16.04.1999

Die Europäische Gemeinschaft als Vorbild für den Nahen Osten

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Die Europäische Gemeinschaft als Vorbild für den Nahen Osten

Von MIGUEL ANGEL MORATINOS *

WIE so oft kurz vor einem historischen Ereignis schwanken in der Region, die sich vom Mittelmeer zum Jordan erstreckt, die Menschen zwischen Hoffnung und Furcht. Man setzt sehr große Erwartungen in die Entwicklung, die aus dem Frieden entstehen kann, aber zugleich fürchtet man die erneuten Auseinandersetzungen, die ein Scheitern auslösen würde. Die Möglichkeit, daß Präsident Arafat am 4. Mai einseitig einen palästinensischen Staat ausruft, hat bereits eine Vielzahl von Reaktionen bewirkt. Die Antwort der israelischen Regierung bestand darin, für diesen Fall mit harten Gegenmaßnahmen zu drohen. Die Europäische Union, die USA und mehrere arabische Staaten haben dringende Appelle an den palästinensischen Präsidenten gerichtet, die Unabhängigkeit nicht zu erklären, weil damit der Friedensprozeß und der Dialog endgültig zum Stillstand kommen könnten. Schließlich sind die Friedensgespräche trotz mancher Unterbrechungen seit der Madrider Konferenz von 1991 das bestimmende Moment im politischen Geschehen des Nahen Ostens.

Betrachtet man die heutige historische Situation, gibt sie dennoch mehr Anlaß zu Hoffnung als zu Befürchtungen. In erster Linie, weil unwiderrufliche Tatsachen geschaffen worden sind. Die beiden Völker begreifen sich als Nachbarn, sie kommunizieren miteinander und haben sich über zahlreiche Vorhaben geeinigt. Dabei wurden viele Tabus der Vergangenheit beseitigt. So hat der israelische Außenminister Ariel Scharon Mitte Januar in Paris erklärt, die Gründung eines palästinensischen Staates sei durchaus vorstellbar, solange sie ausgehandelt werde. Palästinenser und Israelis haben einander das Recht eingeräumt, gemeinsam auf dem gegebenen Territorium zu leben – auch wenn der Weg zur selbstverständlichen Nutzung dieses Rechts wohl noch lang und schwierig sein wird und von beiden Seiten große Anstrengungen erfordert.

Über die Frage, wie unumkehrbar der Friedensprozeß sei, gibt es heftige Kontroversen. Die letzten beiden Jahre waren in dieser Hinsicht gewiß nicht sehr ermutigend, und doch würde heute niemand bezweifeln, daß Palästina unwiderruflich Realität geworden ist. Auch wird mit jedem Tag deutlicher, daß die internationale Gemeinschaft entschlossen ist, eine Lösung dieses Konflikts herbeizuführen. Einer der Hauptgründe für diesen Optimismus liegt in der Tatsache, daß nicht nur die Konfliktparteien, sondern auch die USA, die Europäische Union, Rußland und die wichtigsten arabischen Staaten sich in dem Friedensprozeß engagieren.

Die Europäischen Union ist sich schrittweise darüber klar geworden, daß sie sich deutlicher in diesen Friedensverhandlungen engagieren mußte. Diese Einsicht brauchte ihre Zeit – von der Erklärung beim europäischen Gipfel von Venedig 1980 über das Gipfeltreffen in Madrid 1991 bis zur Mittelmeerkonferenz, auf der sich im November 1995 die europäischen Staaten und die Anrainer zusammensetzten. Die ebenso vorsichtige wie entschlossene neue Haltung drückte sich auch in den Erklärungen von Amsterdam (im Juni 1997) und Cardiff (im Juni 1998) aus und führte dazu, daß im November 1996 ein EU-Sonderbeauftragter für den Friedensprozeß ernannt wurde.

Durch diesen Vermittler hat die Union eine präventive Diplomatie (in Syrien, im Libanon und durch ihre Aktivitäten in den palästinensischen Autonomiegebieten), aber auch ein aktives Engagement betrieben (bei den Verhandlungen über Hebron, die zum Abkommen von Januar 1998 führten; oder auch bei den Gesprächen über vorläufige Wirtschaftsabkommen und Sicherheitszusammenarbeit). Gestärkt wurde diese Rolle durch das umfangreiche wirtschaftliche Hilfsprogramm der EU-Mitgliedsländer und der Europäischen Kommission.

Damit ist nicht gesagt, daß es in der augenblicklichen Lage keine Risiken gibt. Aus dem friedlichen Vorhaben, einen Palästinenserstaat zu gründen, könnte ein neuer Konfliktherd entstehen. Man muß diese Situation als ein heikles Problem begreifen, das eher diplomatischer als rechtlicher und politischer Natur ist. Wir müssen weiter Hoffnung in die Friedensverhandlungen setzen, ohne dabei unsere Ziele aus den Augen zu verlieren. Damit diese Gleichung aufgeht, ist eine konstruktive Haltung von allen Beteiligten gefordert; die Bedeutung der Aufgabe bietet Grund genug, daß die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, die bislang eine gemeinsame Strategie verfolgt haben, diesen Weg mit noch größerer Entschlossenheit weiterverfolgen.

Entscheidend wird dabei sein, die Verhandlungen unter optimalen Rahmenbedingungen zu führen. Um dies zu gewährleisten, arbeiten wir auf zwei entscheidende Ziele hin. Zum einen erstreben wir die konsequente Umsetzung der Vereinbarungen zur Beendigung der Übergangsperiode, wie sie im Oslo-Abkommen und vor allem im Memorandum von Wye Plantation (Oktober 1998) festgelegt wurden. Unabhängig von den konkreten rechtlichen Bestimmungen, die dabei erzielt werden, muß beiden Parteien klar sein, daß im Laufe dieser Verhandlungen deutliche Zugeständnisse beiderseits erforderlich sind, die noch vor dem Eintritt in die nächste Phase umgesetzt werden. Der zweite Ziel besteht darin, einen dauerhaften Rechtsstatus festzulegen. Auf diesen beiden Säulen sollen Frieden und Fortschritt in den palästinensischen Autonomiegebieten ruhen. Das ist eine komplexe und vermutlich langwierige Aufgabe. Aber beide Konfliktparteien – die durchaus gewillt scheinen, ihre drängenden Probleme im direkten Kontakt zu regeln – fühlen sich ermutigt durch die Zusicherung der EU, daß sie jederzeit mit unserer Unterstützung rechnen können.

Alle Aspekte dieses abstrakten Konzepts zielen darauf ab, die Verhandlungen langsam, aber entschieden voranzubringen. Mit jedem Schritt sollen die Grundlagen für das weitere Vorgehen geschaffen und die Vertrauensbasis zwischen den Parteien gestärkt werden. Das ist der Grund, warum wir so konsequent auf dem Prinzip von Dialog und Verhandlungen bestehen. Die Sicherheitsbedenken beider Parteien dürfen nicht vernachlässigt werden. Es steht außer Frage, daß es auch für die israelische Seite mehr Sicherheit bedeuten würde, wenn der Lebensstandard der Palästinenser steigen und eine stabile Wirtschaft für Arbeitsplätze sorgen würde. Immer mehr israelische Persönlichkeiten kommen – wie die Europäische Union – zu der Überzeugung, daß die beste Sicherheitsgarantie für Israel die Entstehung eines lebensfähigen, demokratischen und friedlichen Palästinenserstaats darstellen würde, der friedliche und kooperative Beziehungen mit allen Nachbarstaaten anstrebt.

Doch den Palästinensern ist klar, und sie machen dies auch deutlich, daß es nach den bisherigen grundlegenden Fortschritten immer unerläßlicher wird, zwischen den Parteien zu einem Konsens über die zu erreichenden Ziele zu kommen. Zweifellos wäre es für das palästinensische Volk wie für die gesamte Region die beste Lösung, wenn der Friedensprozeß weitergeführt würde. Zwar haben fast alle Staaten der internationalen Gemeinschaft das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung anerkannt, einschließlich des Anspruchs auf Gründung eines eigenen Staates. Doch in ihrer Mehrheit vertreten sie ebenso die Ansicht, daß es jetzt vor allem darauf ankommt, mit Israel in gutem Willen über die endgültigen Grenzen und das Aussehen dieses Staates zu verhandeln, so. wie es auch die Oslo-Verträge vorsehen. Das bedeutet keineswegs, daß eine Seite ein Vetorecht besitzt, sondern lediglich, daß eine Übereinkunft erzielt werden muß, die sich im Laufe der Zeit für beide Seiten als vorteilhaft erweisen wird.

Wir sprechen hier von einer Zukunft, die man sich in der Region erhofft, und von einer Entwicklung in den internationalen Beziehungen, wie sie allseits gewünscht wird. Nach all den Kriegen, die den Alten Kontinent im 19. und 20. Jahrhundert geprägt haben, stellt die Schaffung einer europäischen Union einen Neuanfang dar. Die Gründerväter dieses Projekts waren vorausschauend genug, zu wissen, daß dieses neue Jahrtausend die Möglichkeit für solidarische und kooperative Beziehungen eröffnen würde, für eine neue Konzeption von Sicherheit. Sobald es uns gelungen ist, dieses Modell zu konsolidieren, dürfen wir hoffen, daß es auch im Nahen Osten und im gesamten Mittelmeerraum als Vorbild dafür dienen wird, wie man die Beziehungen zwischen den Völkern verbessern kann. Daß die Palästinenser darauf bestehen, einen Staat mit allen Symbolen und dem vollen Gewicht der eigenen Souveränität zu erlangen, die mit diesem Konzept traditionell verbunden sind, steht dazu nicht in Widerspruch. Niemand verkennt den geschichtlichen Hintergrund dieser Forderung. Doch diese Rückkehr zum Souveränitätsprinzip muß in der Zukunft dazu führen, daß in der Region neue Formen der Kooperation und Integration entstehen: einvernehmliche Regelungen in den Bereichen der Sicherheitspolitik, der Wirtschaft, der Nutzung der Wasserressourcen usw. sind die beste Garantie für einen beständigen Frieden.

Wir hoffen, daß die Entschlossenheit von Israelis und Palästinensern, gepaart mit der aktiven Hilfe der internationalen Gemeinschaft, die nötige Synergiewirkung erzeugt, um zu einem endgültigen Abkommen zu gelangen. Einfach ist diese Aufgabe nicht: Sie fordert von beiden Seiten Zeit und Mühe, Engagement und Toleranz. Die internationale Gemeinschaft muß das Ihre tun und mit aller Kraft helfen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, damit es so rasch wie möglich zu einem für alle Beteiligten akzeptablen Frieden kommt. Alle Anstrengungen sollen dazu beitragen, daß dieses herrliche Land mehr als nur ein Ort der Hoffnung sein kann – ein Beispiel für friedliches Zusammenleben, Kooperation und Integration. Wie schnell diese Utopie sich umsetzen läßt, hängt auch davon ab, wie entschlossen wir diese Aufgabe angehen. Die Geschichte lehrt, daß die Utopien von gestern die Wirklichkeit von heute sind.

dt. Edgar Peinelt

* Sonderbeauftragter der Europäischen Union für den Friedensprozeß im Nahen Osten.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von MIGUEL ANGEL MORATINOS