14.08.1998

Anatomie der „Volksmacht“

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Anatomie der „Volksmacht“

DER partizipative Haushalt von Pôrto Alegre (portugiesisch: orçamento participativo, abgekürzt OP) ist ein ständiges Gremium, das nur im Januar und Februar pausiert. Er eröffnet den Bürgern die Möglichkeit, direkt über die Angelegenheiten ihrer Stadt mitzubestimmen. Das Projekt wurde ganz pragmatisch in verschiedenen Etappen aufgebaut. Auch wenn heute seine Funktionsweise minutiös geregelt ist – jeder Einwohner besitzt eine etwa dreißig Seiten umfassende Geschäftsordnung und etliche weitere Dokumente –, heißt das nicht, daß er in einer bürokratischen Prozedur erstarrt wäre.

Der OP hat auf lokaler Ebene eine doppelte Arbeitsstruktur: zum einen Versammlungen über bezirkliche Fragen – die Stadt ist in sechzehn Bezirke aufgeteilt –, zum anderen die Foren zu bezirksübergreifenden Belangen, die in fünf Themengebiete unterteilt sind: Verkehr und Transportwesen; Wirtschaftsentwicklung und Steuerpolitik; Stadtorganisation und –entwicklung; Gesundheit und Soziales; Erziehung, Kultur und Freizeit. Es gibt also insgesamt 21 Vollversammlungen, die im ersten Fall allen Einwohnern des jeweiligen Bezirks, im zweiten Fall allen Einwohnern der Stadt offenstehen.

Im März und April, der ersten Versammlungsperiode des OP, wird in Anwesenheit städtischer Vertreter über den aktuellen Stand der Arbeiten, die im Vorjahr beschlossen wurden, und über den Investitionsplan für das laufende Jahr berichtet und debattiert; außerdem werden die Delegierten für das Bezirks- oder Themenforum gewählt. Das Mandat der Delegierten, deren Zahl bis zu dreißig betragen kann, erstreckt sich über ein Jahr und kann einmal verlängert werden. Anschließend folgt eine Interimsphase bis Ende Mai, in der sich die Bevölkerung selbständig versammelt, um eigene Prioritäten zu setzen und eine Rangordnung ihrer Forderungen hinsichtlich möglicher Bauvorhaben und Dienstleistungen aufzustellen. Die zweite Periode im Jahr 1998 hat am 1. Juni mit der Versammlung zum Thema „Wirtschaftsentwicklung und Steuerwesen“ begonnen und endete am 14. Juli. In jedem Bezirks- oder Themenforum wurden zwei Mitglieder und zwei Stellvertreter für den Rat des OP gewählt, der auf städtischer Ebene tagt und dem Bürgermeister die Ergebnisse aus den Versammlungen der Interimsphase übergibt.

Dann erfolgt die Untersuchung der Forderungen aus den 21 Versammlungen durch einen Planungsausschuß des Stadtrats (Gaplan), während sich der OP-Rat konstituiert und Einblicke in die städtischen Finanzen erhält. Der Rat nimmt Stellung zu einer ersten Vorlage eines Haushaltsentwurfs, der dann im September in einen von Gaplan erarbeiteten Haushaltsentwurf mündet. Am 30. September wird dieser Entwurf vom Bürgermeister dem Stadtrat übereignet, der als einziger gesetzlich befugt ist, den Haushalt zu verabschieden, was bis zum 30. November geschieht.

IN diesem Moment nun stehen Legalität und Legitimität einander direkt gegenüber: die Legalität der allgemeinen Wahlen, verkörpert in 33 Stadträten, die durch Verhältniswahl für vier Jahre gewählt wurden, und die aus der direkten Demokratie erwachsene Legitimität der 40 OP-Räte, die von Hunderten Delegierten auf den Foren gewählt werden, welche sich selbst wiederum auf die etwa 20000 Einwohner der Stadt stützen, die sich aktiv an den verschiedenen Phasen des OP beteiligt haben. Hinzu kommt, daß der Bürgermeister und sein Stellvertreter direkt gewählt werden, so daß der Bürgermeister nicht notwendig über eine Mehrheit im Stadtrat verfügt. Raul Pont etwa erhielt 1996 im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen, er kann sich im Stadtrat jedoch nur auf 14 von 33 Stadträten stützen.

Vom 1. Oktober bis 30. Dezember 1998 diskutiert und erarbeitet der OP-Rat dann den Investitionsplan für 1999 – aufgrund der Erfahrung der letzten Jahre davon ausgehend, daß der Stadtrat nur in kleinen Punkten Änderungen am vorgelegten Haushaltsplan vornehmen wird.

B. C.

Die Stadtverwaltung von Pôrto Alegre ist im Internet zu erreichen unter http// www.prefpoa.com.br.

Le Monde diplomatique vom 14.08.1998, von B. C.