11.12.1998

Welt ohne Kommunikation

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Welt ohne Kommunikation

Durch die rasche Ausbreitung des Internet erleben die neuen Kommunikationstechnologien derzeit einen regelrechten Boom. Diese Art der Übermittlung fördert den Meinungsaustausch. Zudem steigt die Menge der verfügbaren Informationen exponentiell. Das ist gleichermaßen faszinierend wie beunruhigend. Welche Gefahren sind real, und wie kann man ihnen widerstehen, ohne in Archaismus zu verfallen? Zwei große Schriftsteller und Nobelpreisträger, Kenzaburo Oe und José Saramago, äußern sich.

Von JOSÉ SARAMGO *

EIN großer spanischer Philosoph des 19. Jahrhunderts, Francisco Goya, der den meisten nur als Maler bekannt ist, schrieb einst: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.“ In der heutigen Zeit, da sich die Kommunikationstechnologien explosionsartig ausbreiten, steht die Frage im Raum, ob diese nicht unter unseren Augen neuartige Ungeheuer gebären. Gewiß, die neuen Technologien sind an sich Früchte der Reflexion, der Vernunft. Aber ist die Vernunft derzeit wach? Ist sie präsent, wachsam und kritisch, nachhaltig kritisch? Oder ist es vielleicht eine schlaftrunkene, dösende Vernunft, die in den Momenten der Erfindung, des Erschaffens, der Imagination aus der Bahn gerät und tatsächlich Ungeheuer gebiert?

Als Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung der Eisenbahn ein Durchbruch im Bereich der Kommunikation erzielt schien, malten einige Schwarzseher die Schrecknisse der neuen Technik an die Wand und verbreiteten, die Menschen würden in den Tunneln ersticken. Sobald die Geschwindigkeit 50 Stundenkilometer überschreite, werde den Menschen das Blut aus Nase und Ohren spritzen, und die Reisenden würden unter schrecklichen Krämpfen sterben. Dies sind Apokalyptiker, professionelle Pessimisten. Sie zweifeln noch an jedem Fortschritt der Vernunft. Die ohnehin, diesen Obskurantisten zufolge, nichts Gutes hervorbringen kann.

Auch wenn diese Menschen im Grunde unrecht haben, muß man einräumen, daß Fortschritt meist beides ist: gut und schlecht, und zwar gleichzeitig. Ein Zug etwa, der notwendige Güter transportiert oder mit dem wir an einen Urlaubsort reisen, ist selbstverständlich eine gute Sache, wohingegen ein Zug, der Kriegsmaterial transportiert oder Menschen in Vernichtungslager deportiert, eine schlechte Sache ist. Genau wie die Eisenbahn ist auch das Internet für sich genommen weder gut noch schlecht. Erst die Nutzung wird uns ein Urteil ermöglichen. Und aus diesem Grunde darf die Vernunft heutzutage weniger denn je schlafen.

Wenn jemand bei sich zu Hause täglich 500 Zeitungen abonniert hätte, würde man die Person wahrscheinlich für verrückt halten. Und das wäre sie wohl auch. Denn wer außer einem Irren wollte schon täglich 500 Zeitungen lesen? Es würde bedeuten, daß diese Person alle drei Minuten eine neue liest, also über zwanzig pro Stunde, und das vierundzwanzig Stunden am Tag. Manche Leute scheinen dies zu vergessen, wenn sie voller Verzückung verkünden, dank der digitalen Revolution könne man künftig 500 Fernsehsender empfangen. Inwiefern könnten uns 500 Fernsehsender besser informieren als jene 500 Zeitungen, die wir rein materiell gar nicht lesen können? Der glückliche Abonnent von 500 Fernsehsendern wird unweigerlich von einer fiebernden Ungeduld erfaßt werden, die kein Bild der Welt mehr besänftigen kann. Er wird sich und die Zeit im schwindelerregenden Labyrinth des permanenten Zappens verlieren. Er wird Bilder konsumieren – aber informieren wird er sich nicht.

Manchmal heißt es, ein Bild wiege schwerer als tausend Worte. Das ist falsch. Bilder bedürfen sehr oft eines erklärenden Textes. Und sei es nur, um uns dazu zu bringen, über den Sinn einiger der Bilder nachzudenken, die das Fernsehen bis zum Exzeß speisen.

Ein Beispiel hierfür ist der spektakuläre Sturz des Radfahrers Abduschaparow, der sich vor einigen Jahren bei der letzten Etappe der Tour de France ereignete, ausgerechnet in der Zielgeraden auf den Champs Elysées. Der Sturz wurde live übertragen, wir konnten die Begebenheit mitansehen, so wie wir auf der Straße mitansehen, wenn eine Person von einem Auto umgefahren wird. Mit dem kleinen Unterschied, daß das Auto die Person nur ein einziges Mal umgefahren hätte. Und daß ich, auch wenn ich das Ereignis gesehen habe, das Auto nicht noch einmal zurückfahren lassen könnte, um die Unfallszene zu wiederholen – es sei denn, ich wäre ein ausgemachter Sadist. An die dreißig Mal jedoch konnten wir im Fernsehen den Sturzunfall Abduschaparows ansehen, dank der unzähligen Möglichkeiten der neuen Technologie: mit und ohne Zoom, aus der Vogel- und aus der Froschperspektive, aus entgegengesetzten Blickwinkeln, als Kamerafahrt, von vorne, von der Seite... und immer wieder in Zeitlupe. Man konnte zusehen, wie der Rennfahrer vom Rad fiel, wie sein Gesicht sich langsam dem Boden näherte, den Asphalt berührte, sich vor Schmerz verzerrte...

Bei jeder neuen Wiederholung erfuhren wir ein wenig mehr über die Umstände des Sturzes, über das Wie und das Warum des Unfalls, die Geschwindigkeit, die Folgen usw. Doch bei jedem neuen Mal stumpfte unsere Sensibilität ein Stück weiter ab. Das Geschehen bekam etwas Kaltes, es schien nicht mehr aus dem wirklichen Leben, sondern aus dem Theater oder dem Kino zu stammen. Allmählich betrachtete man den Sturz mit der Distanz des Kinofachmanns, der eine Sequenz aus einem Actionfilm seziert. Schließlich hatten die Wiederholungen unser Empfinden gänzlich abgetötet.

Nun hören wir, durch die neuen Technologien würden wir künftig die Gefilde der totalen Kommunikation erreichen. Diese Formulierung ist trügerisch, denn sie will glauben machen, die Gesamtheit der Menschen auf diesem Planeten könne demnächst miteinander kommunizieren. Das trifft leider nicht zu. Nur 3 Prozent der Weltbevölkerung haben überhaupt Zugang zu einem Computer. Und noch viel weniger Leute nutzen das Internet. Eine überwiegende Mehrheit unserer Mitmenschen weiß nicht einmal von der Existenz der neuen Technologien. Sie verfügen ja zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal über die grundlegenden Errungenschaften der guten alten industriellen Revolution: über Trinkwasser, elektrischen Strom, Schulen, Krankenhäuser, Straßen, Eisenbahnen, Kühlschränke, Autos usw. Und wenn nichts unternommen wird, geht auch die informationelle Revolution an diesen Menschen vorbei.

Nur eine Information, die uns den Menschen näherbringt, macht uns wissender und weiser. Mit der Möglichkeit, auch auf große Distanz an alle benötigten Dokumente heranzukommen, wächst jedoch auch das Risiko der Entmenschlichung. Und das der Ignoranz. Nicht mehr Erfahrung und Wissen sind der Schlüssel zur Kultur, sondern die Fähigkeit, aus den zahlreichen Kanälen und Informationsvorkommen des Internet die benötigten Fakten zu sammeln. Man kann also heute aus der Welt sein, sprich: seine soziale, ökonomische und politische Umwelt ignorieren, und doch über jede erdenkliche Information verfügen. Auf diese Weise ist Kommunikation kein Gemeinschaftsakt mehr, und es bleibt nur das Bedauern über den Verlust der wirklichen Kommunikation von Mensch zu Mensch. Bald werden wir uns nach den alten Bibliotheken zurücksehnen: Aus dem Haus gehen, einen Weg zurücklegen, in das Gebäude hineingehen, grüßen, sich setzen, ein Buch bestellen, holen, in die Hand nehmen, aufschlagen; die Arbeit des Druckers und des Buchbinders erkennen, die Spuren früherer Leser wahrnehmen, die mit ihren Händen, Fingern die Seiten umgeblättert haben; wahrnehmen, wie die Menschheit diese Gegenstände über Generationen hinweg mit ihrem Blick geprägt hat. Entsetzt sehen wir mit an, wie das Alptraum-Szenario aus der Science- fiction-Literatur zur Wirklichkeit wird: Man verläßt nicht mehr die Wohnung, lebt von allen und allem abgeschnitten in der furchtbarsten Einsamkeit, aber ans Internet angeschlossen und dadurch mit der ganzen Welt verkabelt. Das ist das Ende der materiellen Welt, der Erfahrung, des konkreten, fleischlichen Kontakts. Die Auflösung der Körper.

Allmählich fühlen wir uns von der virtuellen Wirklichkeit verschluckt. Diese ist, anders als gerne behauptet wird, so alt wie die Welt und so alt wie unsere Träume. Unsere Träume haben uns schon immer in außergewöhnliche, faszinierende virtuelle Welten entführt, in neue, unbekannte Kontinente, wo wir das Außergewöhnliche erlebten: die Liebe, die Gefahr und das Abenteuer. Zuweilen auch Alpträume. Jene, vor denen uns Goya gewarnt hat. Was nicht heißt, daß man die eigene Vorstellungskraft, die Kreativität und den Erfindungsgeist zügeln sollte – denn das hat immer einen hohen Preis.

Nein, es geht eher um eine Frage der Ethik. Welche ethischen Vorstellungen haben Bill Gates und Microsoft, die um jeden Preis – und zum größtmöglichen eigenen Profit – den Kampf um die neuen Technologien gewinnen wollen? Welche ethischen Vorstellungen haben die raiders, jene Börsenspekulanten, die mit Hilfe der neuen Kommunikationstechnologien ganze Staaten ruinieren und Hunderte von Unternehmen weltweit in den Konkurs treiben können? Und welche ethischen Vorstellungen besitzen die Pentagon-Generäle, die mit Hilfe des Fortschritts im Bereich der digitalen Darstellung ihre Tomahawk-Missiles immer präziser programmieren können und so den Tod über die irakischen Städte brachten?

Die meisten Bürger sind von dem modernistischen und technizistischen Gerede derart beeindruckt und eingeschüchtert, daß sie kapitulieren. Sie passen sich der neuen Welt, die als unausweichlich angekündigt wird, bereitwillig an. Sie lehnen sich nicht auf, verhalten sich passiv und träge, stimmen gar zu. Sie erwecken den Eindruck, als hätten sie bereits verzichtet: auf ihre Rechte wie auf ihre Pflichten, insbesondere auf die Pflicht zum Protest, zum Aufstand, zur Revolte. Als gäbe es keine Ausbeutung mehr, und als sei die Manipulation des Menschen bereits abgeschafft. Als würde die Welt von Einfaltspinseln regiert, und als wäre Kommunikation plötzlich zu einer himmlischen Angelegenheit geworden.

(Dieser Text basiert auf einem Vortrag des Autors vom 29. März 1995, gehalten auf einem Seminar der Kulturstiftung der Caja de Ahorros del Mediterraneo, CAM, zum Thema „Neue Technologien und Informationen der Zukunft“ im spanischen Alicante.)

dt. Miriam Lang

* Portugiesischer Schriftsteller, Jahrgang 1922, auf deutsch erschienen sind u. a. „Geschichte der Belagerung von Lissabon (1992) und „Das Evangelium nach Jesus Christus“ (1993), alle erschienen bei Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. 1998 erhielt José Saramago den Nobelpreis für Literatur.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von JOSÉ SARAMGO