12.03.1999

Vichy, Propaganda und Miliz

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Vichy, Propaganda und Miliz

OBWOHL unter der deutschen Besatzung einige französische Filmemacher ins Exil gingen (Jean Renoir, René Clair ...), erlebte die französische Filmindustrie in dieser Zeit eine überraschende Entwicklung. Zwischen 1940 und 1944 wurden zweihundertzwanzig Filme gedreht, und nicht die schlechtesten: „Goupi Mains rouges“ (Eine fatale Familie), „Les Enfants du paradis“ (Die Kinder des Olymp), „L'Eternel Retour“ (Der ewige Bann). Doch das Erstaunliche ist, daß keiner dieser Spielfilme ausdrücklich ein Loblied auf die nationale Revolution Pétains sang, wenn auch hier und da deren „Werte“ durchschimmerten: Tugenden des Familienlebens, Leistung, Rückkehr zur Natur etc.

Mit seinen Sujets fernab der Alltagssorgen erscheint der Film der Okkupationszeit so wenig in der Realität verankert, daß ein Film wie „Le Ciel est à vous“ (Der Himmel gehört euch) von Jean Grémillon, als er herauskam, sowohl von Vichy als auch von der Résistance vereinnahmt wurde.

Wer bestimmte über die Auswahl der Filme? Wie wurde Zensur ausgeübt? Warum unterstützte Nazi-Deutschland die Entwicklung einer französischen Kinematographie? Das waren einige der angesprochenen Fragen bei der Veranstaltungsreihe „Der Film unter dem Vichy- Regime“, die vom 29. bis 31. Januar 1999 im CRAC, Scène nationale, in Valence stattfand, organisiert von Françoise Calvez und moderiert von Raymond Chirat, dem Filmhistoriker und Experten für diese Zeit, und Jean-Pierre Bertin-Maghit, dem Verfasser des Buches „Le Cinéma français sous l'Occupation“ (Paris, Reihe „Que sais-je“, PUF, 1994).

Besonders aufschlußreich waren auch die gezeigten Wochenschauen und Dokumentarfilme aus der damaligen Zeit. In ihnen traten die politischen Wirklichkeiten offen zutage. Die Propaganda verbreitete ihren Haß, ihre Drohungen, ihre Lügen und ihre Demagogie, rühmte die Kollaboration und die Wohltaten von Vichy und stigmatisierte das „jüdisch-freimaurerisch-bolschewistische Komplott“. Jean- Pierre Bertin-Maghit, der gerade ein Buch über die Propaganda-Dokumentarfilme unter der Okkupation abschließt, unterscheidet zwischen den sehr kriegslüsternen, im Auftrag der deutschen Behörden produzierten Filmen und den von Vichy in Auftrag gegebenen. Erstere zeigen oft karikaturhafte Inszenierungen von Situationen und Personen und betreiben eine Ausschlußpropaganda, während die Vichy- Filme von anderer Machart sind und eher didaktische Kommentare einsetzen, um zu überzeugen und eine Integrationspropaganda zu predigen.

Eine dritte Kategorie von Filmen schießlich wurde von französischen Kollaborateuren produziert. Diese Filme agitierten offen für den Krieg und wurden bei Versammlungen und Treffen von Aktivisten gezeigt, in erster Linie zu Rekrutierungszwecken. Alle drei Kategorien von Filmen, so verschieden sie in ihrer Rhetorik auch sein mochten, haben ihren Beitrag zum gefährlichen Klima der Zeit geleistet.

Gezeigt wurde außerdem der Dokumentarfilm von Alain Ferrari „Milice, film noir“ (1997); er analysiert Funktionsweise, Entstehung und Aktion der Milizen, dieser hypernationalistischen Bewegung und bevorzugten Verbündeten der Nazis, von denen diverse Mitglieder in die Waffen-SS eintraten und als Freiwillige an die Ostfront gingen. Nach der Vorführung schilderte ein Zuschauer nüchtern, aber detailliert, wie er infolge einer Denunziation von der Miliz verhaftet, verhört und gefoltert wurde. Einmal mehr wurde deutlich, daß die Besichtigung der Vergangenheit immer noch hochaktuell ist. Sie hilft begreifen, woher die Gefahren in der Gegenwart drohen.

JEAN-LOUIS BERDOT

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von Jean-Louis Berdot