14.08.1998

Die rote Fahne weht weit oben

zurück

Die rote Fahne weht weit oben

MIT der schwersten Rezession seit 1945 ist inzwischen auch Hongkong in den Strudel der wirtschaftlichen und sozialen Krise geraten, in dem Ostasien seit einiger Zeit treibt. Bei den Wahlen des ersten „Legislativrats“ am vergangenen 24. Mai haben die demokratischen Parteien 14 der insgesamt 20 Sitze errungen, die nach demokratischem Wahlmodus vergeben werden. Ein Jahr nach der „Übergabe“ hält Peking die Bewohner Hongkongs zwar fest unter Kontrolle, hütet sich aber davor, ihren Bestrebungen nach Demokatie, die von Bill Clinton im Juli bei dessen Chinareise bestärkt wurden, allzu offensichtliche Hindernisse in den Weg zu legen. Für die Regierung in Peking geht es darum, den neuen „Honeymoon“ mit Washington nicht zu gefährden und, angesichts ihrer Strategie der Öffnung, Taiwan nicht zu verschrecken.

Von unserem Korrespondenten JEAN CHESNEAUX *

Zum ersten Mal in seiner Geschichte feierte Hongkong in diesem Jahr den internationalen Tag der Arbeit am 1. Mai, der in den kommunistischen Ländern so symbolbeladen war, unter der Herrschaft der Volksrepublik China. Der Tag bot einen günstigen Anlaß, die politischen Folgen des hand-over vom Juli 1997 zu bewerten – der „Wiedererlangung der Souveranität“, wie dieser Vorgang offiziell genannt wurde, um den Begriff der „Übergabe“ zu vermeiden und auf englische Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.

Dieser 1. Mai wurde in Hongkong fast völlig ignoriert. Das geringe Ausmaß der Feierlichkeiten war ebenso aufschlußreich wie einst die Massenaufmärsche, die den gesamten Platz des Himmlischen Friedens in Peking ausfüllten und für die die Regierung von den frühen Morgenstunden an scharenweise Arbeiter und Soldaten mit Bussen und Lastwagen hatte herbeischaffen lassen.

Abgesehen von Regierungsempfängen hinter verschlossenen Türen fanden an diesem 1. Mai in der Sonderverwaltungsregion (SAR) keinerlei öffentliche Feiern statt. Die örtlichen Gewerkschaften (diejenigen, die bereits vor 1997 existierten), begnügten sich damit, gegen die plötzlich steigende Arbeitslosigkeit zu demonstrieren. Eine Straßentheatergruppe führte vor dem Regierungssitz ein Stück auf, das die Unternehmer aufs Korn nahm, und ein Vertreter der Regierung fand sich bereit, öffentlich ein symbolisch zerbrochenes Reisschälchen entgegenzunehmen. Der Tag war nicht einmal ein Feiertag, denn unter britischer Kolonialherrschaft war er es auch nicht gewesen. Dies ist die formalistische Interpretation des Prinzips „Ein Land – zwei Systeme“, auf dem das hand- over beruht.

Der kommunistische Machtapparat hält sich im Hintergrund, nicht nur anläßlich des 1. Mai. Das einzige überall sichtbare Zeichen ist die rote Fahne mit goldenen Sternen, die über den öffentlichen Gebäuden weht. Die Soldaten der Volksbefreiungsarmee bleiben in ihren Barackenlagern, weit von den Geschäftszentren entfernt, aber natürlich wissen alle, daß sie jederzeit daraus hervorbrechen könnten. Im Gegenzug, so heißt es, stehen mehrere wichtige Immobilienprojekte unter direkter Kontrolle der Volksbefreiungsarmee.

Die neue Regierung der Sonderverwaltungsregion, an deren Spitze der reiche Geschäftsmann Tung Chee-Hwa steht, hält alle Fäden in der Hand. Sie hat das Prinzip aufgestellt, daß die offiziellen Stellen des chinesischen Staates die gleichen Privilegien und Vorrechte erhalten wie einst die britische Krone, deren Nachfolger sie sind. So erhebt die Presseagentur Xinhua, die in Peking ein fast staatliches Statut genießt, Anspruch auf diese Privilegien, vor allem in juristischer und steuerlicher Hinsicht. Pressekreise und Demokraten in Hongkong haben heftig dagegen protestiert, doch Xinhua gibt nicht nach, und der Streit ist keineswegs belanglos. Ein anderes Beispiel: Die chinesischsprachige Zeitung Xing Dao Ribao gab kürzlich eine fiktive Auflagenhöhe an, um Inserenten anzulocken, und wurde daraufhin von den Geschädigten angezeigt. Da die Zeitung bekanntermaßen pekingfreundlich ist, blieb sie aber dank des Schutzes, den ihr Tung Chee-Hwas Geheimdienst gewährt, vor gerichtlicher Verfolgung bewahrt.

So ist die Kontrolle durch China durchaus real, doch gleichzeitig äußerst diskret, fast unsichtbar. Die britischen Statthalter haben sich mit noch größerer Diskretion zurückgezogen. Die chinesischen Straßenpolizisten tragen nun nicht mehr den traditionellen, makellos weißen Tropenhelm, das untrügliche Erkennungszeichen der Ordnungshüter überall im einstigen britischen Weltreich, sondern eine Schirmmütze oder ein „Schiffchen“ nach dem Vorbild der Volksbefreiungsarmee.

Der Preis, der für diesen glimpflichen Übergang zu bezahlen ist, besteht offensichtlich in der Lähmung des politischen Lebens vor Ort. Die „Hongkong Democrats“, ein Mittelding zwischen politischer Bewegung und organisierter Partei, hatten sich in der Zeit kurz vor dem hand-over sehr darum bemüht, London in letzter Minute die Schaffung eines politischen Raumes abzuringen, den es bis dahin nicht gegeben hatte. Doch ist ihnen dies trotz ihrer tatsächlichen Popularität nicht gelungen.

Bei einer öffentlichen Diskussion, die an einem Sonntagmorgen an einer Kreuzung in Kowloon stattfindet, stellt ein Ausschuß von Stadtteilbewohnerinnen sechs Kandidaten für die Wahlen zum Legco (Gesetzgebender Rat mit eingeschränkten Befugnissen) auf. Frauen sind es, die diese Veranstaltung leiten, und sie tun es mit viel Verve. Themen sind: die Gewalt im öffentlichen Raum, die geringe Bedeutung der Frauen in Parteien und Institutionen und die Schwierigkeiten unverheirateter Frauen, Sozialwohnungen und andere Solidaritätsleistungen zu erhalten. Die rund fünfzig Anwesenden sind alle jung. Die Generation der über Fünfzigjährigen, die aus dem maoistischen China geflohen sind, wird der erzwungenen Überpolitisierung noch lange überdrüssig bleiben. Doch für jene, die in Hongkong aufgewachsen sind, haben Wahlen, öffentliche Diskussionen auf der Straße und Engagement im politischen Leben eine große Bedeutung.

Leung Yiu-Chung, einer der Kandidaten, die vor diesem Bürgerinnenausschuß sprechen, leitet ein Büro zur Unterstützung der Bürgerinitiativen und der Arbeiterbewegung. Der ehemalige Gewerkschafter stellt sich als Unabhängiger zur Wahl, er bewegt sich gewissermaßen im Grenzbereich zwischen der Zivilgesellschaft und dem politischen Leben. Doch in Hongkong gehören die Vereine, die regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) und die Bürgerbewegungen, also all das, was in den demokratischen Ländern zur Bereicherung des öffentlichen Lebens beitragen kann, keineswegs zur lokalen politischen Kultur. Fast bis zum Schluß ihrer Herrschaft hat es die Kolonialmacht verstanden, geschickt die wirtschaftliche Euphorie und den finanziellen Boom zu nutzen, um eine Akzeptanz gegenüber einem autoritären Paternalismus zu erreichen, den – mutatis mutandis – Tung Chee-Hwa und seine Leute mühelos übernommen haben.

Plötzlich gibt es Arbeitslosigkeit

ALLERDINGS ist nicht auszuschließen, daß die goldenen Jahre von Hongkong, die Rahmen und Grundlage für diesen politischen Kompromiß waren, zu Ende gehen. Vor zehn Jahren noch gab es in den großen Hotels Digitaluhren, auf denen man nicht nur Stunden, Minuten und Sekunden, sondern an vierter Stelle auch die Zehntelsekunden ablesen konnte. Das Auge konnte diesem blitzschnellen Umspringen der Zahlen nicht folgen, und nervös litt man unter dieser rein ideologischen Information, die nichts anderes besagte als: Sie sind hier in Hongkong, wo selbst Ihre Zehntelsekunden gezählt sind. Diese Spielerei ist verschwunden, und gewiß nicht rein zufällig.

Was man heute dagegen häufig sieht, sind Schilder, auf denen in chinesischen Schriftzeichen „zu vermieten“ oder „zu verkaufen“ steht, vor allem in den Vierteln um die Nathan Road, der Hauptverkehrsachse von Kowloon. Auch verlassene Baustellen sind keine Seltenheit, auf denen die lächerlichen Stümpfe unfertiger Turmbauten ihre früh verrosteten Stahlträger gen Himmel strecken. Doch nicht nur der Immobiliensektor ist betroffen.

Denn getreu der Strategie der Öffnung, die der verstorbene Deng Xiaoping vertreten hatte, sind die Fabriken von Hongkong auf die andere Seite der immer noch bestehenden Grenze übergesiedelt, wo die Arbeitskraft noch weniger kostet. Hongkong, in den achtziger Jahren noch der vierte „Tiger“ unter den Industriestaaten Ostasiens, muß sich seither auf den Dienstleistungssektor konzentrieren, vor allem den Bereich Banken und Finanzen. Damit wurde die Wirtschaft krisenanfälliger, denn die ständige Gefahr der „Überhitzung“ wurde infolge der jüngsten Krisen in Thailand und Indonesien, beides wichtige Kunden der Hongkonger Finanzwelt, noch erhöht. Teil dieser instabilen Situation ist auch die Überproduktion an Elektrizität, die seit der Verlegung der Fabriken in die Region von Kanton offensichtlich wurde. Und so gibt es mittlerweile Arbeitslosigkeit. Als die sicherlich glaubwürdige Zahl von 100000 Arbeitslosen bekanntgegeben wurde, wirkte dies wie ein Schock: Das zerbrochene Reisschälchen war ein zutreffendes Symbol für den 1. Mai. Als Antwort darauf wies die chinesische Regierung die Hongkonger Arbeiter in fast Thatcherschen Formulierungen darauf hin, daß die reine Tatsache, eine Lohnabrechnung zu erhalten, weitaus mehr zähle als der darauf ausgewiesene Betrag. Und die offizielle Zeitung China Daily forderte die Sonderverwaltungsregion auf, jegliches „outdated thinking“, also jedes althergebrachte, unzeitgemäße Denken aufzugeben.

Dieser „Niedergang“ der Region wurde bei einem von der britischen Wochenzeitung The Economist im vergangenen April veranstalteten Seminar explizit thematisiert. Dabei zeigte man sich vor allem über das abnehmende Niveau der Englischkenntnisse beunruhigt, die einmal den Schlüssel zum Erfolg in der jüngsten Geschichte gebildet hatten, sowie über die Entwicklung im Bildungswesen, das immer weniger in der Lage sei, in den jungen Leuten den Wunsch nach Selbständigkeit und unternehmerischen Geist zu wecken. Auch die Lebensqualität wurde in Frage gestellt. „Niemand hat mich bislang davon zu überzeugen versucht, daß es angenehm sei, dicke Dieselschwaden einzuatmen oder auf der Straße den Gestank der Abwässerkanäle zu riechen“, erklärte dazu Ken Davies, einer der englischen Organisatoren.

Der Boom der achtziger und neunziger Jahre ist nach Ansicht der South China Morning Post, die sich ihre Offenheit bewahrt hat, ins Gegenteil umgeschlagen. Die Strände sind verschmutzt, und Badetourismus ist dort nicht mehr möglich, es sei denn in ghettoähnlichen Anlagen, die denen in Hawaii oder auf den Philippinen ähneln. Die Wasserqualität in der Stadt nimmt weiter ab.

In den alten Autoreifen und Fässern voller Müll, die in den stehenden Gewässern schwimmen, fühlt sich die Mücke wohl, die das tropische Denguefieber überträgt und selbst am hellichten Tag sticht – inzwischen weiß man nicht mehr, wie dem Denguefieber Einhalt zu gebieten wäre. Und außerdem fiel die „red tide“, die rote Flut, dieses Jahr außerordentlich stark aus: Die ungezügelte Industrialisierung und der maßlose Einsatz von Düngemitteln in ganz Südchina begünstigen die Ausbreitung mikroskopisch kleiner roter Algen, deren Gift die Kulturen der hier sehr beliebten Meeresfrüchte vernichtet.

Umweltverschmutzung und Arbeitslosigkeit, die Überhitzung des Finanzsektors und die Schwäche im Immobiliensektor, die demokratische Gängelung und auch die Zunahme von Gewalt und Unsicherheit – all das könnte als Anlaß dienen, Hongkong eine düstere Zukunft zu prophezeien, es geradezu als Antimodell zu dämonisieren. Doch vor allzu schnellen Schlüssen sei gewarnt. Vom Deck der Star Ferry aus, der hundertjährigen Fähre, die noch immer Kowloon und die Insel Hongkong miteinander verbindet, ist die unzweifelhafte Stärke dieses Siedlungsartefakts nicht zu übersehen. Hier in Hongkong kommt die Techno-Botschaft, daß alles machbar und beherrschbar sei, einer Realisierung am nächsten. Auch wenn diese Idee hier ihre Kehrseite, ja gleich mehrere Kehrseiten hat, die nicht weniger ergreifend sind. Die Abgründe an Ungleichheit sind schwerlich zu verbergen, doch das hohe Niveau des Bruttoinlandsprodukts erlaubt der Sonderverwaltungsregion eine spezielle, sehr dynamische Lebensform, die die Basis für das Gefühl der Zugehörigkeit und der Identifizierung bildet, das die Menschen in Hongkong ganz offensichtlich empfinden.

Allerdings ist man sich der Unwägbarkeiten der Zukunft durchaus bewußt, vor allem bezüglich der Beziehungen zu China. Wenn die rote Fahne hier sehr weit oben und mit einer demonstrativen Leichtigkeit weht, dann deshalb, weil Deng Xiaoping mit dem Motto „Ein Land – zwei Systeme“ eigentlich Taiwan meinte und Hongkong lediglich als Testfall betrachtete. Ganz im Banne der globalen Finanzmacht schreibt der Westen Hongkong gerne eine wirtschaftliche Stärke zu, die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, welche eminent politische Dimension dem hand-over zukommt. Die Behörden in Peking, die die Sonderverwaltungsregion an langer Leine regieren und dem Großkapitalismus der ortsansässigen Chinesen freie Hand lassen, betreiben damit ein Experiment, das als politische Öffnung gegenüber Taiwan zu verstehen ist. Es wird sich zeigen, ob diese Botschaft des „inter-straits“ (“zwischen den Linien“) – ein Euphemismus, um den Status des Inselstaates im Vagen zu lassen – auf offene Ohren stoßen wird.

Taiwan, wo die Kuomintag-Kultur nach und nach für immer erlischt und das seit der japanischen Besatzung von 1895 nur während dreier kurzer Jahre mit dem chinesischen Festland vereinigt war, wird möglicherweise das Modell der Sonderverwaltungsregion nicht sonderlich verführerisch finden und lieber seinen eigenen Weg, fern von Peking, fortsetzen. Es ist fraglich, ob die Volksrepublik im Falle eines solchen Mißerfolgs Hongkong weiterhin dieselbe Vorsicht angedeihen lassen wird wie bisher.

dt. Erika Mursa

* Emeritierter Professor der Universität Denis Diderot (Paris-VII). Auf deutsch erschienen u. a. „Weißer Lotus, rote Bärte. Geheimgesellschaften in China, zur Vorgeschichte der Revolution“, dt. von W. Bengs und U. Laukat, Berlin (Wagenbach) 1976; „Ost- und Südasien im 19. Jahrhundert“, dt. von R. J. Guiton, Rheinfelden (Schäuble) 1981.

Le Monde diplomatique vom 14.08.1998, von JEAN CHESNEAUX