13.11.1998

Pinochet in London

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Pinochet in London

Die oberste Rechtsinstanz Großbritanniens hat darüber zu befinden, ob Chiles Exdiktator Pinochet an die spanische Justiz ausgeliefert werden kann. Damit steht nicht nur die Durchsetzbarkeit menschenrechtlicher Normen auf dem Prüfstand, sondern auch die britische Justiz.

Von ANTHONY BARNETT *

DIE Festnahme von General Pinochet in einer Londoner Klinik bedeutet für die politische Kultur Großbritanniens einen epochalen Schock. Seit dem 4. November beraten die „Law Lords“ darüber, ob der ehemalige chilenische Diktator an Spanien ausgeliefert werden kann. Mit dem Fall Pinochet sind zwei wichtige juristische Probleme angesprochen, und zwar unabhängig davon, ob die umfänglich dokumentierten Anschuldigungen sich verifizieren lassen.

Das erste Problem betrifft die Frage, ob das Auslieferungsabkommen zwischen Spanien und Großbritannien auch Verbrechen abdeckt, die weder in Spanien begangen noch von Spaniern verübt wurden und in die keine britischen Staatsbürger involviert sind. Bei der ersten gerichtlichen Anhörung am 28. Oktober hatte Lordrichter Bingham die juristische Absegnung für ein entsprechendes Auslieferungsbegehren verweigert.

Pinochets Anwälte haben ein weiteres Argument vorgetragen: Für die fragliche Zeit stehe ihrem Mandanten grundsätzlich die Immunität eines amtierenden Staatsoberhauptes zu. Die Taten, die er begangen – oder befohlen – haben solle, seien im Rahmen seiner offiziellen Amtspflichten in seinem eigenen Lande geschehen, mithin legal gewesen. Auch dieser Auffassung stimmte Lord Bingham zu: Das Gericht eines Staates könne nicht über die „souveränen Handlungen“ eines anderen Staates urteilen.

Bingham ließ aber die Berufung an die höchste gerichtliche Instanz Großbritanniens, die Law Lords zu. Damit mußte das chilenische Militärflugzeug, das für den Rückflug auf einer britischen Luftwaffenbasis bereitsteht, auf seinen Passagier vorerst warten. Pinochet war mit einer Delegation zwecks Waffeneinkauf nach England gekommen und hatte gehofft, nach einer schnellen Entscheidung im gewohnten Stil des honorigen Staatsrepräsentanten nach Chile zurückzukehren.

Aber je mehr sich die Welt für den Fall interessierte, desto deutlicher wurde, daß dessen Ausgang den Ruf des englischen Justizsystems beschädigen könnte. Die Law Lords haben neben dem Obersten Ankläger der Krone auch amnesty international und andere NGOs zugelassen, die für eine gerichtliche Verfolgung Pinochets plädieren konnten. Noch vor zehn Jahren wäre das Ansinnen von NGOs, in einem solchen Rechtsstreit aufzutreten, mit Sicherheit abgewiesen worden.

Normalerweise treten die Law Lords in einem kleinen Sitzungsraum im Parlamentsgebäude zusammen. Selbst ihre juristisch bedeutsamsten Urteile werden von der breiteren Öffentlichkeit kaum beachtet und in der Regel vor leeren Bänken verlesen. Und die meisten Zeitungen haben ihren Lesern noch nie erklärt, wozu die Law Lords überhaupt da sind. Jetzt plötzlich stehen sich die internationalen Medien in dem engen Raum auf den Füßen, um die Zeugenaussagen zu hören und einen Eindruck von der Qualität des englischen Rechtssystems zu gewinnen. Kann angesichts solch weltweiter Aufmerksamkeit Großbritannien – das im Namen der allgemeinen Menschenrechte Saddam Hussein zur Ordnung ruft und Beobachter in den Kosovo entsendet – es sich überhaupt leisten, dem wohl schändlichsten aller noch lebenden Diktatoren die Straffreiheit eines Staatsoberhauptes zu gewähren?

Es kann natürlich. An Perfidie war in diesem Vereinigten Königreich noch nie ein Mangel. Der ganze Vorgang hat die umwerfende Skrupellosigkeit der traditionellen britischen Rechten enthüllt. Zwei führende Figuren der Thatcher-Ära haben in Briefen an die Times die Freilassung Pinochets gefordert: zum einen machte Margaret Thatcher selbst geltend, Pinochet habe während des Falklandkrieges London unterstützt, daher sei man es ihm heute schuldig, ihn laufen zu lassen. Zwar habe es unter Pinochet auch „Menschenrechtsverletzungen“ gegeben, aber dem seien ja ähnliche Rechtsverletzungen unter Präsident Allende vorausgegangen.

Der zweite Brief stammte von Geoffrey (heute Lord) Howe, dem ehemaligen Außenminister, der 1990 am Rücktritt von Margaret Thatcher mitgewirkt hatte. Was allerdings Waffenlieferungen an Diktatoren betrifft, so hatten die beiden in der Vergangenheit stets als Tandem gearbeitet. Noch 1988 hatten sie Saddam Hussein industrielle Anlagen für die Fabrikation von Waffen geliefert. Ihr Interesse an der Immunität ehemaliger Staatsoberhäupter ist nicht juristischer, sondern durchaus praktischer Natur. Man braucht einen Freiraum für das wohlbegründete Interesse an Waffenhandel und Machtpolitik, ohne mit unbequemen Fragen nach der innenpolitischen Ausrichtung der jeweiligen Regime rechnen zu müssen.

„Straffreiheit für Staatsoberhäupter“ ist allerdings ein juristischer Begriff, der auf den Westfälischen Frieden zurückgeht. Es wäre fast zu schön, um wahr zu sein, wenn dieser Begriff just zum 350. Jahrestag zu Grabe getragen werden könnte. Und das ausgerechnet in Großbritannien, das sich als Gesellschaft eigenen Rechtes versteht. Deren politische Klasse hat zwar jeder Kolonie, die sie aufgeben mußte, eine geschriebene Verfassung hinterlassen, selbst aber nie das Gefühl verspürt, auch das Mutterland könnte eines solchen Rechtstextes bedürfen. Seit 1945 haben britische Juristen an der Formulierung internationaler Rechtskonventionen mitgewirkt – ohne auf die Idee zu kommen, das Vereinigte Königreich solle sich ebenfalls einer solchen rechtlichen Kodifizierung unterwerfen.

Darüber hinaus hat die Erfahrung des Holocaust sowohl ein Motiv als auch eine Rechtfertigung für die Herausbildung eines internationalen Kodex der Menschenrechte geliefert, der dafür sorgen soll, daß Folter und Massenmord nicht straflos bleiben. Einige der besten britischen Juristen investierten ihre kreativen Fähigkeiten in den Versuch, rechtsstaatliche Grundsätze auf internationaler Ebene zu verankern. Aber das brachte weder die juristische noch die politische Klasse zu dem Schluß, daß auch sie selbst den Anforderungen der internationalen Gemeinschaft zu entsprechen hätten. Im Gegenteil. Sie gingen davon aus, der Rest der Welt habe sich auf das britische Niveau hochzuarbeiten: ein Niveau, das auf der Insel ganz automatisch und instinktiv durch die Prinzipien des „common law“ gewährleistet sei, wohingegen rückständigere Völker eines geschriebenen Regelwerkes bedürften.

Jetzt kehrt das internationale Recht nach Großbritannien zurück. Hier erkennt man einmal die positive Seite der Globalisierung. Ohne das Internet wäre der Auslieferungsantrag für Pinochet wahrscheinlich nie gestellt worden. Die Familien der in Chile „verschwundenen Personen“ haben ihre eigene Website. Einige von ihnen leben in London und erfuhren über diese Website, daß sich Pinochet zur Behandlung in einem britischen Krankenhaus aufhielt. Sie telefonierten bei allen Privatkliniken herum und konnten so den General aufspüren.

Die positive Seite der Globalisierung zeigt sich noch in einem weiteren Aspekt. So, wie es eine internationale Kapitalzirkulation gibt, gibt es heute auch eine internationale Ebene für die Zirkulation von Recht und Gesetz. Auf dieser Ebene treffen sich die Verfechter von Menschenrechten, um Urteile und Präzedenzfälle von Gerichten in aller Welt auszuwerten. Die Richter sind damit nicht mehr nur juristische Ausführungsorgane einer homogenen, national beschränkten Gesellschaft. Sie sind vielmehr Teil einer weltweiten Berufsgruppe und fühlen sich auf dieser globalen Ebene gegenüber ihren Kollegen rechenschaftspflichtig. Diese neue Einstellung breitet sich in dem Maße aus, als immer mehr Juristen auf der Ebene des Europäischen Gerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte tätig sind. Über diese Ebene von Globalisierung verbreitert sich die Kompetenz, die es erlaubt, juristisch einzugreifen und Personen zur Verantwortung zu ziehen, die rechtliche Minimalnormen verletzen – ganz gleich, wo sie sich befinden.

Wird die Entscheidung der Law Lords den Anspruch der internationalen Rechtsnormen stützen? Angesichts der brutalen Eindeutigkeit, die das erste Urteil von Lord Bingham auszeichnet, wohl eher nicht. Bingham argumentiert im Grunde, internationales Recht könne nur durch internationale Gerichte angewandt werden. Ein rechtstechnisch möglicher Ausweg bestünde darin, umgehend einen internationalen Gerichtshof zu etablieren, der Pinochet in einem rechtsstaatlichen Verfahren aburteilen könnte. Daß die britische Regierung eine solche Entwicklung unterstützten könnte, ist allerdings kaum anzunehmen. Aber die Tatsache, daß man solche Perspektiven heute thematisieren und diskutieren kann, zeigt an, daß die Durchsetzung von Menschenrechten in ein ganz neues Stadium eingetreten ist.

Inzwischen hat Pinochet selbst einen wichtigen Punkt zu seiner Verteidigung vorgebracht. Am 7. November verwies er in einer larmoyanten Erklärung auf den Versöhnungsprozeß in Ländern wie Nordirland, Südafrika und vor allem Spanien, wo man „die Franco-Jahre ohne gegenseitige Schuldzuweisungen“ hinter sich gebracht habe. In all diesen Fällen, argumentiert Pinochet, „wurde nach einem Prozeß qualvollen Nachdenkens der weise Beschluß gefaßt, die Vergangenheit nicht wieder aufzurollen“. Chile habe dasselbe Recht, meint der Exdiktator.

Damit hat sich Pinochet zwar selbst mit einem Faschisten und sein Regime mit dem der Apartheid verglichen und sich damit im Grunde selbst bezichtigt. Aber dennoch ist der angesprochene Punkt wichtig. Wenn eine Gesellschaft einen inneren Friedensprozeß durchgemacht hat, welches Recht hätten dann andere, die damit verbundene Amnestie rückgängig zu machen? Die Antwort lautet womöglich: keines – vorausgesetzt allerdings, die Täter verbleiben auf ihrem eigenen Territorium. Pinochet hat sein Land unter seiner Herrschaft zum Gefängnis (oder zum Friedhof) für seine Feinde gemacht. Als er die Macht an seine Nachfolger übergab, hat er sichergestellt, daß er und seine Mitschurken nach chilenischem Recht nicht belangt werden konnten. Dabei stützte er sich auf ein Militär, dessen Machtpotential – anders als im Fall Südafrika – die Politiker in ihren Entscheidungen wirksam einschüchtern konnte.

Wenn die Law Lords entscheiden sollten, daß internationales Recht im Fall Pinochet nicht anwendbar ist und der General nach Hause reisen kann, sollten sie dafür sorgen, daß ihm sein Land zu einer Art Gefängnis wird: Pinochet dürfte sich nie wieder sicher genug fühlen, eine Auslandsreise anzutreten. Das ist zwar nicht das, was er verdient, aber das mindeste.

dt. Niels Kadritzke

* Freier Autor, London. Gründungsdirektor der Charter 88; s. auch „This time: Our constitutional revolution“, London 1997.

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von ANTHONY BARNETT