16.10.1998

Die Rache des Südens

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Die Rache des Südens

Der US-amerikanische Präsident Bill Clinton hat zu seinen jetzigen Schwierigkeiten selbst maßgeblich beigetragen. Wäre er ein starker Präsident gewesen, hätte es die Rechte kaum gewagt, einen Prozeß in die Wege zu leiten, der einem Staatsstreich mit dem Ziel der Amtsenthebung gleichkommt. Jetzt könnte Clinton von seiner eigenen Partei im Stich gelassen werden.

Von NORMAN BIRNBAUM *

SCHON 1995 hatte Clinton mit der sozialreformerischen Tradition der Demokraten gebrochen, als er verkündete: „Die Zeit des big government ist vorbei.“ In der Folge ebnete er wichtige Differenzen zu den Republikanern bewußt ein, indem er die nationalen und internationalen Bedürfnisse des amerikanischen Kapitals bediente, die Kosten seiner Sparpolitik den Ärmsten aufbürdete und solide Sozialpolitik durch einen protestantisch gefärbten moralisierenden Individualismus ersetzte.

Symbolisch für diesen „Verrat“ steht Joseph Liberman, ein eitler Senator, der 1988 erstmalig in Connecticut gewählt wurde. Der scheidende Republikaner, gegen den er damals in den Wahlkampf zog, lehnte entgegen der offiziellen Linie seiner Partei die Todesstrafe ab und trat für die Rechte der Homosexuellen ein. Liberman hingegen, der stets zu Israel hält und sich entschieden für den Golfkrieg aussprach, war einer der Wegbereiter der konservativen Wende der Clinton-Administration in puncto soziale Sicherung und Verbrechensbekämpfung.

In diesem Kontext wurde Bill Clinton 1996 mit knapp 50 Prozent der Stimmen wiedergewählt, wobei die Hälfte der entpolitisierten Wählerschaft den Urnen fernblieb. Anstatt aber die Demokraten aufzurufen, die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus zurückzuerobern, zog er es vor, mit den Republikanern zu verhandeln – auf Kosten seiner eigenen Parteifreunde, die gegen den sinkenden Lebensstandard und den Zerfall der Gesellschaft angehen wollten, die aus der gnadenlosen Rationalisierungsstrategie des amerikanischen Kapitals resultierten. Doch die Republikaner dankten es ihm schlecht. Die Untersuchung des unabhängigen Anklägers Kenneth Starr bot ihnen den Hebel, Clintons Präsidentschaft kaputtzumachen.

Nicht wenige Verfassungsrechtler und viele der Abgeordneten, die nach der Watergate-Affäre das Amt eines unabhängigen Anklägers installierten, sind der Auffassung, Kenneth Starr habe seine Behörde zum Zentrum einer nicht verfassungsgemäßen vierten Gewalt umfunktioniert oder zumindest seine Machtbefugnisse mißbraucht und sei daher eine ernste Bedrohung für die Freiheitsrechte geworden. Die Untersuchung setzte schon während Clintons erster Amtszeit ein. Dabei ging es zunächst um ein obskures Grundstücksgeschäft aus Clintons Zeit als Gouverneur von Arkansas. Starr erhielt seinen Posten aufgrund eines „Putsches“ der Richter, die für die Aufsicht über die Aktivitäten des unabhängigen Anklägers zuständig waren und Starrs Vorgänger entlassen hatten. Diese Richter stammten mehrheitlich aus den Südstaaten und waren von republikanischen Senatoren durchgedrückt worden, die zu den heftigsten Clinton-Feinden gehörten.

Der „südstaatliche Ursprung“ der aktuellen Angriffe gegen Clinton ist in der Tat auffällig. Alle führenden Republikaner im Kongreß stammen aus dem Süden. Kenneth Starr ist Sohn eines texanischen Pastors und gehört selbst einer ziemlich grobschlächtigen protestantischen Sekte an. Sein Streben nach der einen „Wahrheit“ läßt weder Raum für moralische oder philosophische Differenzierungen noch für die Berücksichtigung von Besonderheiten und Zusammenhängen, welche die große Tradition der angelsächsischen „common law“-Rechtsanwendung auszeichnet. Bei Äußerungen von Starr fühlt man sich an die wortgetreue Bibelauslegung erinnert, auf deren Grundlage manche Schulen in den Südstaaten Darwin aus dem Lehrplan gestrichen und die Benutzung von E-Mail verboten haben. Man fühlt sich an die moralinsaure Kleinstadtatmosphäre der zwanziger Jahre erinnert, wie sie Lewis Sinclair in seinem Roman „Babbit“ beschrieben hat. Heute ist diese Kleinstadt überall in den USA anzutreffen, wo ein blinder, verzweifelter Widerstand gegen pluralistische Moralauffassungen und eine allgemeine Angst vor Sexualität dominieren. Der Ankläger Kenneth Starr kann also auf die Zustimmung von mindestens einem Drittel der Nation zählen.

Aber die ganze Sache hat noch eine andere Seite. In der amerikanischen Strafrechtsverfolgung ist es völlig normal, daß der Ankläger mit extrem harten Bandagen kämpft: Zusicherung von Straffreiheit für eine bestimmte Aussage, Drohungen mit Gefängnisstrafen bei Aussageverweigerung, Versuche, Monica Lewinsky zu überreden, ihre Gespräche mit Präsident Clinton heimlich aufzuzeichnen, und so weiter. All das ist keineswegs überraschend in einem Land, dessen Rechtssystem sich wenig um die Rechte der Angeklagten schert. Und auch Präsident Clinton sollte sich nicht wundern: Schon als Gouverneur ist er für die Todesstrafe eingetreten, und als Präsident hat er innere Sicherheit und Verbrechensbekämpfung zu einem zentralen politischen Anliegen gemacht.

Woher rührt aber diese Feindseligkeit der Südstaaten-Republikaner gegenüber einem Präsidenten, der ihnen in vielem so nahe steht? Zunächst einmal ist Clinton mit seinem nordstaatlichen, britisch gefärbten Bildungshintergrund einfach kosmopolitischer, weltoffener. Auch seine Ehe mit einer unabhängigen Frau ist für diese Leute ein Affront. Und obwohl nicht wenige Südstaatler und andere Republikaner, wie die übrige Mittelschicht auch, versucht haben, den Militärdienst in Vietnam zu umgehen, verzeihen sie ihm nicht, daß er trotz seiner prinzipiellen Ablehnung des Vietnamkrieges gewählt wurde. Schließlich sehen sie in den aufrichtigsten Überzeugungen des Präsidenten – seinem empathischen Verhältnis zu den Schwarzen, seinem Eintreten für die Rechte der Frauen und, schlimmer noch, der Homosexuellen – einen Verrat am grundlegenden Wertesystem der patriarchalischen Südstaaten.

Dieser „Kulturkampf“, der den Süden ebenso entzweit wie die Vereinigten Staaten insgesamt, ist so alt wie die Republik. Es ist der Gegensatz zwischen einem Begriff von Nation als weißer, protestantischer Sekte und einem pluralistischen und laizistischen Verständnis von Gesellschaft. Die Protestanten betrachten den Präsidenten ihrer „Erlösernation“ als Pontifex Maximus, dem man gewöhnliche menschliche Sünden nicht verzeihen darf. Demgegenüber hat das laizistische Amerika, das solche Vorstellungen zurückweist, nur ein ideologisches Nichts vorzuweisen: Der Präsident ist lediglich der Generaldirektor von USA Incorporated und darf demzufolge auch ein Privatleben haben.

Nachdem die Republikaner und Meinungsmacher alles darangesetzt haben, das Präsidentenamt lahmzulegen, demonstrieren sie nun ihre Sorge um die Republik. Sie argumentieren, Clinton müsse gehen, damit das Präsidentenamt seine Legitimität zurückgewinne. Die Debatte reduziert sich dabei auf die Frage, ob der Mann geeignet ist, sein Amt auszufüllen, oder seine Zeit fortan in Bußandachten verbringen muß, wie man sie seit der Hexenjagd in Salem im 17. Jahrhundert nicht mehr erlebt hat. Aber muß man hinter diesem Wahnsinn nicht eine Logik suchen? Das Präsidentenamt ist die einzige Institution, die die Öffentlichkeit gegen die Kapitulation vor den Kapitalinteressen mobilisieren kann, wie sie von der Kulturindustrie mit tausend Argumenten gefordert wird. Gegenüber einem zerstrittenen und vielfach korrupten Kongreß kann nur ein aktiver Präsident, der sich auf die Öffentlichkeit stützt, größere und kleinere soziale Reformen durchsetzen.

Das öffentliche Leben in den Vereinigten Staaten ist leider in zunehmendem Verfall begriffen. Die Gewerkschaften sind schwach, die sozialen Bewegungen der sechziger Jahre haben sich aufgelöst oder ihren Biß verloren, und den meisten Bürgern fehlt die Zeit oder das nötige intellektuelle Rüstzeug, um die eigene Lage zu erfassen oder gar zu verändern. Der öffentliche Widerstand gegen ein Amtsenthebungsverfahren ist allerdings ein gutes Zeichen. Mitte September lehnten über 60 Prozent der Amerikaner die moralische Lynchjustiz ab, die gegen Clinton von den Republikanern inszeniert wird, unter begeisterter Beihilfe durch die Medien. Viele Bürger finden die Nachforschungen von Kenneth Starr über die sexuellen Aktivitäten des Präsidenten abstoßend und verweisen darauf, daß Clinton zum Präsidenten, nicht zum Heiligen gewählt wurde. Dieselben Republikaner, die das Internet mit Zensurvorschriften überziehen wollen, machten Starrs Anklageschrift online ohne Zögern der Öffentlichkeit zugänglich. Und nicht wenige von ihnen könnten wegen persönlicher Verhaltensweisen zur Rechenschaft gezogen werden, die ihre tugendhaften Äußerungen Lügen strafen.

Die größte Unterstützung findet Clinton unter den Schwarzen, die glauben, der von ihnen gewählte Präsident werde wegen seiner antirassistischen Haltung angegriffen. Die katholischen Bischöfe und zahlreiche Priester haben es ausdrücklich abgelehnt, Clinton zu verurteilen. Einige erklärten sogar, nicht das Privatleben des Präsidenten sei für den sündhaften Zustand der Gesellschaft verantwortlich, sondern der herrschende Sozialdarwinismus. Die liberalen Protestanten sind zwar über Clintons Verhalten entsetzt, wollen aber nicht ohne weiteres vor ihren fundamentalistischen Glaubensgenossen kapitulieren. Und auch die laizistischen Juden halten zu dem Mann, der bei den Orthodoxen und bedingungslosen Parteigängern Israels in Mißkredit geraten ist, weil er sich herausnahm, die Likud-Regierung zu kritisieren.

Allerdings ist durchaus nicht sicher, ob Präsident Clinton die öffentliche Meinung noch lange mehrheitlich hinter sich haben wird, zeigt er sich doch unfähig, eine politische Verteidigung zu organisieren. Sein haltloser Charakter und seine politische und philosophische Prinzipienlosigkeit sind nicht nur Nebenerscheinungen in der Lebensgeschichte eines begabten Karrieristen. Tiefergehende Diskussionen sind aus dem politischen Leben der USA verschwunden, statt ideologischer Konflikte gibt es jetzt die Manipulation der Bilder, statt moralischer Stringenz herrscht der Opportunismus. Wobei Präsident Clinton freilich nicht vorausgesehen hat, daß seine Gegner noch opportunistischer – und noch zynischer – sein können als er selbst. Damit ist die Supermacht nunmehr zum Irrenhaus verkommen.

dt. Bodo Schulze

* Professor am Georgetown University Law Center, Washington.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von NORMAN BIRNBAUM