11.09.1998

Der freundliche Pförtner

zurück

Der freundliche Pförtner

KOHL kümmert sich um Rußlands Schicksal, aber kümmern sich die Russen um seins? Der Kanzler tituliert Boris Jelzin als „Freund“, oder wenigstens als „mein guter Freund“. Aber welcher Art sind die Gefühle, die dieser Männerfreundschaft von den Einwohnern Rußlands entgegengebracht werden? Was denkt man nicht nur in Rußland, sondern im ganzen östlichen Europa, im vormaligen Reich des Realsozialismus, von unserem Bundeskanzler? Die Antwort des für seinen Sarkasmus weithin bekannten Moskauer Korrespondenten der taz auf diese Frage fällt lapidar aus: „Die Russen denken, er ist eine gewichtige Persönlichkeit, mindestens von der Statur Tschernomyrdins“. Will sagen: man traut, außer Bereicherungsabsichten, der eigenen politischen Klasse nichts mehr zu, und diese Einschätzung erstreckt sich im Zweifel auch auf die Repräsentanten der westlichen Nationen, die einst als Segensbringer verhimmelt wurden. Und was für Clinton gilt, gilt erst recht für Helmut Kohl.

Im Verkehr der Staaten untereinander gibt es keine Freundschaften, nur Interessen. Diese Maxime wäre hinsichtlich der Staatsvölker zu ergänzen. Sie kommen ohne Stereotype über die Nachbarn einfach nicht aus. Und wer würde sich besser eignen, ein Bild des zeitgenössischen stereotypisierten Deutschen abzugeben als Helmut Kohl? Allerdings nimmt, entgegen der konventionellen Annahme, Zahl und Intensität der Stereotype mit der Dichte der Beziehungen zwischen den Völkern zu – et vice versa. In Bukarest interessiert sich kein Mensch für Kohl, weil er nicht mal eine Großtante hat, die aus Siebenbürgen stammt.

GANZ anders stellen sich die Verhältnisse in Polen dar, dem Nachbarn Deutschlands und zukünftigen Zonenrandgebiet der Europäischen Union.Hier nennt man, und das nicht nur im Milieu der Arbeitsmigranten, die Deutschen „Helmut“ (weiblich „Helmutka“), ganz so, wie wir früher im angelsächsischen Sprachbereich den Ehrennamen „Fritzen“ trugen – in Anlehnung an einen anderen großen Deutschen. Für viele Polen ist mit Helmut Kohl die Abkehr vom geliebten nationalen Stereotyp des zugleich aggressiven und überheblichen Deutschen verbunden. Kohl zieht zwar noch einige negative deutsche Teil-Stereotype auf sich: Er gilt als täppisch und humorlos. Gleichzeitig aber als absolut zuverlässiger und beharrlicher Verbündeter, als derjenige Staatsmann, der Polen in Brüssel den Weg zurück nach Europa ebnen wird. Als der deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit grünes Licht für die Verhandlungen um die Nato- und EU-Mitgliedschaft Polens, Tschechiens und Ungarns gab, titelte die Gazeta Wyborcza: „Niemcy murem za nami“, was frei übersetzt heißt: „Die Deutschen stehen geschlossen hinter uns.“ Eine Fehleinschätzung zwar, aber eine, die Helmut Kohl gutgeschrieben wurde.

Interessanterweise wird diese Kohlomanie von Leuten geteilt, die von ihrer politischen Haltung her eigentlich viel mehr zur SPD neigen, und sie nahm auch zu Anfang der neunziger Jahre keinen Schaden, als Kohl mit Rücksicht auf die Vertriebenen den Abschluß der deutsch- polnischen Verträge unerträglich lange vor sich herschob. Heute sehen Polen aller politischen Couleurs mit Bangen dem Wahlausgang am 27. September entgegen.

In Tschechien verhält es sich genau umgekehrt. Die Erklärung ist einfach. Der Bundeskanzler tut nichts, um die Agitation der CSU zu unterbinden, die den Beitritt Tschechiens zur EU von der Aufhebung der Benes-Dekrete, sprich von Entschädigung für das ehemalige Eigentum der Sudetendeutschen abhängig machen will. Mehr noch: er hat es zugelassen, daß im Stiftungsrat, der den gemeinsamen „Zukunftsfonds“ leitet, der Vorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft und notorische Scharfmacher Neubauer Platz nehmen konnte. Die tschechische Öffentlichkeit fühlt sich von Kohl vernachlässigt und gleichzeitig gedemütigt. In diesem Klima gedeiht die Agitation der Nationalisten und der Nationalkommunisten, die in Kohl den alten deutschen Expansionismus und Hegemonismus „verkörpert“ sehen.

AUCH in Polen grassiert die Angst vor deutschen Schadenersatzansprüchen für ehemals deutsches Eigentum in den jetzigen polnischen Westgebieten. Aber in der Auseinandersetzung um die Abwehr solcher Ansprüche wird Kohl eher als Verbündeter angesehen. Anders in Böhmen. Die neue sozialdemokratische Regierung Zeman ging sogar so weit, alle ernsthaften Gespräche hinter das Datum des 27. September zu verschieben. „Mit der SPD-Regierung wird es keine Probleme geben.“ Zwar ein Irrtum des tschechischen Außenministers, aber immerhin eine klare Wahlaussage.

In Ungarn wiederum profitiert Kohl davon, daß Östereich, der ungeliebte Nachbar, alle Aggressionen auf sich zieht. Daß auch Kohl im Zweifel dafür sein wird, die Freizügigkeit von Arbeitsmigranten aus den ostmitteleuropäischen Ländern bei den Beitrittsverhandlungen herauszuschieben, ficht die Ungarn nicht an. Für sie ist Kohl der Heizer und Klima der Bremser im EU-Beitrittsexpreß. Die Sozialisten, mittlerweile in der Opposition, verübelten es dem deutschen Bundeskanzler nicht mal, als er die Konservativen offen im Wahlkampf unterstützte. Auch die um Fünfkirchen konzentrierte deutsche Minderheit wird musterhaft behandelt und sieht keinen Grund, den schwarzen Riesen aufzuwiegeln. Selbst die Karikaturisten Ungarns haben stets auf die Birne als Stilmittel verzichtet. Kohl, der Pensionär, könnte den Wolfgangsee ohne Gefahr mit dem Balaton vertauschen.

KOHL war immer da, vor und nach 1989. Sein Bild ist in Ostmitteleuropa mit dem Völkerfrühling verknüpft, als die alten Zwingherrn stürzten und einen historischen Augenblick lang alles möglich schien. Im Pantheon der demokratischen Revolution wird er freilich nicht Platz nehmen, das ist Ronald Reagan und Maggi Thatcher vorbehalten. Aber einen freundlichen Pförtner könnte er noch abgeben.

C. S.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von C. S.