Betr.: Labour Party in Großbritannien
Die Linke hat lange über die Dialektik von Mittel und Zweck diskutiert, über das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Umwälzung und Berücksichtigung der ökonomischen Zwänge. Die Regierungsübernahme durch Labour in Großbritannien, die „plurale“ Linke in Frankreich, die postkommunistische Mitte in Italien und die „rot-grüne“ Koalition in Deutschland hat viele Versuche provoziert, Unterschiede zwischen diesen vier Ländern herauszuarbeiten. Doch trotz differierender Wahlaussagen und Regierungskoalitionen haben sich die nationalen Besonderheiten im Zuge der Regierungspraxis so sehr abgeschliffen, daß sich diese Mühe kaum mehr lohnt.
Bedeutendere Unterschiede zwischen der „linksliberalen“ Mannschaft von Tony Blair und der angeblich weniger unternehmerfreundlichen Regierung von Lionel Jospin wird man vergebens suchen. Der britische Premierminister, der manchmal so tut, als suche er den heiligen Gral eines Thatcherismus mit menschlichem Antlitz, hat immerhin die Einführung eines Mindestlohns und neuer Gewerkschaftsrechte durchgesetzt. Sein französischer Kollege behauptet zwar das „Recht einer Bestandsaufnahme“ der sozial negativen und moralisch unvertretbaren Resultate der Mitterrand-Ära, hält sich in der Praxis jedoch an eine Handlungsmaxime, die schon für beide Amtsperioden von Mitterrand kennzeichnend war: Man verspricht unablässig fortschrittliche Reformen, nur um die Akzeptanz einer faktisch neoliberalen Modernisierungspolitik zu erhöhen, die in besorgniserregendem Tempo vorangetrieben wird.
Auch Oskar Lafontaine, der gegenüber der Arroganz der Zentralbanken auf den legitimen Ansprüchen demokratisch gewählter Regierungen bestand, hat schon nach wenigen Wochen den Rückzug angetreten. Es hat den Anschein, als hätte die „Linke an der Macht“ nur noch den Ehrgeiz, die Geldmächte zu bedienen. Auf der Tagesordnung stehen weitere Privatisierungen, die Einführung von Pensionsfonds, die Fortschreibung der Sparpolitik, das unveränderte Festhalten am Stabilitätspakt und die Ablehnung einer umfassenden Offensive gegen Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit. Dieses Programm stößt auf um so weniger Widerstand, als die kleinen fortschrittlichen Koalitionspartner sich häufig mit rein formalen Zugeständnissen begnügen, um sodann ihr eigenständiges Profil eher bei medienwirksamen gesellschaftlichen Themen vorzuzeigen.
Die Auflösung der europäischen Rechten hätte die Chance zu einer anderen Wirtschafts- und Sozialpolitik geboten; der Regierungslinken dient sie nur dazu, sich als Geschäftsführer der neoliberalen Ordnung zu etablieren. Daß diese Ordnung neuerlich auf Widerstand stößt, steht außer Zweifel. Doch der Wille zum Protest macht noch keine Bewegung, eine Bewegung noch kein Programm, ein Programm noch keine Politik. Die Dialektik von Mittel und Zweck steht immer noch und erneut auf der Tagesordnung.
S. H.