13.11.1998

Als der LTCM-Fonds noch über jeden Verdacht erhaben war

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Als der LTCM-Fonds noch über jeden Verdacht erhaben war

BISHER galt „crony capitalism“, der Kumpel-Kapitalismus, als eigentliche Ursache der Asienkrise von 1997. Da die wirtschaftlichen Grunddaten der Region (Inflation, Arbeitslosenquote und Wachstumsrate) in Ordnung waren und Indonesien, Süd-Korea und Thailand die Anweisungen des IWF mustergültig befolgten, mußte ein neuer Schuldiger gefunden werden. Und man fand ihn in der Eigentümlichkeit des Kapitalismus dieser Länder, deren nach außen hin abgeschlossene, im geheimen agierende, inzestuöse Elite die Welt der Politik, Wirtschaft und Finanzen als ihr ausschließliches Privateigentum betrachtet. Der Kumpel in der Bank lieh dem Kumpanen in der Wirtschaft, und als die Stunde des Kassen(ab)sturzes kam, da streckte der Staat den notleidenden Banken seine wundersam rettende Hand entgegen.

Seit einem Jahr schärft man den Regierungen in Asien und anderswo ein, sie sollten ihr System transparenter gestalten und den Gesetzen des Markts unterwerfen. Vor allem mit der bisherigen Praxis, bankrotte Banken oder Unternehmen nur deshalb am Leben zu erhalten, weil sie einem Kumpel oder dessen Anhängerschaft gehören, soll Schluß sein.

Diese Argumentation kann nach der „Rettung“ von Long Term Capital Management (LTCM), dem Star unter den Spekulationsfonds, wohl kaum noch als glaubwürdig gelten. Am 23. September bat der Chef der New Yorker Notenbank, William McDonough, die Creme der Weltfinanz auf einer eigens anberaumten Versammlung, den praktisch bankrotten Fonds vor dem Konkurs zu retten. Innerhalb weniger Stunden einigten sich fünfzehn amerikanische und europäische Finanzinstitute, dem Fonds 3,5 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen; es waren dies die Bankers Trust, Barclays, Chase, Deutsche Bank, UBS, JP Morgan, Salomon Smith Barney, Goldman Sachs, Crédit Suisse, Merrill Lynch, First Boston und Morgan Stanley Dean Witter, alle mit jeweils 300 Millionen Dollar, die Société Générale mit 125 Millionen sowie die Crédit Agricole, Paribas, und Lehman Brothers mit je 100 Millionen Dollar. Als Gegenleistung verlangten sie die Übertragung von 90 Prozent des Fondsvolumens sowie die Schaffung eines Aufsichtsorgans.

Die Banken waren und sind auf jede erdenkliche Weise in die Geschäfte des Fonds verstrickt. Zu den Kunden des Fonds gehören neben zahlreichen Finanzinstituten auch staatliche Organisationen, darunter die Zentralbanken Chinas und Italiens, die erhebliche Summen in den Fonds investiert haben. Einige Geldinstitute eröffneten dem Fonds Kreditfazilitäten, die es ihm dank der Hebelwirkung von Termingeschäften – der Differenz zwischen erwartetem Gewinn und Einsatz – ermöglichten, spektakuläre Gewinne zu erzielen. Viele Banken dienten dem Fonds bei Finanzoperationen zudem als Gegenkontrahent. Mehr noch: Die Führungsspitzen einiger Finanzinstitute, darunter Merrill-Lynch-Präsident David Komansky und Paine-Webber-Präsident Donald Marron, haben auch privat in den Fonds investiert, um ihr Vermögen gewinnbringend anzulegen.

Das blinde Vertrauen der Banken in die Aktivitäten dieser Institution ist um so beunruhigender, als die auf dem Spiel stehenden Beträge schwindelerregende Höhen erreichen: Anfang dieses Jahres verfügte LTCM bei einem Eigenkapital von 4,8 Milliarden Dollar über ein schuldenfinanziertes Portfolio von 200 Milliarden Dollar und Finanzderivate mit einem (theoretischen) „Buchwert“ in Höhe von 1250 Milliarden Dollar.

Die Banken verließen sich dabei vor allem auf die Reputation der LTCM-Partner. Gründer von LTCM ist der legendäre Händler John Meriwether, der das Bankhaus Salomon Brothers nach einer spektakulären Karriere verließ, als im Zusammenhang mit dem Erwerb von US- Schatztiteln Unstimmigkeiten aufgetreten waren. Der Skandal konnte seinen Ruf und seine Selbstsicherheit indes in keiner Weise ankratzen. Als ein Kollege ihn fragte, ob er die Märkte für effizient halte, gab er zur Antwort: „Ich mache sie effizient.“ Weitere führende LTCM-Partner waren die beiden Kapazitäten der „Risikowissenschaft“ Myron Scholes und Robert Merton, die für ihre Arbeiten über Finanzderivate 1997 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielten, sowie eine illustre Gesellschaft von Ökonomieprofessoren, jungen Doktores der Mathematik und Physik und andere kleine Genies (rocket scientists), darauf spezialisiert, höchst komplexe, höchst waghalsige und höchst profitable Spekulationsgebilde zu zimmern.

Die Aktivitäten des Fonds unterlagen strengster Geheimhaltung. Neugierigen Investoren wurde nahegelegt: „Gehen Sie mit ihrem Geld woanders hin.“ Und obwohl der Mindesteinsatz von 10 Millionen Dollar auf drei Jahre festgelegt werden mußte, rannten die Investoren dem Fonds die Türen ein. Die Ergebnisse schienen alle Hoffnungen zu rechtfertigen. Nach Abzug der zweiprozentigen „Bearbeitungsgebühr“ und eines Gewinneigenanteils von 25 Prozent erbrachte der Fonds den Anlegern 1995 einen Gewinn von 42,8 Prozent, 1996 von 40,8 Prozent und 1997 von 17,1 Prozent, wobei sich die „geringe“ Profitrate im dritten Jahr aus der Asienkrise erklärte. Der Einbruch kam im September dieses Jahres, nachdem der Fonds fälschlicherweise auf weltweit konvergierende Zinsen gesetzt hatte.

In den Augen des Federal-Reserve- Präsidenten – der in diesem Fall allerdings keine Aufsichtspflicht hatte – war die Rettungsaktion gerechtfertigt: „Eine abrupte, ungeordnete Abwicklung von LTCM hätte für die amerikanische Wirtschaft inakzeptable Folgen gehabt.“ In der Tat hätten die Kreditgeber das Portfolio von rund 200 Milliarden Dollar in einer Situation allgemeiner Panik zu Schleuderpreisen verkaufen müssen. Dennoch betonte die Fed, daß von einer Rettungsaktion eigentlich keine Rede sein könne, da keine öffentlichen Gelder aufgewandt wurden. Den reichen Spekulanten, versprach die US-Notenbank hoch und heilig, werde man nicht unter die Arme greifen; sie würden auf jeden Fall Federn lassen müssen. Gleichwohl versicherte der Sprecher von LTCM, nachdem er sich bei den hilfsbereiten Finanzinstituten bedankt hatte: „Die Kerle sind heute überaus glücklich. Sie sind langfristig in besserer finanzieller Form als je zuvor.“

Das Aufsichtskomitee hat einige seiner besten Derivatspezialisten mit der Überwachung der Fondsaktivitäten betraut. Nach neuesten Informationen setzt sich die Abwärtstendenz trotz Geldtransfusion indes fort. Zwei Wochen nach der Rettungsaktion hat der Fonds offenbar weitere 200 Millionen Dollar verloren.

I. W.

dt. Bodo Schulze

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von I. W.