11.09.1998

Ich kann den Schecken nicht leiden

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Ich kann den Schecken nicht leiden

DER Mann mit dem weißen Impala-Cabrio war kräftig, hatte kurze, straff nach hinten gekämmte schwarze Haare, einen dichten, hochgestutzten Schnauzbart, unscheinbare, lauernde Augen, kompakte Hände und ein kantiges, faltenloses Gesicht. Er trug einen Ring mit blauem Stein und eine goldene Halskette, an der ein hübsches Kruzifix hing. Das offene Hemd zeigte herausfordernd die mächtige, stolz geblähte Brust. Ein wenig wie ein eingebildeter Truthahn. Er war die beste Nummer zehn gewesen, an die sich die Fußballfans von Palmilla erinnern konnten. Der geborene Torjäger, schnell und schußgenau. Die Stütze seiner Mannschaft, in der Abwehr wie im Sturm. Er spielte so geschickt und umsichtig, daß zwar der Ball manchmal durchkam, ein Spieler jedoch nie. So hart und so präzise war er, der Mann mit dem Impala- Cabrio, M.I.C., auch „Der Schecke“ genannt.

An dem Morgen, als man ihn tot über dem Lenkrad seines Wagens fand, zitterte das Dorf vor Angst und Bestürzung. Die Frauen verriegelten ihre Türen und beteten bis zum Mittag. Niemand wagte, sich dem Leichnam zu nähern, aus Furcht, M.I.C. könne noch am Leben sein und unter wildem Gefluche erwachen.

Zwar war der Schecke ein treuer Diener der Diktatur, doch er hatte Charakter gezeigt, und obwohl er seinen Posten verloren hatte, besaß er weiterhin Macht. Die Frauen von Palmilla und Los Maquis bewunderten ihn, und mehr als einer der kleinen Jungen träumte davon, einmal zu werden wie er. So war er, dieser M.I.C., damals, als ich ihn mit seinem mächtigen weißen Cabriolet durch La Calera fahren sah. Gehört hatte ich von dem Schecken erstmals im Landhaus der verstorbenen Flor Maria.

„Ich kann den Schecken nicht leiden“, knurrte Segundo Segundin wütend und umklammerte den Griff des Messers, das in seinem Gürtel steckte. „Ich kann den Schecken nicht leiden.“ Und dann schluchzte er leise, während er aus dem Innern der Cantina auf das Pferd sah, das an der Hauswand angebunden auf ihn wartete.

Es war gegen Ende des Winters, und die Fiedern der Akazien glitzerten wie silberne Nadeln. Der Fluß war vom vielen Regen angeschwollen, und die Gemüter durch die Erinnerung an die Toten getrübt.

„Ich kann den Schecken nicht leiden“, und er urinierte bedächtig neben seinem Pferd. Er war ein dunkelhäutiger Mann von stolzer Haltung, doch der Blick hinter seiner herausfordernden Miene war der eines Waisenkindes. Segundo Segundin hatte seinen Entschluß schon gefaßt und wartete nur noch auf eine Gelegenheit.

Es war zehn Uhr morgens, als M.I.C. an jenem Montag im September sein weißes Cabriolet vor der Cantina zum Stehen brachte und das Wasser in den Pfützen aufspritzte. Er war seinerseits auf der Suche nach Segundin, bemühte sich zu lächeln und blickte ihm fest in die Augen.

Der Winter von dreiundsiebzig ist den Leuten von Palmilla unvergeßlich. Als drehte sich ein großes Rad im Mittelpunkt der Erde, wurden die Straßen heimtückisch und schwer passierbar, bedeckten sich mit scharfkantigen Steinen und sahen aus wie ehemalige Bachbette. Damals riß das Hochwasser die Holzbrücken ein, und noch immer kann man an den wenigen Häusern, die in jenem Winter nicht fortgespült wurden, die Wassermarke erkennen, die bis ans Ende der Zeiten erhalten bleiben wird.

Vor den ungläubigen Augen der Bewohner Palmillas trieben ertrunkene Kühe und Hunde vorbei, auf deren Köpfen der Ausdruck der Bestürzung erstarrt war. In jenen Tagen raste M.I.C. in seinem weißen Impala durch das Dorf und rettete die hilflosen Einwohner, schipperte mit Lebensmitteln, Decken und Medikamenten durch die überfluteten Straßen. Der Mann im weißen Impala-Cabrio war der leibhaftige Christophorus, der das Jesuskind in seinen Armen ans andere Ufer trug.

Verstärkt wurde dieses Bild noch durch den Einsatz des Rettungshubschraubers, der in einem Wirbel von Wasser, Wind, Laub und splitternden Ästen am Rande des Fußballplatzes landete, wo der Schecke an Bord ging und in den Himmel auffuhr. Geblendet sahen die Leute von Palmilla, als sie ihre überfluteten Häuser verließen, ihren Bürgermeister in einem Aufruhr schwarzer Wolken entschwinden.

„Das ist der Feuerwagen des Elias“, verkündete lauthals der protestantische Pastor, der mit der Bibel in der Hand inmitten der Menge predigte. Von oben erinnerte das Dorf Palmilla an einen merkwürdigen Archipel, wirkte wie eine große, umwölkte Brust oder eher noch wie eine in schimmernde Loderasche gebettete Tortilla, und der Himmel wie das löchrige Zeltdach eines jämmerlichen Zirkus, darunter Schwärme von Fischen, soweit das Auge reichte, Wasservögel, schwimmende Inseln voller Taguablumen, umringt von gigantischen Bäumen und einer Flora in tausend Grüntönen, die sich, je nach Windrichtung, von einem Ufer zum anderen bewegte und Pferde mit durchnäßtem Fell und zuckenden Ohren sowie Reste fossiler Mastodonten und anderer ausgestorbener Tiere mit sich davontrug, und Flächen von glänzendem Weiß, das mit den Wolken kollidierte und den Piloten blendete, der ein ums andere Mal nervös auf die unzähligen Anzeigeinstrumente sah. Die Leute auf den Hausdächern winkten und jauchzten, denn endlich nahm sich jemand aus Fleisch und Blut ihrer Lage an, jemand, den sie kannten, und das vom Himmel herab.

Das Wasser ließ den Fluß zur Bestie werden, und diese entwand sich wie eine zuckende Boa ihrem Bett, alles verschlingend, Bäume und Land zerquetschend mit einer Kraft und Geschwindigkeit, der es nichts entgegenzusetzen gab. Der Schecke klammerte sich furchtsam an den Sitz der Maschine, verfing sich im Sicherheitsgurt und betrachtete die Erde mit den Augen eines abtrünnigen Engels, denn trotz der Katastrophe konnte er nicht umhin, die eigentümliche Schönheit des Sturmes und des Wassers zu bewundern, das die Häuser überflutete und Bäume und ganze Pflanzungen mit sich riß. Der Helikopter wurde durchgeschüttelt wie ein Papierdrachen, kämpfte gegen den Sturm und den Regen, der in den Wolken nicht aus Tropfen, sondern aus Felsbrocken und Geröll zu bestehen schien.

Kommandant Gallo startete und landete an diesem Morgen mehrere Male, rettete Frauen und Greise. „Wenn wir nur ein Kind fänden“, sagte er, „wenn wir ein Kind retten, kommen wir ins Fernsehen und in die Zeitung.“

„Aber zwei Schwangere im neunten Monat sind doch auch nicht schlecht, Kommandant“, entgegnete der Kopilot.

„Das schon, aber nur, wenn sie hier oben niederkommen ... Verstehen Sie?“

„Ja, aber ich muß Sie darauf hinweisen, daß wir nur noch wenig Treibstoff haben. Und wenn wir hier weiter unsere Runden drehen und darauf warten, daß eine von ihnen gebiert ... Sie wissen, da unten ...“

Als der Schecke das hörte, massierte er verzweifelt den Bauch einer der Schwangeren und betete, daß entweder die Frau endlich niederkommen oder der Hubschrauber landen möge, damit das grauenvolle Auf und Nieder ein Ende fände.

Als die Maschine schließlich aufsetzte und über das nasse Gras rutschte, bekreuzigte sich der Schecke und dankte dem Herrn, daß er wieder sein geliebtes Land unter den Füßen hatte.

Die Rettungsaktionen wurden aus der Luft, zu Land und mit Hilfe von Schlauchbooten durchgeführt. So gelangten sie eines Nachts auf Booten, die sie zu Wasser gebracht hatten, und über Wege, die sich in Flüsse verwandelt hatten, zu einzelnen, abgelegenen Häusern. Der Schecke und ein Sergeant namens Donoso drangen schwimmend bis zum Bett eines alten Mannes vor, der in den steigenden Fluten mit Aspirin versetzte Chicha trank und sich partout nicht retten lassen wollte. Weitaus komplizierter noch gestaltete sich die Rettung von Doña Blanca Burgos de Donoso, die am Steuer ihres betagten John-Deere-Traktors – ein Vorgänger der rumänischen Traktoren aus der Zeit Allendes und der Landreform – den Weg zu den Bergen hinaufschwamm und ihnen versicherte, ihr Trecker sei die Arche Noah. Ganz unrecht hatte die resolute alte Dame nicht, denn auf ihrem schwimmenden John Deere hatten sich Hühner und Hühnergeier in Sicherheit gebracht, eine Ziege mit großen schwarzen Flecken und weißem Bart sowie dünkelhafte, übellaunige Pfauen, die ungerührt ihre buntschillernden Schwanzfedern auffächerten. Der an den Traktor gekoppelte Anhänger beherbergte Pferde, Kühe und Ochsen, und neben dem Arche- Traktor der Doña Blanca Noah de Donoso gab eine elegante Formation Enten und Gänse der Doña ein schwimmendes Geleit, die fest versicherte, sie denke nicht daran, ihre Barke zu verlassen, denn wenn sie diese verlöre, würde sie früher oder später auch ihr Leben verlieren, schließlich transportiere sie darauf alles, was sie habe ... „Was erzählen Sie mir da, Schecke?“

„Kommen Sie, wir müssen Sie sofort evakuieren“, schrie er, um den Traktor herumschwimmend, gefolgt vom Rettungsboot mit dem Sergeanten Donoso am Steuer.

„Ach, evakuieren Sie doch Ihre Großmutter“, rief die Alte zurück.

„Tun Sie Ihre Pflicht, Sergeant.“

„Ich kann nicht, Herr Bürgermeister“, antwortete dieser, „dafür brauche ich einen richterlichen Befehl.“

Erschöpft und außer Atem klammerte sich der Schecke an den Rand des Rettungsbootes.

„Und wer erteilt solche Befehle?“

„Der Friedensrichter.“

„Das heißt?“

„Sie, Herr Bürgermeister.“

„Also los, dann machen Sie schon.“

„Entschuldigen Sie, Exzellenz, aber ich brauche eine schriftliche und beglaubigte Ermächtigung.“

„Und wie zum Teufel glauben Sie, soll ich Ihnen die geben? Ich saufe gleich ab.“

Der Sergeant überlegte einen Moment und sagte dann mit ernster Stimme: „Angesichts der Umstände nehme ich sie also als gegeben.“

„Dann bringen Sie die verdammte Alte endlich in Sicherheit, bevor wir allesamt ersaufen“, schrie der Schecke, das Wasser bis zum Hals.

„Wenn der Herr Bürgermeister erlauben?“

„Was noch, Sergeant?“

„Die verdammte Alte, wie Sie sie nennen, ist meine Frau Mutter.“

„Dann erst recht, Sergeant. Machen Sie schon, und zwar schnell.“

„Zu Befehl, Exzellenz. Aber vergessen Sie nicht, mir den schriftlichen Befehl nachzureichen, sonst hat die Betroffene das Recht, Klage zu führen, und Sie wissen ja, daß die Oberste Kontrollbehörde der Republik unnachsichtig ...“

In diesem Augenblick stieß ein von der reißenden Strömung herankatapultierter Baumstamm heftig gegen den Schecken, der daraufhin lautlos in den schmutzigen Fluten versank.

Als er am Ufer des Weges wieder zur Besinnung kam, wähnte er sich im Delirium: über sich sah er einen rosafarbenen Froschmann mit rosa Taucherbrille und rosa Flossen, der ihm einen langen Kuß auf die Lippen drückte.

„Nein! Das nicht!“ schrie der Schecke zutiefst gedemütigt. „Man soll von mir sagen, was man will, aber schwul bin ich nicht!“

Es half nichts, ihm zu erklären, daß es sich bei dem vermeintlichen Kuß um die bei derartigen Rettungsmanövern übliche Mund-zu-Mund-Beatmung handelte. Aber wie das Leben so spielt, waren es, seinen lautstarken Protesten zum Trotz, ausgerechnet die mit rosa Froschmännern freilich nicht zu verwechselnden Schwuchteln, die das Ende seiner politischen Karriere beschleunigten.

M.I.C. hatte aus seiner Verachtung jener „Mondsüchtigen“ nie einen Hehl gemacht, was diese ihn teuer bezahlen ließen, wie er später feststellen mußte, als sie die langersehnte Gelegenheit fanden, sich zu rächen.

Das letzte Fest, daß M.I.C. im Stadion von Palmilla organisierte, zeichnete sich nämlich dadurch aus, daß er erstmals auch solche Leute einlud, und diese wiederum ihre Bekannten aus benachbarten Dörfern mitbrachten. So kam es, daß sie in den frühen Morgenstunden das Fest an sich rissen und die Frauen verblüfft und amüsiert feststellten, daß nicht mehr sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, sondern ein Heer von Cumbia tanzenden Tunten, denen sich alle engumschlungen oder hüftenschwingend anschlossen.

In dieser Nacht verfluchte M.I.C. sein Schicksal, saß in einer Ecke des Stadions und starrte zum Halbmond hinauf, um das alles nicht mit ansehen zu müssen: „Herr im Himmel, so viel Schwulität auf einem Haufen! Der Bürgermeister mit dem Sekretär, der Gutsbesitzer mit dem Priester, der Polizeichef mit einer Schwuchtel beim Steineflitschen am Fluß, also, alles was recht ist – und das schlimmste, der Typ im Gebüsch, der das ganze auf Video aufnimmt.“ Aus seiner Ecke grinste M.I.C. den Frauen entschuldigend zu, und diese antworteten ihm mit einem komplizenhaften Lächeln. Trotz allem, oder vielleicht gerade deshalb, liebten sie ihn.

Am Tag des Putsches fuhr M.I.C. mit einer Militärpatrouille durch das Dorf und brachte die Männer fort. Einige von ihnen kehrten nie zurück. Die am Leben blieben, wurden in Militärgefängnisse gesperrt. In jenen Tagen leuchtete M.I.C.s Stern bei den Frauen heller als je zuvor. „Glück für euch“, sagte er. „Ohne mich wärt ihr jetzt verloren, meine Süßen. Ich bin euer Retter.“

Er organisierte sie in der GAPA, der Gemeinde-Arbeit Palmilla, die darin bestand, die Dorfstraße zu fegen, Mauern zu tünchen und den Abfall fortzuräumen. Er ließ einen Kindergarten bauen, um die Frauen in der Beaufsichtigung ihrer Kinder zu entlasten. Er teilte sie in Gruppen ein: die ältesten stellte er in die Küche und die jüngsten dazu ab, seine Gäste zu betreuen; mit Ausnahme jener jungen Frau, die extra für ihn arabische Speisen zubereitete, welche er durch seine Freundschaft mit den Söhnen von Miguel el Sajur lieben gelernt hatte; damals, als er noch Sozialist war und über die Dörfer fuhr, um die Landarbeiter zu organisieren, vor allem aber, um die jungen Leute in die Geheimnisse des bewaffneten Kampfes einzuweihen, „der einzige Weg, an die Macht zu gelangen, um auf der Welt das Reich der Armen zu errichten“, bis zu jenem 11. September, als er den Lauf einer Fünfundvierziger an seiner Schläfe spürte.

„Sprich, und zwar schnell“, sagte der Mann mit der Pistole. Seine Stimme war hart und rücksichtslos: „Wo sind die Waffen? Und wo die dazugehörigen Männer?“

Er spürte das kalte Metall, doch mehr noch spürte er die Entschlossenheit des anderen. Die Sache war klar: Entweder er sprach, oder würde nie mehr sprechen. Damals, sagt man, habe sein Leidensweg begonnen.

„Ich habe gelernt, mich mit meinem eigenen Schmerz zu foltern“, knurrte er betrunken in frühen Morgenstunden, „am eigenen Leib, verflucht!“ Er öffnete sein Hemd und zeigte die Wundmale und Elektroschock-Narben auf seiner Brust. „Diese Brust kennt den Strom und die Dunkelhaft, das grausame Labyrinth der Schmerzen, die im Wahnsinn Linderung und im Tod Befreiung erhoffen. An diesen hier hat man mich aufgehängt“, und er zeigte seine Daumen. „Aber ich habe durchgehalten, mein Freund, weil, wie soll ich Ihnen sagen, bei mir alles am rechten Fleck hängt, wovon Sie sich gern überzeugen dürfen.“

An den Nachmittagen, wenn der Regen anhaltender und gleichmäßiger fiel, bis er nurmehr ein leises Rauschen war, beinahe etwas Zärtliches, das den Schlaf und eine flüchtige und daher fast unbegreifliche Erinnerung an seine Kindheit herbeirief, ging der Schecke zum Haus seiner Mutter hinüber, durchquerte den Innenhof, blieb bei den Orangenbäumchen stehen und berührte mit seinen harten Händen die Akazien, die wie er den Unbilden der Witterung widerstanden.

„Guten Abend, Mutter.“

„Guten Abend, mein Junge. Bist du hungrig?“

„Nein, Mama; aber müde, sehr müde.“

Dann ging er in das kleine Zimmer und legte sich „gestiefelt und gespornt“, wie er gern sagte, aufs Bett, deckte sich mit seinem Kaninchenfell zu und glitt in den Schlaf, während er wie von Ferne die Stimme seiner Mutter hörte, die zu dieser Stunde mit ihren Toten sprach, sich in der Küche und im Innenhof zu schaffen machte, wo die Enten schwammen und die weißen Gänse schnatterten, mit stolz aufgeplustertem Gefieder. Er liebte dieses Haus seiner Kindheit, mit den verblichenen roten Dachpfannen, den von der Zeit versehrten Lehmziegelmauern und den Wasserpfützen, die trotz ihrer erdigen Farbe durchsichtig waren und seltsame Figuren bildeten, wenn die Pferde mit ihren schweren Hufen hindurchtrabten. In der Ferne ging das Grün der Hügel in das schimmernde Blau der Steine über, während der Abend unmerklich über das Land hereinbrach.

Auf einem mit kleinen Tonfiguren bevölkerten Wandbrett erhob sich drohend die Statue Unseres Herrn Jesu vom Heiligen Herzen, der mit dem Zeigefinger auf seine offene Brust deutete, in der sein gipsernes Herz für alle gottesfürchtigen Menschen blutete. Das edle Haupt erhoben, mit tiefblauen Augen, rosigen Wangen, wunderbar wallendem, honigfarbenem Haar und in einen prachtvollen roten Umhang gehüllt, schaute die imposante Figur auf den gequälten Körper des Schecken herab, der sich vor der Kälte und der Angst unter den schützenden Mantel der Mutter flüchtete und in seinen Träumen wieder und wieder das Bild des Christus sah, der auf sein blutendes Herz deutete und ihn an seine Untaten erinnerte: an die zwei Nüsse, die er aus einer Schublade gestohlen hatte, oder an seinen Cousin, dem er mit einem Stein die Stirn blutig geschlagen hatte, woraufhin er davongelaufen war und sich neben seiner Mutter im Bett versteckt hatte, die gerade ihre Siesta hielt, und als man ihn beschuldigte und dem blutenden Jungen gegenüberstellte, hatte er mehr als dreimal geleugnet. Seine Mutter nahm ihn in Schutz: „Wie kann er das getan haben, wo ich doch die ganze Zeit neben ihm geschlafen habe! Nein, ihr haßt meinen Sohn, weil er anders ist und es noch weit bringen wird, das ist es.“ Da zog er sich das weiße Laken über die Augen, um seine Scham und seine Lüge zu verbergen.

Es war ein harter Tag gewesen; einer von denen, die man am liebsten vergißt. Die Nacht hatte er mit einer der Peñaloza-Schwestern verbracht, die ja alle in ihn vernarrt waren, und als sie ihm am nächsten Morgen das Frühstück brachte und er den ersten Bissen Schwarzbrot mit Avocado im Mund hatte, bemerkte er sogleich den giftig bitteren Geschmack; er schaute die Frau an, die halbnackt neben ihm stand, und an ihrer Haltung und ihren Augen erkannte er, daß sie ihn vergiften wollte.

„Was ist, schmeckt dir das Frühstück nicht?“

Er heftete seine Augen auf die Frau, die unter seinem Blick vor Furcht zitterte.

„Warum willst du mich umbringen, Azucena? Was habe ich dir Böses getan?“

„Du nicht, aber deine Leute haben meinen Bruder umgebracht.“

Da sprang er auf, die Hand schon zum Schlag gegen die Frau erhoben, die ihm in der Nacht solche Lust bereitet hatte, hielt dann aber inne und zog sich rasch an, schlüpfte in die Stiefel, warf sich seinen Umhang über den Tarnanzug und eilte ohne sich umzuschauen aus dem Haus, bestieg sein weißes Cabriolet und fuhr in Richtung Polizeikaserne davon.

Ein Befehl von ihm genügte; das Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht, und zu dem Zeitpunkt, da er schlief und vom blutenden Herz Jesu träumte, schmachteten die drei Schwestern bereits für immer im tiefsten Kerker, den die Diktatur in der Provinzhauptstadt San Fernando für subversive Frauen bereithielt.

AM Morgen des 1. September erwachte der Schecke mit einem Frösteln. Besorgt stand er auf, suchte sein weißes Seidentuch, schlang es sich um den Hals, legte die rote Schärpe an, um seine Nieren warm zu halten, zog die hohen schwarzen Stiefel an und befestigte die Sporen. Er schaute in den Spiegel und erkannte sich nicht. Er war gealtert. Ihm fiel ein, was der Medizinmann ihm Tags zuvor gesagt hatte: „Dein Schmerz hat mich erreicht, Schecke“ – er nahm den Geruch von Knoblauch und Exkrementen wahr – „das Chile, das auf Neid und Verrat gegründet ist“, hatte der Mann mit dem roten Tongefäß am Gürtel, dem dichten schwarzen Haar und den mandelförmigen Augen zu ihm gesagt, „auf Verrat und Verbrechen, Schecke.“

Er senkte den Kopf und starrte auf die rote Erde; ihm wurde übel von dem Geruch der Knoblauchzehen, die der Medizinmann kaute. „Gib acht auf dein Herz“, hatte der Mann zu ihm gesagt. „Gib acht auf dein Herz“, und hatte seine Hand dabei auf die linke Seite der Brust gelegt. „Ich habe da nie was gespürt, Vater.“

„Gib acht auf deine linke Seite, Schecke“, antwortete ihm der Mann und begann, mit seinem schwarzen Hut den Staub von der Erde zu fegen. „Zünde drei Kerzen an, damit du geläutert wirst, damit du gereinigt von dieser Erde gehst; von dieser Erde, die dir die Reinheit zurückgibt, in der du gekommen bist, Schecke.“

Und M.I.C. dachte an all das, was er schon oft aus dem Mund der alten Frauen vernommen hatte. Zuerst an seine Geburt mitten in der Regenzeit. Seine Großmutter, die ihn schlußendlich, nachdem er sie lange gefoppt hatte, herauszerrte. „Ein Schecke ist uns geboren“, rief die Alte, in ihren Armen den blutigen Säugling, der verstört in das helle Licht blinzelte, das ins Zimmer fiel. „Deine Stunde ist gekommen, Schecke.“

Über vier Kilo wog der Schecke; er war dick und fleckig. Seine Geburt war äußerst schmerzvoll, denn just als er den Leib seiner Mutter bereits verließ, drehte er sich um und wollte wieder zurück.

Der Schamane ließ die Cocablätter fallen, eines nach dem anderen, wobei er den Namen des Schecken flüsterte: „Mein Christus, mein Herr“, und leiser noch, ganz leise: „Manuel Manolito“. Er öffnete seine Hände und ließ die trockenen Blätter auf den gestreiften Wollmantel fallen.

„Chile, also, nimm dich in acht ... Der Ort des Verrats und des Verbrechens ... Und sieh hier unseren Weg. Sieh dieses zerbrochene Blatt. Es ist nichts anderes als dein Leben. Dies ist dein Leben. Dieses zerbrochene Cocablatt.“

Und auf dem Wollmantel, vor den drei Kerzen, dreimal gehauchten Atems, lag das zerbrochene Blatt, lag dort neben den Bildern des Hl. Laurentius, der Hl. Lucia, des Hl. Petrus und Hl. Paulus, der Hl. Mutter Gottes und des lieblichen Christkindes mit dem Dorn in der Brust. In der kleinen Hütte lag schweißbedeckt und wie ein Tier der erschöpfte Schamane und rieb sich die kotigen nackten Füße, hielt in der einen Hand das Buch, in der anderen die Cocablätter, und sagte kein Wort. Er war überzeugt, daß auch in Zukunft niemand etwas für den Schecken tun konnte, da keine Beschwörung imstande sein würde, den Lauf des Schicksals in andere Bahnen zu lenken und abzuändern, was der Himmel ihm bestimmt hatte.

SEGUNDO SEGUNDIN bewegte keinen Muskel. Angespannt wartete er, die Hand am Gürtel. Segundin hatte den Schecken noch nie leiden können, und die Leute von Palmilla erinnerten sich noch gut, wie er in der Cantina von Agua Santa auf die beiden Fremden zugegangen war.

Am Morgen hatte er sie auf ihren feurigen Zuchthengsten vorbeireiten sehen, auf dem Weg nach Huiques. Die Pferde gefielen ihm; vor allem der Braune, der Paso Doble gerufen wurde, hatte es ihm angetan und weckte in ihm eine Art pubertärer Leidenschaft. Den ganzen Tag grübelte er über sein Verlangen und suchte nach einem Vorwand, um mit den Reitern bei deren Rückkehr ins Gespräch zu kommen.

Gegen Abend hielten sie vor der Cantina von Agua Santa. Sie betraten den schummrigen Raum, gingen zur Theke und bestellten etwas zu trinken. In diesem Moment trat Segundo Segundin zu dem älteren der beiden, einem korpulenten, bärtigen Mann.

„Ich kann den Schecken nicht leiden“, sagte er zu ihm.

Der Mann musterte Segundin von oben bis unten, und aus den Augenwinkeln heraus registrierte er die Gesichter der Landarbeiter an den Tischen, die, ohne jemanden anzusehen, aus ihren Gläsern tranken.

„Ich kann den Schecken nicht leiden“, wiederholte Segundo Segundin mit Nachdruck und trat einen Schritt näher.

Der Bärtige schaute seinen Kameraden an.

„Eine Runde auf meine Kosten bitte“, orderte er mit fester Stimme, hob sein Glas zu den im Dunkeln sich duckenden Mitgästen und lud zu einer Lokalrunde ein. „Was schulde ich Ihnen?“ Der Mann zog ein paar Geldscheine aus der Tasche, legte sie auf den Tresen und verließ, gefolgt von seinem Kameraden, entschlossenen Schritts das Lokal. Als er einen Fuß in den Steigbügel stellte, merkte er, daß jemand sein Pferd festhielt.

„Ich kann den Schecken einfach nicht leiden.“

Der Reiter schwang sich, ohne innezuhalten, in den Sattel seines Braunen. Zum ersten Mal fiel sein Blick auf das am Pfosten angebundene scheckige Pferd.

„Ich kann den Schecken nicht leiden“, wiederholte Segundo Segundin mit sehr ernster Stimme.

„Was meinst du damit?“

„Ich tausche ihn ein, Herr“, sagte er flehentlich. „Gegen Ihren Braunen.“

Der Bärtige riß die Zügel zurück und das Pferd bäumte sich auf.

„Hau ab, du Mistkerl! Was fällt dir ein, deinen Schecken gegen mein Pferd tauschen zu wollen!“

Hochmütig und wütend ließ er die Zügel schießen und stob im Galopp Richtung Palmilla davon.

„Ich kann den Schecken nicht leiden“, schluchzte Segundo Segundin. „Ich kann den Schecken nicht leiden.“

Den Rest der Woche wiederholte er immer nur diesen einen Satz: „Ich kann den Schecken nicht leiden.“

Vielleicht verstanden die Leute erst an diesem Tag, warum M.I.C. immer der Schecke genannt wurde. Er hatte gegen den Spitznamen nie etwas einzuwenden gehabt, er belustigte ihn höchstens. Mit Ausnahme jenes Nachmittags, an dem Segundo Segundin es ihm mitten ins Gesicht gesagt hatte.

„Ich habe dich gesucht, Segundin.“

„Was woll'n Sie von mir?“

„Nun, sie sagen, ich sei dein Vater.“

„So? Man sagt auch, daß Sie meinen richtigen Vater denunziert haben. Und daß Sie sich danach meine Mutter genommen haben.“

M.I.C. dachte an Jovina. An ihr langes schwarzes Haar, das runde Gesicht, die Augen, die festen Brüste, die weichen Rundungen ihrer Knie und die kräftigen Beine.

„Sei nicht nachtragend mit mir, Jovi“, hatte er zu ihr gesagt, als er sie besuchte, nachdem die Armee ihr Haus zerstört hatte. Roberto, ihr Lebensgefährte, und dessen Bruder waren verhaftet worden, und nun war sie allein mit Segundin, der sabbernd in einem Zuckerkarton saß. „Wir sind im Krieg. Dein Roberto und sein Bruder haben sich mit den Verlierern eingelassen.“

„Verschwinde, du Scheißverräter.“

„Behandele mich nicht so, Kleines“, hatte er gesagt.

„Jetzt siehst du wirklich aus wie ein Schecke.“

„Ach, du meinst, wegen der Uniform“, lachte er und betrachtete sich mit seinem Tarnanzug im Spiegel. „Jedenfalls ..., hier habt Ihr was für Euch und den Kleinen. Und wenn Ihr mich braucht, Ihr wißt ja, ich bin im Rathaus. Vielleicht kann ich was tun. Ich bin Euer neuer Bürgermeister.“

„Ist das der Lohn dafür, daß du uns verraten hast?“ hatte Jovina ihm nachgerufen, als M.I.C. in seinem weißen Cabriolet Richtung Friedhof davonbrauste, wo ihn die Beerdigung des Vaters eines Sportsfreundes erwartete.

Und Jovina hatte Recht. M.I.C. wurde zum Lohn für seine Dienste zum Bürgermeister ernannt; und was das weiße Cabriolet anging, das hatte er bei einem Doktor beschlagnahmt, der als Linker denunziert worden war; dazu eine Kassette mit Musik von Mahler, die M.I.C. gern hörte, wenn er mit seinem neuen Auto über die von Rebstöcken und schlanken Pappeln gesäumten Straßen fuhr oder an den hohen Wellen am Strand von Pichilemu entlangjagte.

Später dann würden die Leute unablässig sagen:

„Warum haben sie dir das angetan, M.I.C.?“

„Wer besorgt uns denn jetzt Steine und Ziegel, um die Löcher für den Winter abzudichten?“

„Armer Schecke!“

Ein ganzes Jahr lang, genau so.

„Wer fährt mich jetzt in seinem Auto zum Doktor, Schätzchen, wenn ich krank werde?“

„Von wem kriege ich nun meinen Zement?“

Und dann würde ich es endlich sagen können: Es ist besser, daß ich jetzt euer Bürgermeister bin, weil ich euch kenne. Denn wäre ein anderer gekommen, Jovina, wärst du und der Kleine jetzt auch verschwunden. Und daß ich die Männer verraten habe, ist nur zur Hälfte wahr. Denn wenn ich es nicht getan hätte, dann hätte es ein anderer getan; alle kannten sie. Ich zumindest wußte genau, wer ein Gerechter und wer ein Sünder war. Und ich bin sicher, daß die wahren Sozialisten mir das zu danken wissen, verdammt noch mal. Denn wenn wir schon von Sozialismus sprechen, der wahre Sozialist, der sich im Volk tummelt, das bin ich, und nicht diese Intellektuellen aus Santiago, die hergekommen sind, uns die Köpfe verdreht haben und sich beim ersten Schuß in die Botschaften verkrümelt haben. Ob ihr wollt oder nicht, Kleines“, und er ballte die Faust und wies in die Ferne, „ich bin der einzige, den ihr habt.“

Während der ersten Jahre der Diktatur hatte M.I.C. schreckliche Albträume. Er hatte Schweißausbrüche und schrie erbärmlich im Schlaf, so daß er es vermied, allein zu schlafen, weil er sich vor den Stimmen derer fürchtete, die in den Träumen nach ihm riefen. Das Bild jener Nacht, als man ihn abholte und ihn gemeinsam mit vielen anderen an Händen und Füßen gefesselten Männern in ein Flugzeug steckte, wo den Männern in der Luft mit scharfen Krummdolchen die Bäuche aufgeschlitzt wurden, damit sie nicht auf dem Meer trieben, würde ihn bis in den Tod verfolgen. Darum erinnerte er sich auch, als Segundo Segundins Hand nach hinten griff, um das Messer aus dem Gürtel zu reißen, an das Blitzen der Krummdolche, die in die Leiber und Kehlen drangen, vor allem aber an den Geruch.

„Sie hatten uns vollgepumpt“, erzählte er einmal. „Zuerst machten sie uns betrunken, dann gaben sie uns Tabletten, manchmal auch Coca. Und während sie dich anschreien und dir sagen, daß du dich wie ein Mann benehmen sollst, greifen sie sich an den Sack. Und dann erinnern sie dich an den Sergeanten Palacios, der sich weigerte, am Rande der Schlucht von Punta de Lobos Landarbeiter zu erschießen.“

„Das tue ich nicht“, hatte der Sergeant gesagt.

Und der Major hatte ihm ohne zu zögern den Lauf der Pistole in den Mund gestoßen und abgedrückt, um ihm das Maul zu stopfen, wie er sagte: „Ihr habt alle diese verräterischen Soldaten zu erschießen. Niemand soll hier unschuldig rauskommen, verdammt noch mal!“

Am schlimmsten aber war es, wenn er traumlos schlief. Die ganze Nacht war dann von einer Leere bevölkert, die nur mit dem Tod vergleichbar war, wenn sich Wirklichkeit und Traum trennen; der Albtraum der geschundenen Leiber, abgeschnittenen Zungen, gebrochenen Arme, Vergewaltigung, Erbrochenes, Scheiße, Blut. Tödliches Grauen: „Wie als man uns zu den abgerichteten Hunden führte, die gefangene Frauen bestiegen.“

„War ich nun dein Wohltäter, Jovina, oder war ich es nicht? Jovina, mein süßes Mädchen. Wenn ich dich nur tanzen sehe; mit dem weißen Taschentuch in der Hand, und wenn du dann stampfst wie ein mutwilliges, ungezähmtes Füllen. Ich fühle, wie dein Feuer mich in Wallung versetzt, wie mir deine Haut den Verstand raubt, dein Geruch nach frischer Erde, nach frisch gepflügtem Acker, nach einem regennassen Feld, nach allem was du willst.“

Als Bürgermeister von Palmilla hatte M.I.C. eine gute Zeit; bis zu jenem Tag, als er auf die Idee kam, eine Modenschau zu organisieren. Jawohl, eine Modenschau in Palmilla, etwas in der Art, sagte er, „wie die Platzkonzerte, die Doña Albertina und Don Merelo früher veranstalteten, als der Grieche Kukumides noch lebte“. Das Problem waren natürlich die männlichen Models, denn in Palmilla hatte niemand die Figur und den Schneid, sich für so was zur Verfügung zu stellen. Ein weiteres Problem waren die Kleider, die vorgeführt werden sollten, da es im Dorf einfach keine Modemacher gab.

Nach einer erregten Debatte im Gemeinderat beschloß er, sich Männermodels und Kleider direkt von einem Modehaus in Santiago kommen zu lassen. Die weiblichen Models jedoch stammten aus der Umgebung. M.I.C. wählte die Schönsten aus Puquillay und Placilla, die Vorwitzigen aus Nancagua und die derben Bauernmädel von La Calera, die den Mangel an konventioneller Attraktivität durch die Keckheit, Kühnheit und Entschlossenheit wettmachten, für die schon ihre Großmütter berühmt gewesen waren. Den unseligen Zwischenfall jedoch beschworen die „Mondsüchtigen“ herauf, die, nicht zufrieden damit, die Mädchen auszulachen und zu verspotten, sich über die männlichen Models aus Santiago hermachten, die sich natürlich nicht von ein paar ungehobelten Provinzlern wie hundsgemeine Stricher behandeln lassen wollten. Vom Pisco angeheitert, faßten sich die feinen Herrchen bei den Händen und begannen zu tanzen und hüftenschwingend die empörten Models nachzuäffen. Als Antwort hoben die Frauen dreist ihre Röcke und zeigten ihre behaarten Dreiecke den mondsüchtigen Männern und dem beschämten M.I.C., der auf solch plumpe Weise sein Fest zum Teufel gehen sah, mit dem er dem Dorf Anschluß an die Moderne hatte verschaffen wollen.

Das wäre alles nicht so schlimm gewesen, hätte nicht ein charakterloses Subjekt aus dem Nachbarort Santa Cruz die unsägliche Idee gehabt, den ganzen Vorfall auf Video aufzunehmen. Dadurch erfuhren alle im Dorf und die ganze Umgebung von dem Vorfall, und M.I.C. sah sich unversehens gemein gemacht mit den dubiosen Praktiken der Mondsüchtigen, die so genannt wurden, weil sie, obgleich geachtete Familienväter, ihre sexuellen Neigungen und Vorlieben mit dem Lauf und Stand der Sterne und des Mondes zu wechseln pflegten.

„Nein, Ich kann den Schecken nicht leiden“, knurrte M.I.C., als er von diesem Streich erfuhr und das unselige Video aus dem Verkehr ziehen ließ.

„Ich habe dich aufgezogen wie einen Sohn, Segundin. Wer hat dich morgens zur Schule gefahren? Wer hat dir den Schecken mit dem Sattel geschenkt? Wer hat dir das Fußballspielen beigebracht? Wer hat dich zum Fluß mitgenommen und dich Fischen gelehrt? Erinnere dich, Segundin. Hast du alles vergessen? Dein Vergessen, Segundin, ist schlimmer als die Rachsucht.“

Wie in den mexikanischen Corridos schlugen die Glocken, Schlag um Schlag, zwölf Mal. Die Landarbeiter kehrten in ihre Hütten zurück. Andere suchten unter den Bäumen Schutz vor der sengenden Sonne. Von irgendwo aus der Ferne drang das Echo eines altes Liedes: „Und die Liebe, die hab' ich vergessen, / vergessen hab' ich sie; / wie die Feldmargeriten, die am Wege verblühn, / deine Liebe, vergessen hab' ich sie.“

„Sie jedenfalls habe ich nie geliebt. Ich verabscheue Sie. Ich verachte Sie. Ich habe Sie nur meine Hände halten lassen wegen der Angst, die ich vor Ihnen hatte. Jedes Mal, wenn Sie mit meiner Mutter schliefen, habe ich Ihren Atem gehört und gehaßt. Mich ekelt Ihr Flüstern, Ihr Stöhnen, Ihr Grunzen ... Und niemals habe ich Sie mehr gehaßt als in jener Winternacht, als Wasser über Wasser vom Himmel fiel, Wasser über Wasser auf Dächer und Steine, und als ich erwachte von dem brüllenden Sturm und der wimmernden Frauenstimme. Ich rannte zum Zimmer meiner Mutter und fand sie weinend vor Glück in Ihren Armen, unter ihnen, die Arme um Sie geschlungen. Sie stinkender, unseliger, verfluchter Hund. Da habe ich mich wieder in mein Bett gelegt, vor Hilflosigkeit und Wut schluchzend, und habe mir geschworen, dich zu töten, Schecke.“

M.I.C. entwickelte eine tiefe Zuneigung zu dem Jungen, obwohl er bereits unzählig viele Söhne hatte. Doch Segundo Segundin mit seinen großen schwarzen Augen und seinem tiefen scheuen Blick erfüllte sein Leben mit Zärtlichkeit. Vielleicht war es wegen seiner Liebe zu Jovina. Tatsache ist, daß er dem Jungen ein vorbildlicher Vater war. Er kümmerte sich um seine Erziehung, schickte ihn auf die beste Schule der ganzen Gegend und erträumte für ihn eine Zukunft, die anders sein sollte als die seine.

„Du wirst einmal Rechtsanwalt, Segundin. Du wirst ein bedeutender Mann. Er wird einmal Professor oder Ingenieur, Jovina.“

Jovina sah ihn an. „Wie du willst, Schecke; aber vergiß nie, daß er der Sohn eines anderen ist.“

DIESER andere saß derweil im Kerker von San Fernando, ohne Hoffnung, ohne Zukunft, arbeitete, um die Zeit herumzubringen, in einer Schreinerwerkstatt, ertrug Strafen und Zumutungen an Leib und Seele. Ständig den Tod vor Augen.

„Dem Jungen geht es gut“, sagte Jovina zu ihm, wenn sie ihn zusammen mit den anderen Frauen im Gefängnis besuchte.

„Und wie geht es dir selbst?“

„Ich schlage mich durch, so gut es geht.“

Und die beiden faßten sich an der Hand und beteten mit gesenktem Blick das „Vater unser, der du bist im Himmel ...“

„Ich liebe dich über alles.“

„Ich liebe dich.“

Als die Amnestie erlassen wurde, kam Roberto frei und ging geradewegs zum Haus des Schecken. „Hallo, Jovina.“

Sie erstarrte. Ihr stockte der Atem, als sie ihn vor sich sah, durch die Gefängnisjahre gealtert, abgerissen, mit weißen Bartstoppeln und diesem traurigen Blick, der auf sie gerichtet war.

„Weine nicht.“

„Nein, Roberto, nein“, sie fühlte, wie die rote Hitze über ihren Körper lief und auf ihren Wangen brannte. „Nein, Roberto, ich werde nicht weinen.“

Er sackte langsam in sich zusammen, als habe ihm jemand das Herz aus dem Leib gerissen, so daß nun nichts mehr dort war.

„Ich wollte dich abholen, Jovina“, flüsterte er.

Und sie lebten wieder zusammen. Aber nichts war mehr wie früher, von der alten Verbundenheit war nichts geblieben, nur das Mißtrauen. Das Bild des weißen Cabriolets kreiste durch ihr Leben. Roberto verließ das Haus nicht mehr, saß tagelang da, ohne zu sprechen, ohne zu essen, ohne zu denken. Sie hatten nun statt seiner die Welt verändert. Jovina arbeitete weiter bei der Gemeinde, fegte Straßen, beschnitt Bäume, sammelte Müll. Eines Morgens ging Roberto früh aus dem Haus, schlug den Weg zur Brücke von Los Maquis ein. Er ging bis zu ihrer Mitte, warf den Umhang ab, sah einen Moment hinab in das winterliche Hochwasser und sprang. Ob er durch den Aufprall auf die Felsen starb oder im trüben Wasser ertrank, niemand weiß es. Jedenfalls fand man seinen Leichnam Wochen später am Ufer des Lago Rapel.

M.I.C. oblag es, den von Ratten zerfressenen, von scharfen Felsen zerrissenen, vom Wasser zersetzten Körper zu identifizieren. Er kaufte einen Sarg, den er aus der Gemeindekasse bezahlte, und benachrichtigte Jovina. Sie weinte nicht. Sie hatte es gewußt, seit der ersten Nacht, die sie wieder zusammen verbracht hatten und in der sie sich nicht lieben konnten, nicht ein einziges Mal in der ganzen langen Nacht.

„Du magst den Schecken, nicht wahr, Jovina?“ Ein tränenloses Schluchzen schüttelte ihren Körper.

Segundo Segundin hob gerade einen Bewässerungsgraben aus, als er von dem Tod erfuhr.

„Der Schecke hat deinen Vater umgebracht“, sagte Padilla zu ihm. „Der Schecke hat deinen Vater verraten. Deinen richtigen Vater, Roberto.“

„Der Schecke war's, er allein.“

„Der Schecke war's. Der Schecke hat ihn aus dem Wasser gezogen, hat ihm den Sarg gekauft, hat die Totenmesse bezahlt, und hat ihm eine Dauernische besorgt mit Namen und Todesdatum darauf.“

„Sei nicht nachtragend, der Zorn hilft dir nicht weiter ... nur das Vergessen.“

Aber das konnte man nicht vergessen.

Als Kind pflegte er nachts durchs Haus zu schlafwandeln. Er ging dann in das große Wohnzimmer, nahm vor dem Eßtisch Anlauf, sprang die dreieinhalb Meter über den Tisch hinweg und landete sauber auf der anderen Seite. M.I.C. folgte dem Jungen dann, ohne ihn aufzuwecken; nur wenn Segundo versuchte, aus dem Nachttopf zu trinken, hielt M.I.C. ihn zurück, nahm ihn behutsam bei der Hand und brachte ihn wieder ins Bett, wo Segundo Segundin dann zwischen den beiden einschlief. In anderen Nächten ging er, nachdem er über den Tisch gesprungen war, in den Hof und saß dort schluchzend, die Arme um einen der Rebstöcke geschlungen, bis ihn die Erschöpfung übermannte. M.I.C. wartete dann, bis der Junge zu weinen aufhörte, und führte ihn, ohne ihn aufzuwecken, zu seinem Bett zurück. So war M.I.C. damals, als Segundo Segundin erst ein paar Jahre alt war, und Roberto, sein Vater, im Gefängnis war, nur wenige Tage nach dem Militärputsch, der das Land verwüstete und es über Jahre erstickte, erst durch Terror und Angst, später durch Straflosigkeit und Gleichgültigkeit.

„Ich habe nicht vergessen.“ Segundo Segundin starrte ihm in die Augen und sagte: „Und doch werde ich Sie töten, weil Sie meinen Vater getötet haben.“

Der Schecke breitete mutlos die Arme aus. Seine Augen waren gerötet, und die großen Ringe darunter unterstrichen seine unendliche Traurigkeit. Er hob die Hand und sagte: „Bis später, Junge.“

Da riß Segundo Segundin das Messer aus dem Gürtel und stieß es dem Schecken ohne zögern in die linke Brustseite, mitten ins Herz.

Regte sich nicht, der Schecke. Erinnerte sich an die Worte des Schamanen: „Gib acht auf deine linke Seite.“

Vor seinen Augen zerflossen die Berge, die Pappeln sanken zu Boden, die Fiedern der Akazien glitzerten wie silberne Nadeln, und inmitten dieses Glanzes sah er Jesus Christus, der ihm sein blutendes Herz zeigte.

Er schaute den Jungen mit tiefer Zärtlichkeit an, wandte sich ab, stieg in den weißen Impala, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an, und erst als er ihn aufheulen hörte, konnte er sterben.

„Nein, ich kann den Schecken nicht leiden“, gelang es ihm zu sagen. Und auf Palmilla fiel wieder der winterliche Regen.

dt. Willi Zurbrüggen

Hinweis: Als am 11. September 1973 der demokratisch gewählte chilenische Präsident Salvador Allende von den Militärs des Landes ermordet wurde, wurde in Chile nicht nur eine breite Volksbewegung, sondern auch eine Hoffnung zerschlagen: Die Hoffnung, inmitten des Kalten Krieges in einem kleinen Lande durch Reformen und Volkssolidarität einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu errichten. Die Junta des Generals Pinochet verwüstete das Land und überzog es mit Terror und Angst. Nach dem Ende der Diktatur blieben die Täter ungestraft, die Erinnerung an Volksfront und Diktatur lebt fort. Dem chilenischen Filmemacher Miguel Littin, ein glühender Verfechter der „Unidad Popular“ (1971 drehte er den Allende-Film „Compañero Présidente“, 1972 „Das gelobte Land“), gelang 1973 nach kurzer Inhaftierung die Flucht. 1984 kehrte er illegal nach Chile zurück, um einen Dokumentarfilm über das Leben unter der Diktatur zu drehen (“Protokoll aus Chile“, 1986, s. auch G. Garcia Márquez, „Das Abenteuer des Miguel Littin“). Heute ist Littin Bürgermeister seiner Geburtsstadt. Für die vorliegende Erzählung erhielt er den Prix Le Monde diplomatique 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von MIGUEL LITTÍN