Die Widersprüche von Pretorias Afrikapoltik
Von HEIN MARAIS *
DER September 1998 wird den Südafrikanern unauslöschlich im Gedächtnis bleiben, denn er markiert den Bruch der Regierung Pretorias mit den eigenen Prinzipien der Außenpolitik, die sie seit dem Ende der Apartheid verfolgt hatte: Sie engagierte sich für den selbsternannten Präsidenten von Kongo, Laurent- Desiré Kabila, und schlug den Aufstand im benachbarten Lesotho brutal nieder, womit sie die Politik der Integration und Konsensbildung verließ.
Als „Gigant des Kontinents“ gehört Südafrika auf der internationalen Bühne schon seit langem zu den Hauptakteuren. Durch das demokratische „Wunder“ von 1994 und das staatsmännische Naturell Nelson Mandelas wurde Pretoria bei zahlreichen Konflikten in die Rolle des Vermittlers gedrängt: Im Nordirlandkonflikt bezog Mandela vermittelnd Stellung, er rief zur Freilassung des timoresischen Oppositionspolitikers Xanana Gusmao auf, forderte die nigerianische Junta zum Rücktritt auf und versuchte, zu einer endgültigen Lösung des Zaire-Problems beizutragen. Selbst in der Lockerbie-Affäre hat das Land sich bemüht, eine für Libyen akzeptable Lösung zu finden.
Zu keiner dieser Aktionen kam der Anstoß aus dem Ausland. Alle stellen vielmehr eine Fortsetzung jener Politik dar, die der ugandische Professor Mahmood Mamdani abschätzig als Südafrikas Anspruch auf einen „Sonderstatus“ bezeichnete. Mit anderen Worten, der seit vier Jahren regierende Afrikanische Nationalkongreß (ANC) hat sich zunehmend zu einer Großmachtpolitik hinreißen lassen und sieht sich heute in schreckliche Widersprüche verwickelt: denn nach Gregory Mills, dem Direktor des südafrikanischen Instituts für internationale Beziehungen in Johannesburg, gelingt es Pretoria nicht, ein Gleichgewicht zwischen „seinem moralischen Anspruch und den Erfordernissen der Realpolitik“ zu finden.
Um den Außenhandel anzukurbeln, hat die Regierung in den letzten Jahren den Waffenexport wesentlich ausgeweitet: 1997 erwirtschaftete sie damit 216 Millionen Dollar, das sind 34 Prozent mehr als noch im Jahr 1996. Seit 1994 brachte dieser Industriezweig Einnahmen in Höhe von 600 Millionen Dollar; zu den 91 Kunden zählten u.a. Indien, China, Indonesien, Thailand, Jordanien, Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate, Oman, Kolumbien, Peru, Mexiko, Algerien und Ruanda. Zur Rechtfertigung dieser Politik verwies die Regierung auf die Notwendigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen – bei einer Arbeitslosigkeit von 23 Prozent der aktiven Bevölkerung scheint dieser Verweis zunächst einleuchtend. Doch Garth Shaldon, Forscher an der Stiftung für einen globalen Dialog in Johannesburg, hält diesem Argument entgegen, daß seit 1997 „die Rüstungsindustrie zwar die zweitgrößte Exportbranche ist, allerdings nur 1 Prozent der Industriearbeiter beschäftigt.“
Nirgends allerdings ist die Kluft der südafrikanischen Außenpolitik – zwischen Idealismus einerseits und Machtwillen andererseits – so groß wie auf dem Kontinent selbst, wo der „Gigant“ infolge des Machtwechsels in mehreren Ländern in eine Sackgasse geraten ist.
Die Außenpolitik nach 1994 setzte zunächst ganz auf die Prinzipien der Kompromißfindung, der Konsensbildung und der Integration der ehemaligen Feinde in das gemeinsame demokratische System. Dieses innenpolitisch so erfolgreiche Modell versuchte Südafrika entweder mit diplomatischen Mitteln oder mit Waffengewalt zu exportieren – erfolgreich im Fall Mosambik, glücklos in den Fällen Ex-Zaire, Nigeria, Angola und Lesotho.
Angesichts des traditionellen Engagements für die Demokratie und die Menschenrechte war die anfängliche Weigerung Pretorias, das Regime von Laurent- Désiré Kabila militärisch zu unterstützen, politisch konsequent. Dann aber wurde Südafrika durch die geschickten Manöver des angolanischen Präsidenten José Eduardo Dos Santos und seines simbabwischen Kollegen Robert Mugabe gezwungen, seine Bemühungen um einen Konsens aufzugeben, und schlug sich auf die Seite des selbsternannten Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo (RDC).
Tatsächlich haben dann Angola, Simbabwe, Namibia und Sambia eine Art Bündnis gebildet, um sich gegen die wirtschaftliche und politische Hegemonie Südafrikas behaupten zu können. Parallel dazu etablierte die Regierung in Luanda Ende 1997 einen Vier-Länder-Block (Angola, Gabun, Kongo-Brazzaville und RDC), nachdem es am Sturz der Regierung von Pascal Lissouba in Brazzaville mitgewirkt hatte.
Auf die dadurch entstandene Gefahr einer Veränderung des heiklen regionalen Gleichgewichts reagierte Südafrika prompt und entschlossen. Der Staat füllte seine Waffenarsenale und kaufte für 5,2 Milliarden Dollar US-amerikanische Jagdbomber, Hubschrauber und Schiffe. Vizeverteidigungsminister Ronnie Kasrills verkündete: „Wir sind jetzt imstande, sanfte Töne anzuschlagen, aber mit einem dicken Knüppel in der Hand.“ Den Knüppel hat Pretoria schließlich auch eingesetzt, und das nicht gerade zimperlich. So im September 1998 im Kongo, als man Kabilas bedrängten Truppen zu Hilfe eilte, aber auch, als man im selben Monat 600 Mann in den Zwergvasallenstaat Lesotho entsandte, um den dortigen Aufstand zu ersticken.
Diese offiziell unter der Schirmherrschaft der Entwicklungsgemeinschaft Südliches Afrika (SADC) geführte verheerende Intervention markierte – so Peter Vale, Professor an der Universität der Provinz Westkap – „einen Wendepunkt in der politischen Geschichte der Region“. Tatsächlich markierte sie den Höhepunkt einer Serie von diplomatischen Mißerfolgen: einer unentschlossenen Haltung gegenüber den Protesten der Bevölkerung des kleinen Nachbarstaates, der unerklärlichen Verzögerung bei der Übergabe von Dokumenten an die Untersuchungskommission und dem Ausschluß von König Letsebe II. von den Verhandlungen. „Wenn man von Anfang an klar und offen gesprochen hätte, wäre diese Tragödie vermeidbar gewesen“, urteilt Richard Cornwell, der Direktor des südafrikanischen Instituts für Sicherheitsstudien, heute.
„Die alten Untugenden haben wieder die Oberhand gewonnen“, sagt Peter Vale, „die Fixierung auf die staatliche Sicherheit ist noch nicht überwunden. Wenn Südafrika so weitermacht, beraubt es sich der notwendigen Mittel, um im Süden des Kontinents eine andere, neue Gemeinschaft aufzubauen.“ Und David Coetzee, Direktor des Newsletters South Scan (London) warnt: „Diese Auseinandersetzungen werden sich negativ auf die Bemühungen um eine Vertiefung der Integration der SADC-Staaten auswirken, und die ist schon schwierig genug angesichts der allgemeinen Empfindlichkeit gegenüber dem ökonomisch dominanten Südafrika und dem Widerstand gegen seinen Wunsch, den Friedensengel zu spielen.“
Es ist eine Ironie der Geschichte, daß der Hauptvorwurf gegen die Südafrikaner dahin geht, sie agierten im Solde des Westens. Dieser Vorwurf wurde im September 1996 auf dem Gipfel der blockfreien Staaten in Durban verdeckt geäußert: Damals versuchten die südafrikanischen Diplomaten vergebens, den 112 Mitgliedstaaten neue Formen von „aktivem Engagement“ für den Westen und für zwischenstaatliche Organisationen – die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds – schmackhaft zu machen. Das Mißtrauen hat seinen wichtigsten Grund in der Tatsache, daß die Vereinigten Staaten und Südafrika 1997 während der Zaire-Krise sehr ähnliche Positionen vertreten haben. Reiste Vizepräsident Thabo Mbeki nicht zwei Mal, auf dem Höhepunkt der Verhandlungen im April 1997, nach Washington? Und gibt es nicht ein weiteres Indiz, nämlich die Einsetzung einer auf hoher Ebene angesiedelten bilateralen Kommission zwischen Washington und Pretoria?
Auf jeden Fall markieren die Einmischung in Lesotho und die Beteiligung an der ausländischen Intervention für Kabila im September 1998 einen strategischen Wendepunkt in der südafrikanischen Außenpolitik. Seitdem lautet die Parole Südafrikas: Die regionale Stabilität setzt die Sicherheit der einzelnen Staaten voraus – in erster Linie natürlich die Sicherheit des eigenen Staates. Südafrika wird nicht davor zurückscheuen, seine militärische Macht einzusetzen, wenn es um die Verteidigung der eigenen Interessen und den Schutz jener Regime geht, die es als legitim ansieht. Umgekehrt will Pretoria keine „nichtlegitimen“ Regierungen tolerieren. All dies sind Anzeichen einer deutlich aggressiveren Auffassung nationaler Interessenpolitik. Doch Vizeminister Kasrills beschwichtigt: „Die Südafrikaner machen gern viele Worte, aber dann hapert es an der Umsetzung.“
Die jähe Hinwendung zur Realpolitik mag auf der internationalen Bühne gut ankommen; Brüssel und Washington werden sie wahrscheinlich begrüßen. Doch auf regionaler Ebene birgt dieser Umschwung ernste Gefahren. Nach Meinung von Chris Landsberg vom Zentrum für politische Studien in Johannesburg „stärkt diese Politik nicht etwa automatisch die Solidarität, sondern vertieft im Gegenteil noch die Zerrissenheit des afrikanischen Lagers. Statt Zusammenhalt und Partnerschaft zu fördern, könnte sie die bestehenden Bündnisse auflösen und die Rivalitäten verschärfen.“
Der Robert Mugabe zugeschriebene Satz: „Ich möchte nicht, daß man uns wie eine südafrikanische Provinz behandelt“, äußert ein in der Region weit verbreitetes Gefühl. Deshalb haben mehr als die Hälfte der SADC-Staaten sich geweigert, das Freihandelsabkommen zu unterzeichnen, denn die Gegner hegen die berechtigte Angst, ein solches Abkommen könnte die wirtschaftliche Hegemonie Südafrikas weiter verstärken. Südafrikas Exporte in die Länder des südlichen Afrika betragen heute schon das Sechsfache seiner Importe, und diese Schere öffnet sich seit 1994 immer weiter. Die Regierung ist bestrebt, die Exporte von industriellen Erzeugnissen in die Nachbarländer auszubauen, um die von einer Rezession heimgesuchte Wirtschaft zu beleben und die Auswirkungen der Asienkrise aufzufangen. Hinzu kommt, daß die Volkswirtschaften dieser Länder aufgrund der Politik der Strukturanpassung zum bevorzugten Feld für südafrikanische Unternehmen geworden sind, die privatisierte Minen, Konsumgüterbetriebe, Ackerland etc. aufkaufen. Ergänzt durch die seit September 1998 praktizierte Machtpolitik steht diese Strategie des unilateralen Wachstums im Widerspruch zu den Bemühungen um den Aufbau einer regionalen Wirtschaftsgemeinschaft von gleichberechtigten Partnern.
Historisch gesehen, meint der US-amerikanische Professor Patrick McGowan, „werden die semiperipheren Länder vom Zentrum ausgebeutet und beuten ihrerseits die eigenen Peripherien aus“. Das trifft auf Südafrika zu und beschreibt treffend die Situation, die der britische Kolonialismus geschaffen hat, die vom südafrikanischen Kapital fortgeschrieben wurde und die sich jetzt zu verfestigen droht. 1994 hat Südafrika eine radikale ideologische und politische Wende vollzogen. Die Regierung beteuert, das Schicksal des eigenen Landes an das von ganz Afrika binden zu wollen. Sie träumt von einer pax africana und einer Wiedergeburt des ganzen Kontinents. Doch die südafrikanische Wirtschaftspolitik – die wiederum von der entwickelten Welt abhängig ist – beschränkt den schwarzen Kontinent dauerhaft auf die Rolle, als Hinterland von Pretoria zu dienen.
dt. Andrea Marenzeller
*Journalist bei Work in Progress, Johannesburg; Autor von „South Africa Limits to Change“, London (Zed Books) 1998.