12.02.1999

Explosive Mischung in der Delta-Region

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Explosive Mischung in der Delta-Region

KALT erklärt Bello Orubebe: „1,2 Millionen Barrel täglich, also über die Hälfte der gesamten nigerianischen Produktion, kommen aus Bohrlöchern auf unserem Territorium oder vor unseren Küsten. Wenn Nigeria uns nicht verlieren will, ist es höchste Zeit, daß es zeigt, was es für uns tun kann.“ Orubebe ist einer der Anführer einer neuen Generation von Ijaw-Aktivisten, die für die Ausbreitung des Terrors verantwortlich sind und seit dem letzten Herbst in der Umgebung von Warri koordinierte Aktionen gegen die Erdöl-Multis organisieren.

Der 33jährige Orubebe hat ein glattes Teenagergesicht und läßt eine kindliche Faszination für Uniformen und Funkgeräte erkennen, doch er spricht mit der Sicherheit eines Berufsredners. Im Wartezimmer seiner Kanzlei in Warri, die sich auf die Verteidigung von Bürgerrechten und Fälle von Umweltverschmutzung spezialisiert hat, sitzen Kläger, Politiker und Stammesoberhäupter. In seinem Bücherschrank stehen juristische Fachbücher, ökologische Abhandlungen und Marx-Bände.

Orubebe, Absolvent der Universität von Port Harcourt und Schüler von Professor Claude Ake – einem bedeutenden Intellektuellen, der 1996 nach einem Flugzeugabsturz verschollen ist –, stammt aus einer abgelegenen Ecke des Deltas. „Bei mir zu Hause kann vielleicht jeder Sechzigste lesen und schreiben, die Leute mit Hochschulabschluß kann man an den Fingern einer Hand abzählen“. Unwissenheit und Armut waren seit jeher das Schicksal der Ijaw. Das Fischer- und Kriegervolk kam mit dem von Missionaren eingeführten modernen Bildungswesen lange Zeit nicht in Berührung, weshalb es vor allem durch seine kleine Kanu-Flotte von sich reden machte (und durch den Ruf, Kannibalen zu sein). Die Dorfbewohner brauchten denn auch Jahrzehnte, bis sie verstanden, daß die „Geschenke“ der Erdölkonzerne lediglich Almosen waren im Verhältnis zu den Dollarmilliarden, die sie aus ihrem Boden pumpten.

Vielen jungen Leuten aus dem Delta wurden diese Zusammenhänge erst Anfang der neunziger Jahre klar, als sich das kleine Volk der Ogoni – eine halbe Million Menschen, die östlich von Port Harcourt siedeln – gegen den mächtigen Shell-Konzern erhob. Unter der Anleitung des Schriftstellers Ken Saro-Wiwa entwickelte das „Movement for the Survival of the Ogoni People“ (Mosop) eine gewaltfreie Strategie und eroberte nach und nach viele Sympathien: Der moderne Kampf von David gegen Goliath, der Widerstand der „Eingeborenen“ gegen die Arroganz der Ölmagnaten war ein interessantes Thema für die Medien. Und als der Schriftsteller im November 1995 in Port Harcourt mit weiteren acht Mitstreitern für den Mord an vier Ogoni-Notabeln gehenkt wurde, löste die Nachricht in aller Welt Erschütterung aus.

Orubebe bewunderte Saro-Wiwa, der von einer gemeinsamen Front der Minderheiten des Deltas träumte. „Aber er hat politische Fehler gemacht, die mir nie passieren werden“, sagt er. „Er hat sich von den anderen Ogoni-Führern abgekapselt, und vor allem hat er geglaubt, was General Abacha ihm erzählte. Ich konnte Ken vor seinem Tod noch im Gefängnis besuchen. Ich wollte eine Kommandoaktion organisieren, um ihn da herauszuholen. Er war dagegen. Er hat gedacht, daß man es nie wagen würde, ihn hinzurichten.“

Die neue Generation hat aus dieser Tragödie ihre Lehren gezogen. Sie verhandelt zwar mit den Militärverwaltern, die die öffentliche Ordnung wiederherstellen wollen, und schmeichelt Politikern, die sich Wahlen stellen („Sie sind unsere Botschafter“, sagt Orubebe), aber zugleich schmiedet sie weiter ihre Waffen für die künftigen Kämpfe. Der Anwalt behauptet, von insgesamt 6 bis 8 Millionen Ijaw hätten bereits rund 20000 an sechsmonatigen Ausbildungslehrgängen teilgenommen, die in kleinen Lagern in schwer zugänglichen Gegenden des Deltas stattfinden. „Wir haben schon an die 600 Leute mit Hochschulabschluß, die bei uns mitmachen. Leute, die in den USA oder in Japan arbeiten, kommunizieren per e-mail mit unseren Fachleuten, um Entwicklungsmodelle auszuarbeiten, die mit unseren Erdölreserven möglichst schonend umgehen.“

Mit seinen Honoraren für die Entschädigungssummen an die Gemeinden, die er seit 1994 von den Ölkonzernen eingeklagt hat, finanziert er nach eigenen Angaben die Ausbildung der Freiwilligen der Niger Delta Volunteer Force, jener Miliz, die von dem aufständischen Ijaw-Offizier Major Isaac Boro gegründet wurde.

Die jungen Ijaw bezeichnen sich selbst zwar als gläubige Katholiken, doch sie pflegen zugleich die Tradition einer Art Geheimgarde, die sich eine eiserne Disziplin und ein strenges Keuschheitsgebot auferlegt hat. Die Bevölkerung schreibt dieser Garde übernatürliche Kräfte zu, darunter auch die Eigenschaft, durch Kugeln unverwundbar zu sein. Die Magie der Vorfahren, das gefürchtete „Juju“ der Nigerianer, vermengt sich hier mit ethnischen Rivalitäten, dem Interesse am Erdöl und weltumspannender Kommunikation. Diese explosive Mischung, die auch schon im Biafra-Bürgerkrieg Ende der sechziger Jahre angerichtet war, könnte eines Tages das gesamte Delta in die Luft sprengen.

J. S.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von J.S.