reglosigkeit scheiden sich humanistisches und technisches Denken; doch vielleicht ist nur letzteres im eigentlichen Sinne Denken, oder gar etwas Höheres, da es sich aus sich selber speist.

Überall in der westlichen Welt sind die humanistischen Ideale mittlerweile in Auflösung begriffen. Spanien hat sich immer ganz besonders für die Entstehung jedweder Art konservativer Barbarei angeboten und praktiziert gegenwärtig konsequent jene jüngste Form der Abkehr vom humanistischen Denken. Zwar verwirft die herrschende Klasse den diktatorischen Frankismus, doch sie übernimmt eine seiner Grundüberzeugungen: die Festschreibung einer vollkommenen Vergangenheit, welche in den Jahren zwischen der Reconquista und dem Beginn des Niedergangs des Imperiums angesiedelt wird, als das Ausland in Gestalt neu- und andersartiger Ideen das Land eroberte. Spanien, das eine marginale Renaissance, eine unerhebliche Reformation (auf religiösem Gebiet) und erst gar keine Revolution erfahren hat. Das einige Spanien. Die gegenwärtige Anstrengung, ein einheitliches Geschichtsbild zu verbreiten, das die Besonderheiten der verschiedenen Gemeinschaften außen vor läßt, zeugt vom tiefen Glauben der herrschenden Klasse an die eine, einzig wahre Geschichte. Nur wäre wahrscheinlich in diesem Fall die Vielfalt der Geschichten noch kein Garant für ein vielfältiges, kritisches Denken, da sich die regionale Autonomie in Spanien als maßstabsverkleinertes Modell des Einheitsstaates ausnimmt: ein Dutzend verschiedener Einheitsdenken.

Ich habe mich seit meiner Kindheit im freien Denken versucht. „Zwei und zwei ist vier, bis zum Beweis des Gegenteils“, sagte Einstein, und diesen Satz, den mein Vater in einem seiner Artikel zitierte, habe ich nie vergessen. In den Zeiten der Diktatur und des erzwungenen Einheitsdenkens habe ich mich bemüht, mich in dieser Haltung zu ertüchtigen, nicht bloß im stillen Kämmerlein, sondern auch in meinem Kontakt nach außen: bis mein Freidenken zum Ausdruck kam. Manchmal durch Erfinden einer Parallelsprache, manchmal im Untergrund; oder auf konspirativer Ebene, die mit den Freidenkern unauflöslich verbunden ist.

dt. Christian Hansen

* Aus Anlaß des zweijährigen Bestehens des spanischen Monde diplomatique erschien in Madrid, bei L-Press, ein Sammelband mit dem Titel “Pensamiento unico vs. Pensamiento critico“ (Einheitsdenken vs. Kritisches Denken). Wir dokumentieren Auszüge aus dem Vorwort. Der spanische Autor, Eduardo Haro Tecglen, Journalist, Schriftsteller und Kommentator, leitete die Zeitschrift Triunfo und schreibt heute für El Pais.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von EDUARDO HARO TECGLEN