12.03.1999

Massenangst und Meinungsführung

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Massenangst und Meinungsführung

DAS vor kurzem bekanntgewordene Projekt einer Fondation des citoyens erinnert in seinen Akzentsetzungen und Zukunftsvisionen an Äußerungen des Gründers der École libre des sciences politiques vor einhundert Jahren: dieselbe Gesellschaftsanalyse, dasselbe Vertrauen in die Wissenschaft, dieselbe Angst vor den Gefahren, die die gesellschaftliche Ordnung bedrohen. Der Unterschied liegt nur darin, daß, als Émile Boutmy das Wort ergriff, die Pariser Commune (1871- 1872) gerade niedergeschlagen worden war. Ähnlich bedrohliche Ereignisse, die derlei Worte veranlassen könnten, sucht man heute vergeblich.

Émile Boutmy schrieb: „Wir waren erstaunt, mit welcher Unwissenheit die Öffentlichkeit sich zu derart weitreichenden Abenteuern äußert. Wir haben uns gefragt, ob es nicht möglich wäre, der nachwachsenden Generation ein besseres Verständnis über die Komplexität und Schwierigkeit politischer Fragen zu vermitteln (...).

Vermittelnde Meinungsführer! Es wäre mit Sicherheit eine große und glückliche Revolution, wenn Frankreich alljährlich zwei- oder dreitausend politisch gebildete, mit einem Titel versehene Köpfe ins ganze Land entsenden könnte, um sich Gehör zu verschaffen – mit einem argumentativen Rüstzeug, um die Schwierigkeit und Komplexität der Fragen und Lösungsmöglichkeiten zu vermitteln.

In unseren Augen war das Mittelmaß an Kenntnissen und Ansichten innerhalb des Bürgertums eine der Hauptursachen für deren verrufene Stellung und deren Schwäche gegenüber den unteren Klassen, und wir bedauern, daß es den revolutionären Gemeinplätzen der Masse nichts anderes entgegenzusetzen hat als konservative Gemeinplätze.“

Sciences-Po wiederum stellt sich in seinem internen Papier „Strategies de développement (1997-2000)“ folgendermaßen dar: „Im Grunde soll die Stiftung allen offenstehen. Besonderer Kontakt ist jedoch zu bestimmten Ansprechpartnern zu suchen, die durch ihre Aufgabe als Meinungsmacher gekennzeichnet sind.

Die Stiftung soll den Regierenden eine zusätzliche Möglichkeit eröffnen, ihre Verantwortlichkeiten und Entscheidungen in aller Gelassenheit darzustellen, wie sie auch den Kritikern der Handlungsweise der öffentlichen Hand eine Gelegenheit bieten soll, den Sinn ihrer Kritik darzulegen.

Viele, denen das Rüstzeug zum Verständnis der Komplexität der Welt und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft fehlt, greifen ersatzweise zu demagogischen und populistischen Vereinfachungen.“

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999