Einmischung erwünscht in Pôrto Alegre
SEIT zehn Jahren wird im brasilianischen Pôrto Alegre ein vorbildliches Experiment durchgeführt: das System des partizipativen Haushalts (OP). Parallel zum gewählten Stadtrat wurden neuartige Entscheidungsstrukturen geschaffen, in denen alle Einwohner direkt Einfluß auf die Geschicke ihrer Stadt nehmen können. Und das Modell funktioniert. Besonders für die Ärmsten war dies eine Möglichkeit, öffentliche Gelder, die traditionell in die wohlhabenderen Viertel flossen, zu ihren Gunsten umzuleiten.
Von unserm Korrespondenten BERNARD CASSEN
Etwa fünfhundert Menschen drängen sich an diesem Winterabend der südlichen Hemisphäre auf den Bänken der Kirche des hl. Franz von Assisi, ethnisch so bunt gemischt wie die brasilianische Nationalmannschaft. Vor der Empore, auf der die Vertreter des Stadtrats sitzen und wo auch Bürgermeister Raul Pont Platz nehmen wird, stehen zwei Kandidaten der gegeneinander kandidierenden Listen, das Mikro in der Hand, und versuchen, in der auf drei Minuten begrenzten Redezeit das Publikum für ihr Programm zu gewinnen. Wir befinden uns im Stadtviertel Lomba do Pinheiro in Pôrto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul. Dieser südlichste Bundesstaat Brasiliens, an Argentinien und Uruguay grenzend, wird vielfach auch „Gaucho-Staat“ genannt. Am heutigen Tag werden zwei Vertreter des Bezirks für den „Rat des partizipativen Haushalts“ (siehe Kasten) sowie deren Stellvertreter gewählt.
Die Atmosphäre im Raum ist konzentriert und entspannt zugleich. Spruchbänder wurden entrollt. Die eine Hälfte des Publikums unterstützt mit lauter Stimme ihre Favoriten, während sich die andere Hälfte mit Buhrufen zurückhält. So wie ganz Pôrto Alegre sich in Sachen Fußball in zwei Lager teilt, in Anhänger der Blauen (Grêmio) und Anhänger der Roten (Internacional), ist auch die Versammlung im Saal gespalten; allerdings sind die politischen und sportlichen Lager nicht deckungsgleich. Die Auszählung ergibt, daß beide Listen etwa gleich stark sind: 218 zu 215 Stimmen. Folglich erhalten sie beide je einen Posten im besagten Rat sowie je einen Stellvertreterposten.
Mit dem partizipativen Haushalt (OP) macht die Bevölkerung ihre Ansprüche bei der Verteilung städtischer Einnahmen und Ausgaben geltend. Das Projekt ist aufgrund seiner Größe – die Metropole liegt mit 1,3 Millionen Einwohnern inmitten eines 3,3 Millionen Menschen zählenden Verwaltungsbezirks – und aufgrund seiner präzisen, sich ständig fortentwickelnden Arbeitsstruktur ein weltweit einmaliges Experiment in Sachen direkter Demokratie.
Zahlreiche Forscher und Bürgerorganisationen aus verschiedenen Ländern haben sich bereits dafür interessiert – desgleichen internationale Organisationen: So wurde der OP ausgewählt, um auf dem zweiten UNO-Städtegipfel 1996 in Istanbul vorgestellt zu werden. Auch in den übrigen Teilen des Landes mehren sich die Anhänger: Der ehemalige Gewerkschaftsführer der Metallarbeiter von São Paolo und berühmte Vorsitzende der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio „Lula“ da Silva, stützt sich in seinem Wahlkampf wesentlich auf das Experiment. Am 4. Oktober dieses Jahres tritt er zum dritten Mal gegen den amtierenden Präsidenten Fernando Henrique Cardoso an.
Die Arbeiterpartei PT „eroberte“ die Stadt Pôrto Alegre bei den Bürgermeisterwahlen 1988 mit Olivio Dutra, der heute für den Posten des Staatsgouverneurs kandidiert; bei allen folgenden Wahlen vermochte sie in der Direktwahl des Bürgermeisters ihren Stimmenanteil zu erhöhen (1992 gewann Tarso Genro, 1996 Raul Pont); auch der Anteil im Stadtrat stieg kontinuierlich, wenngleich die PT- Stadträte immer noch deutlich in der Minderheit sind. Die „Volksmacht“ ist durch die Wahlerfolge gestärkt worden, und so feiert der Stadtrat in diesem Jahr in diversen Publikationen und Anzeigen den zehnten Jahrestag des partizipativen Haushalts mit dem Slogan „10 Jahre OP – 10 Jahre voller Erfolg“.
In der täglichen Arbeit des Bürgermeisters, seiner Mitarbeiter und der Verwaltungsbeamten ist jedoch von Triumphalismus nichts zu spüren. Das Vertrauen, das ihnen die Bevölkerung in zunehmendem Maße geschenkt hat, duldet kein selbstgefälliges oder überhebliches Verhalten. Mit je 21 Versammlungsabenden allein für die erste und zweite Sitzungsperiode von März bis Juli (siehe Kasten) steht der Bürgermeister immer an vorderster Front, ganz zu schweigen von den zahlreichen weiteren Zusammenkünften – an vorderster Front heißt jedoch nicht den Mitbürgern gegenüber, sondern Seite an Seite mit ihnen.
Gegen wen richten sie sich? Gegen niemanden, akute Krisen ausgenommen. Dabei wäre es ein leichtes, und auch nicht immer ungerechtfertigt, Sündenböcke zu benennen. Zum Beispiel Staatsgouverneur Antonio Britto, Mitglied der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB), oder die Bundesregierung. Beide haben tatsächlich allen Grund, den Erfolg eines Projektes zu fürchten, dessen sich die Arbeiterpartei rühmen darf; folglich unterlassen sie jede Unterstützung des Stadtrats.
Auch eine Kritik an den Medien wäre angebracht. Abgesehen von einigen feindseligen Leitartikeln verlieren die drei Tageszeitungen von Pôrto Alegre und die lokalen Radio- und Fernsehsender kein Wort über das Experiment. Dabei böte es genügend Stoff für informative Untersuchungen und spannende Reportagen. Sie bemühen sich nicht einmal, Termine und Treffpunkte der in verschiedenen Stadtbezirken stattfindenden Versammlungen mitzuteilen. Ihnen ist es jedenfalls nicht zu verdanken, daß einer neueren Umfrage zufolge 85 Prozent der Einwohner der Gaucho-Metropole von der Existenz des OP wissen und 80 Prozent diesen als „eine gute Sache“ ansehen.
Zieht man all diese Umstände in Betracht, dann ist es nur verständlich, daß sich der Bürgermeister nicht hinter einer Festungsmentalität verschanzt. Denn das hieße, sich entgegen den Wahlergebnissen als Minderheit im eigenen Hause zu fühlen – und wäre im übrigen äußerst unpädagogisch: Man kann nicht den Bürgern einerseits Verantwortung geben und sie gleichzeitig zur Passivität zwingen, indem man die Lösung ihrer Probleme ihrer Mitwirkung entzieht.
Die unausgesprochene Botschaft lautet: Wir werden alle gemeinsam – jedenfalls gemeinsam mit denen, die sich beteiligen wollen – die Probleme beim Namen nennen, wir werden eine Rangfolge der Dringlichkeiten und der notwendigen Ausgaben festlegen und untersuchen, wie sie mit den vorhandenen Mitteln in Einklang zu bringen sind – im Zweifelsfall müssen wir die vorhandenen Mittel durch Steuererhöhungen aufstocken, so daß der Reichtum der Privilegierten zugunsten der Ärmsten umverteilt wird. Eine solche Praxis läßt keinen Raum für Demagogie, und noch weniger für Klientelismus oder Korruption: Von der Wahl der Delegierten bis hin zu den Ausschreibungsverfahren ist alles transparent.
Als Olivio Dutra im Januar 1989 das Bürgermeisteramt antrat, waren die erforderlichen Maßnahmen in den Bereichen Schule, Wohnungsbau, Instandsetzung der Straßen, Müllbeseitigung, Stadtsanierung, Kanalisation, Straßenbeleuchtung, soziale, kulturelle und sportliche Einrichtungen, öffentlicher Nahverkehr usw. immens; doch es standen praktisch keine Haushaltsmittel zur Verfügung. Entsprechend groß war die Enttäuschung derjenigen, die bislang – außer zu Wahlkampfzeiten – von der Politik übergangen worden waren und die nun ihre ganzen Hoffnungen auf den neuen Bürgermeister gesetzt hatten.
Umverteilung zugunsten der Armen
DER erste Bürgermeister der PT erinnert sich an die damalige Zeit: „Wir haben eine heiße Kartoffel in die Hand genommen. Die ersten Versammlungen, die in den sechs Bezirken, aus denen die Stadt damals bestand, einberufen wurden, lichteten sich im Laufe weniger Monate, weil auf die dringendsten Bedürfnisse keine Antwort gefunden werden konnte. Wir haben daraufhin beschlossen, statt weiter zu lamentieren lieber eine Aufstellung aller Personal- und Sachmittel zu machen, um die schlimmsten Mißstände beseitigen zu können, über Steuereinnahmen zu diskutieren, herauszufinden, was wieviel kostet, und so weiter. Danach haben wir begonnen, gemeinsam Prioritäten zu setzen und Kriterien für öffentliche Investitionen festzulegen...“
Daraus entwickelte sich allmählich ein relativ gut funktionierendes Verfahren. Die elementarste Veränderung bestand in einer Verkleinerung der bezirklichen Einheiten, also einer Erhöhung der Anzahl der Stadtbezirke (von sechs auf sechzehn) – immerhin erstreckt sich die Stadt über eine Länge von dreißig Kilometern – und in der Schaffung von fünf bezirksübergreifenden „thematischen“ Bereichen, in denen man die Probleme von Pôrto Alegre in seiner Gesamtheit behandeln konnte.
„Durch diese neuen Themenbereiche konnten wir gesellschaftliche Kräfte einbeziehen, die bis dahin nicht eingebunden waren: Universitäten, Industrielle und die gesamte Mittelschicht“, erklärt uns Tarso Genro, während dessen Amtszeit diese Bereiche eingeführt wurden. Gleichwohl ist die Beteiligung der Einwohner am partizipativen Haushalt eingeschränkt, wie der oppositionelle Stadtrat Fernando Zachia, Vorsitzender der lokalen PMDB, betont: „Nur“ 16500 Einwohner besuchten in diesem Jahr die Versammlungen zwischen Anfang März und Mitte Juli.
Bis Ende 1998 werden es voraussichtlich über 20000 sein, wobei Hunderte inoffizieller Zusammenkünfte nicht berücksichtigt sind. Und am meisten beteiligt sich, wer am meisten zu gewinnen hat: die unteren Volksschichten, angefangen bei den Bewohnern der vilas (die lokale Bezeichnung für Favelas) bis hin zu den Angehörigen der unteren Mittelschicht. Gibt es irgendwo eine besser praktizierte direkte Demokratie – nicht nur als Volksabstimmung, sondern als tatsächliche Einflußnahme? Zachia gibt ehrlicherweise zu, daß dies nicht der Fall ist; gleichzeitig betont er, daß auch seine Partei die direkte Demokratie in Rio Grande do Sul stärken will. „Reine Wahlpropaganda“, antworten die Flugblätter der PT...
Der OP hat eine Umverteilung der öffentlichen Ausgaben zugunsten der Stadtrandgebiete erzielt. So gab es dort beispielsweise keinen Busverkehr, bis der Stadtrat den privaten Transportunternehmen genaue Streckenpläne diktierte und für eine Asphaltierung der Zufahrtsstraßen sorgte. In allen Bereichen, besonders im Wohnungsbau, hat der Aufstieg der Bewohner zu Entscheidungsträgern die üblichen Prioritäten umgekehrt. Zwei Beispiele: Die vila Planetario, eine Hüttensiedlung mitten im Stadtzentrum, erregte den Zorn der Bauunternehmer: Warum sollte man nicht nach bewährtem Muster die Flächen mit Hunden und Bulldozern räumen, um Luxusappartements oder Büros zu errichten? Durch die Existenz des OP wurden die Bewohner nicht vertrieben, sondern erhielten an Ort und Stelle Häuser aus Stein. Die vila heißt inzwischen „Jardim Planetario“.
Ein zweites Beispiel sind die noch andauernden Arbeiten im Bezirk Cristal. Die Gruppe Multiplan baut dort auf 52000 Quadratmetern ein Einkaufszentrum, das sogenannte Big Shop. Doch der Stadtrat hat Multiplan verpflichtet, vorher auf eigene Kosten die Bewohner der vilas, die auf dem Gelände des zukünftigen Einkaufszentrums leben, umzusetzen. Eine erste Reihe von 400 Häuschen, die in einem anderen Bezirk von Pôrto Alegre errichtet wurden, soll in den nächsten Wochen übergeben werden. Die Anwohnervertreter der ersten vila, die aufgegeben werden soll, kontrollieren jeden Samstag den Fortschritt der Bauarbeiten, bei denen übrigens achtzig von ihnen beschäftigt sind. Damit dürfte die Fertigstellung wohl gewährleistet sein... Gerade zu dem Zeitpunkt, als ich die vila besuchte, veranstaltete eine Gruppe von etwa dreißig Angestellten des städtischen Wohnungsamts, allesamt sehr junge Leute, eine Ortsbegehung, um sich ein konkretes Bild von der tätigen „Volksmacht“ zu verschaffen.
Dies alles erklärt die aktive Beteiligung der Einwohner am OP – beziehungsweise die passive Anteilnahme der Mittelklasse, die von ihren Hausangestellten Gutes darüber hört. Doch der amtierende Bürgermeister ist nicht der einzige, der sich über die mit dem OP verbundenen Probleme den Kopf zerbricht. Zunächst das der Koexistenz zweier politischer Mächte: auf der einen Seite der Stadtrat, auf der anderen Seite die bezirklichen Bürgerforen und der Rat des OP. In einem Land mit einem monatlichen Mindesteinkommen von 130 Real (ca. 200 Mark), erklärt Pont, „sagen uns die ehrenamtlichen Vertreter des OP häufig: Wir sind es, die die Arbeit machen. Wozu brauchen wir noch die Stadträte? Sie erhalten 4500 Real im Monat und tun nichts.“
Wie kann man direkte und repräsentative Demokratie miteinander vereinen, vor allem mit der Perspektive, daß sie von der städtischen auf bundesstaatliche Ebene oder gar auf das ganze Land übertragen wird? „Wir diskutieren in der PT darüber, aber dies stellt uns bislang vor unlösbare Probleme, besonders weil in anderen Regionen Brasiliens, wo unsere Partei an der Regierung ist, die Überlegungen offenbar noch längst nicht so weit gediehen sind wie hier.“ Trotz aller Einschränkungen zeigt das Experiment von Pôrto Alegre deutlich: Wenn der politische Wille da ist und Frauen und Männer bereit sind, sich persönlich für das Gemeinwohl zu engagieren, dann ist das Konzept der Mitverantwortung der Bürger nicht länger eine leere Phrase.
dt. Sabine Jainski