14.08.1998

Ein Ethnologe bei der Fußball-WM

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Ein Ethnologe bei der Fußball-WM

Der Sieg Frankreichs bei der Fußballweltmeisterschaft hat einen kleinen politischen Erdrutsch bewirkt: Das Volk findet sein Frankreich in der ethnisch gemischten Mannschaft wieder. Die Symbole der Republik – Nationalflagge und Nationalhymne –, welche die Rechten lange okkupiert zu haben schienen, kehrten ins Herz der Bürger zurück. Was sahen die Menschen auf den Bildschirmen und Leinwänden? Was auf den Straßen und Plätzen?

Von MARC AUGÉ *

ES gibt mehrere Sorten von Bildflächen: Auf dem Bildschirm unseres altvertrauten Fernsehers erscheinen uns die Fußballer so klein und so eng beieinander, daß wir sie bisweilen mit der Stimme oder mit einer Geste hin zu dem kleinen weißen Bällchen treiben möchten, das ähnlich wie bei einem Kicker lustig hin- und herhüpft.

Vor der Riesenleinwand hingegen, welche die Bürgermeister der Großstädte überall aufstellen ließen, ist ein solcher willkürlicher Akt der Phantasie schon schwieriger. Hier erlangt das Schauspiel eine neue Dimension: Eine aufmerksame, lärmende und ergriffene Menschenmenge schaut hinauf zu überlebensgroßen Spielern, die deutlich ihre Autonomie einfordern. Die Menge ist Teil des Schauspiels, sie ist sich selbst ihr eigenes Schauspiel, genau wie im Stadion. Sie hat dem Publikum im Stadion sogar etwas voraus: Sie ist schon startklar, um unmittelbar nach dem Schlußpfiff auf den Straßen zu tanzen oder in den Kneipen zu weinen.

Ein Sonderfall sind die Leinwände, die auf den Rasenflächen direkt neben dem Stade de France aufgestellt wurden, an den Pforten zum Paradies gewissermaßen, mitten in jenem Dorf, das „Weltdorf“ heißt und ein wenig an den Trône-Jahrmarkt erinnert mit seinen Schießständen, seinen Getränkebuden und seinen Verkaufsständen. Es ist das Reich des Als-ob: Man fährt mit dem Nahverkehrszug hin, als ob man ins Stade de France wollte, und identifiziert sich sukzessive oder simultan, sei es mit den Besuchern der echten Ränge, sei es mit den echten Spielern auf dem echten Rasen.

Ein nächster Schritt ist gewissermaßen das dritte Stadium der Bildflächen, und zwar das „Stadion“, das im Parc des Expositions in Le Bourget aufgestellt wurde. Ein „virtuelles“ Stadion mit sechstausend Plätzen auf Rängen und Tribünen – wie in einem echten Stadion –, die rund um einen Würfel aus vier Riesenleinwänden von jeweils dreihundert Quadratmetern aufgebaut sind. Das wirkliche Stadion liegt nur einen Steinwurf entfernt, und die räumliche Nachbarschaft schafft Identifikation. Wie um die Besucher hiervon zu überzeugen, werden einem die Plätze nicht geschenkt. Firmen kaufen sie für ihre besten Kunden und ihre treuesten Diener. Es ist der niedrigkarätige Luxus der Kleinunternehmen. Dieses virtuelle Stadion ist im kleinen Maßstab dasselbe wie das Stade de France im großen: der Treffpunkt für die Geschäftspartner des Jahres, Sportfans für einen Abend, die sich nach dem Schlußpfiff brav um einen ein Schild hochhaltenden Menschen scharen, der sie zum Bus zurückbringen wird.

Hier ist das Zusammenspiel der Maßstäbe schon komplizierter: Das simulierte Stadion ist ein verkleinertes, ein Mikro- Stadion. Die Leinwände hingegen vergrößern die Spieler (und geben so den Zuschauern, wie im Kino, den Blick der Kindheit zurück, als alle Erwachsenen Riesen waren). Die Gaststätten, Dörfer und sonstigen „Zonen“ sind hier allerdings genausogroß und im selben Stil gehalten wie in Saint-Denis.

Die Frage des Maßstabs ist deshalb so entscheidend, weil der Zuschauer etwas sehen möchte. Und im Stadion hat man zwar das richtige Gefühl für die Proportionen, aber man kann mitunter die Details der Handlung nicht genau erkennen: An dem Tag, als ich dank der Großzügigkeit eines im wahrsten Sinne wohlsituierten Freundes von einer Tribüne im Parc des Princes aus dem Achtelfinale Brasilien gegen Chile beiwohnte, mußte ich überrascht feststellen, daß meine Sitznachbarn in jeder auch nur annähernd brenzligen Spielphase den Blick vom Rasen abwandten und sich in Richtung der glücklichen Sterblichen in den Kabinen direkt über unseren Köpfen umwandten. Nicht etwa, um zumindest mit den Augen an den Champagnerkelchen mitzunippen, die jene serviert bekamen, sondern um zu versuchen, auf den Fernsehbildschirmen, die diese zur Verfügung hatten, eine Wiederholung oder Zeitlupe zu erspähen, die eventuell eine Entscheidung des Schiedsrichters erklären oder ein technisches Meisterstück im Detail beleuchten würde.

Denn das Leben ist so beschaffen, daß es nicht noch einmal beginnt: Nicht gesehen heißt: schon verpaßt. Die wirkliche Direktübertragung, das echte Live duldet nicht die kleinste Unachtsamkeit. Und so war der Gipfel des Luxus eben doch derjenige der Privilegierten aus dem Parc des Expositions, die sich zwar am Austragungsort der Schlacht selbst befanden, sich aber auch die Macht erteilten, in der Zeit zurückzugehen.

Ich hatte mir mein Endspiel wirklich verdient, hatte mich von Anfang an bemüht, kein Spiel auszulassen, indem ich Tag für Tag von Bildschirm zu Bildschirm rannte, und in Paris wie in der Provinz den Umständen und geographischen Gegebenheiten entsprechend verschiedene Freundschaftsbande erneuerte. Ich interessierte mich für alte Freunde und Verwandte, zog mein Adreßbuch zu Rate, um manch alte Bekanntschaft, die ich aus den Augen verloren hatte, an die Freuden vergangener Zeiten zu erinnern. Denn ich brauchte Einverständnis, Solidarität, um nicht allein vor dem Bildschirm zu hocken, sei er nun klein oder groß. Und darüber hinaus hegte ich die Hoffnung, meinen Fuß vielleicht einmal ins Stade de France zu setzen.

Wozu all die Aufregung, diese plötzliche Unruhe? Schließlich bin ich kein Fan der Weltmeisterschaft, ich interessiere mich genauso für Sport wie Millionen anderer Franzosen auch – nämlich ohne allzu große Leidenschaft. Doch schon zu Beginn der Vorbereitungen für diese WM hatte ich die Eingebung, daß uns ein wichtiges Ereignis bevorstünde.

Mehr als jeder andere Sport schleicht sich der Fußball in unsere Erinnerung ein: Er besitzt die höchste Macht über das Gedächtnis und reaktualisiert sich zugleich permanent selbst. Sein spezielles Bouquet ruft Rauschzustände hervor, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart vermengen, Mythos und Ritus zusammenfallen. An jenem Tag, als ich wirklich im Stade de France war, am Frankreich-Italien- Tag, schnappte ich ein paar Worte auf, die ein krawattentragender Geschäftsmann an seinen jungen Sohn richtete. Er sagte er ihm folgendes: „Später wirst du dich daran erinnern, daß du dabei warst!“ Das Kind schien zerstreut, und der Vater selbst etwas peinlich berührt von seiner feierlichen Äußerung, doch sein Ausruf im Futur erinnerte mich an die Nachkriegsjahre, als mein Vater und ich zuweilen nach Colombes fuhren, um Kopa, Glowacki, Penvern, Jonquet und den anderen zuzujubeln. Für den gewöhnichen Sterblichen ist das große Sportereignis die Gelegenheit, seine persönliche Geschichte an der großen Geschichte, der Geschichte ohne Adjektiv, zu messen.

Einiges hatte sich verändert seit der Zeit, als das Gerippe der französischen Nationalmannschaft noch polnischer Abstammung war. Und ein anderer Aspekt des Ereignisses ist die Pluriethnizität unserer Mannschaft. Diese Mannschaft sagte uns mehr oder weniger: „Schaut euch das heutige Frankreich an, es sieht aus wie wir.“ Auf gewisse Weise hat diese Mannschaft uns das Sehen gelehrt. Das ist der Höhepunkt des Bildschirm-Stadions und ein offensichtliches Paradoxon: Die französischen Dörfer waren geladen, sich von den Illusionen über Heimat und Verwurzelung zu lösen und sich der täglich im Fernsehen verkündeten Wahrheit zu stellen: der Wahrheit eines vielfältigen Frankreich, das sich plötzlich zu dieser Vielfalt bekannte und forderte, daß man es anfeuerte, weil es Frankreich war: „Allez les bleus!“

Das Spiel Frankreich-Kroatien sah ich bei einem Pariser Freund, und just als der Schlußpfiff ertönte, hatte ich meine Eingebung. Die Dame des Hauses hatte sich, da sie das sportliche Ereignis nicht so sehr interessierte, zwei- oder dreimal zum Fenster hinausgelehnt, um sich an dem ungewöhnlichen Schauspiel der menschenleeren und stillen Straße zu erfreuen. Doch kaum war das Spiel abgepfiffen, da öffneten sich alle Fenster, und die Straße füllte sich mit Autos, Fußgängern, Huperei und Rufen. Die beachtenswerte Tatsache war also die von jedermann unmittelbar empfundene Notwendigkeit, mit anderen zusammenzukommen. Es gab etwas zu teilen, etwas, das überhaupt erst dadurch existierte, daß man es teilte, und hierfür reichte der Bildschirm nicht aus. Das Medium triumphierte und stieß im gleichen Augenblick an seine Grenze, als es von seinem eigenen symbolischen Gehalt überholt und von all denen verlassen wurde, die sich auf die Straße stürzten, nicht mehr aufhörten, sich gegenseitig zu beglückwünschen und aus reiner Freude Zeichen der Anerkennung auszutauschen.

Eine der originärsten Dimensionen der nationalen Identifikation, die hier zum Ausdruck kam, lag auch in der Befreiung, die dieses Einverständnis schuf: Plötzlich fand das Ereignis nicht mehr auf dem Bildschirm statt, sondern außerhalb.

Während ich, verloren in der Menschenmenge, Hände schüttelte und hier und da ein Lächeln wechselte, sagte ich mir, daß im Gegensatz zu dem, was ich bisher gedacht hatte (nämlich, daß der Terminus „mediales Ereignis“ eigentlich tautologisch sei), ein Teil des Ereignisses durchaus die medialen Möglichkeiten überstieg. So konnte uns das Fernsehen also nicht nur die Augen für bestimmte Wahrheiten öffnen (Zidane, Barthez, Thuram et tutti quanti), sondern das Fernsehen war nicht alles. Eine doppelte und beruhigende Feststellung.

Ich war überzeugt, daß das Ereignis dem Bild bereits den Rang abgelaufen hatte. Dafür sprachen einige Indizien. Zunächst fand ich niemanden, der mich zum Endspiel in das virtuelle Stadion von Le Bourget begleiten wollte: „Wir wären zu weit weg von den Champs-Élysées und von den Orten, wo alles stattfindet“, sagte man mir. Ich gab auf. Dann, als ich durch die Pariser Straßen zu Freunden eilte, die den Champagner schon kaltgestellt hatten, bemerkte ich, daß das Ereignis die Übertragung gar nicht erst abwartete: Fahrzeuge – vor allem aus der Provinz und aus den Vorstädten – kreuzten bereits durch Paris, wie um sich die Stadt anzueignen: mit heulenden Sirenen und flatternden Nationalfahnen. Die Fans beider Lager grüßten sich äußerst höflich. Die Freude darüber, dabeizusein, nahm die Schlußgefühle vorweg und brachte so den zutiefst sozialen Charakter ans Licht.

Wohlgestimmt und voller Selbstvertrauen setzte ich mich vor den Fernseher, in dem Bewußtsein, daß sich in weniger als drei Stunden in allen Städten Frankreichs eine gewaltige, sonderbare Siegesfeier abspielen würde, über deren Sinn sich Soziologen und Politologen gewiß noch lange Gedanken machen würden. Doch ich glaubte seit dem Spiel Frankreich-Kroatien zu wissen, daß diese Feiern trotz allem, was man über die Herrschaft des Geldes und über Opium fürs Volk2 würde sagen können, zuallererst eine Flucht aus dem Bildschirm sind – und eine Begegnung mit anderen. Vielleicht war das das eigentliche Fest der WM: die Rückeroberung von etwas, das dem Wirklichen ähnelte.

dt. Miriam Lang

* Forschungsdirektor an der Ecole des hautes études en sciences sociales. Auf deutsch lieferbar sind die Titel „Der Geist des Heidentums“, dt. von Michael Kilisch-Horn, München (Boer) 1995, und „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“, dt. von Michael Bischoff, Frankfurt/M. (S. Fischer) 1994.

Le Monde diplomatique vom 14.08.1998, von MARC AUGÉ