15.01.1999

Gesellschaftsvertrag 2000

zurück

Gesellschaftsvertrag 2000

Von IGNACIO RAMONET

AN der Schwelle zum neuen Jahrhundert scheint es angebracht, sich Gedanken über die Hauptmerkmale der heutigen Welt zu machen. Geopolitisch beherrschen die Vereinigten Staaten die Welt wie nie ein Land zuvor. In allen fünf Bereichen der Macht – im politischen, wirtschaftlichen und militärischen Sektor ebenso wie im technologischen und kulturellen – ist ihre Dominanz allzu augenfällig, und erst jüngst demonstrierten sie diese im Nahen Osten gleich drei Mal: Sie bombardierten den Irak und die irakische Bevölkerung ohne ernsthaften Anlaß; sie ignorierten und mißachteten dabei die durch die Vereinten Nationen verkörperte internationale Rechtsordnung; und sie reduzierten die einst so stolzen britischen Streitkräfte auf bloße Hilfstruppen.

Doch die Zurschaustellung der Macht ist trügerisch. Denn auch wenn die USA technisch in der Lage sind, den Irak zu besetzen – sie können es nicht: Militärische Überlegenheit läßt sich nicht mehr ohne weiteres in territoriale Eroberungen umsetzen, weil die Besetzung eines fremden Landes politisch nicht machbar, finanziell zu kostspielig und imagemäßig verheerend ist. Längst haben sich die Medien zu strategischen Akteuren ersten Ranges gemausert. Der Ausspruch der US-Außenministerin Madeleine Albright, der Nachrichtensender CNN sei „das 16. Mitglied des UN-Sicherheitsrats“, kommt nicht von ungefähr.

Im übrigen: Nicht allen Bürgern bietet die weltweite Vormachtstellung im Zeitalter des Neoliberalismus ein befriedigendes Niveau menschlicher Entwicklung. 32 Millionen Menschen in den USA haben eine Lebenserwartung von unter sechzig Jahren, 40 Millionen sind nicht krankenversichert, 45 Millionen leben unter der Armutsgrenze, und 52 Millionen können weder lesen noch schreiben. Und in den EU-Ländern gibt es zur Stunde der Einführung des Euro 50 Millionen Arme und 18 Millionen Arbeitslose.

Im Weltmaßstab ist Armut die Regel und Wohlstand die Ausnahme. Soziale Ungleichheit ist eines der Strukturmerkmale unserer Zeit, und der Abstand zwischen Reich und Arm vergrößert sich mit jedem Tag. Manche Einzelpersonen sind vermögender als ganze Staaten.

Im Laufe dieses Jahrhunderts ist die Anzahl der Staaten von vierzig auf fast zweihundert gestiegen, doch die Welt wird noch immer von den sieben oder acht Mächten beherrscht, die schon Ende des 19. Jahrhunderts den Ton angaben. Dutzende neuer Staaten sind aus der Entkolonialisierung hervorgegangen, doch nur drei von ihnen – Süd- Korea, Singapur und Taiwan – haben ein annehmbares Entwicklungsniveau erreicht.

Sich aus der Unterentwicklung zu befreien ist für jene Länder heutzutage um so schwerer, als ihre Wirtschaften im wesentlichen auf Rohstofferzeugung beruhen; doch die Rohstoffpreise fallen unaufhaltsam. Hinzu kommt, daß zahlreiche Naturprodukte längst durch synthetische Erzeugnisse ersetzt wurden, so daß die Nachfrage gesunken ist. In Japan zum Beispiel hat sich der Rohstoffverbrauch je Produktionseinheit seit 1973 um 40 Prozent verringert.

DER neue Reichtum einer Nation beruht auf ihren geistigen Kapazitäten: auf Wissen, Forschung und Innovationsfähigkeit, nicht mehr auf der Ausbeutung von Rohstoffen. Man könnte sogar sagen, daß die drei traditionellen Machtfaktoren eines Staates – geographische Ausdehnung, Einwohnerzahlen und Rohstoffreichtum – im postindustriellen Zeitalter keine Trümpfe mehr sind, sondern sich nachgerade in Handicaps verwandelt haben. Ausgerechnet die größten, bevölkerungs- und rohstoffreichsten Länder (darunter Indien, China, Brasilien, Nigeria, Indonesien, Pakistan, Mexiko und Rußland) gehören paradoxerweise zu den ärmsten der Welt. Die Ausnahme der USA verschleiert nur die Regel.

Immer mehr Länder versinken in allgemeinem Chaos, sei es weil die Wirtschaft definitiv stagniert, sei es aufgrund endemischer Gewalt. Seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 gab es sechzig bewaffnete Konflikte mit Hunderttausenden Toten und mehr als 17 Millionen Flüchtlingen. In manchen Ländern der Welt würden viele Menschen heute ihre Unabhängigkeit am liebsten rückgängig machen (etwa auf den Komoren und in Puerto Rico) und wünschen sich eine Rückkehr in den Schoß der Kolonialmacht oder des Mutterlandes. Als politische Einheit ist die Dritte Welt perdu.

Die Politik und das Ideal des Nationalstaats sind ganz offensichtlich in eine tiefe Krise geraten; heute, im Zeitalter der zweiten kapitalistischen Revolution, bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Die Globalisierung der Wirtschaft und der technologische Wandel bringen immer gigantischere Unternehmen hervor, deren Wirtschaftskraft mitunter das Potential ganzer Industrieländer übersteigt. Der Umsatz von General Motors etwa übersteigt das BIP von Dänemark, der Umsatz von Exxon-Mobil das BIP von Österreich. Jedes der 100 größten global agierenden Unternehmen verkauft mehr, als die 120 ärmsten Länder jeweils exportieren. Und die 23 mächtigsten Unternehmen, die 70 Prozent des Welthandels kontrollieren, setzen mehr ab als manches „Riesenland“ der Dritten Welt, mehr auch als Indien, Brasilien, Indonesien oder Mexiko.

Die wirkliche Macht liegt in den Händen der Unternehmensvorstände, Finanzgruppen und Medienmogule. Sie verfügen über ein Heer von Lobbyisten, mittels derer sie die politischen Entscheidungen beeinflussen. Schlußendlich konfiszieren sie die Demokratie.

Die traditionellen Instanzen der Gegenmacht – Parteien, Gewerkschaften und freie Presse – sind notwendiger, aber auch ohnmächtiger denn je. Und die Bürger suchen nach kühnen Initiativen, denn was sie brauchen, ist ein Gesellschaftsvertrag, kein Privatvertrag.

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von IGNACIO RAMONET