Das soziale Europa
Am 13. Juni 1999 wählen die Bürger der fünfzehn EU-Mitgliedstaaten das Europäische Parlament. Innenpolitische Fragen, die im Wahlkampf natürlicherweise eine zentrale Rolle spielen, verdecken, was eigentlich ansteht. Denn das europäische Staatengebilde durchläuft derzeit eine tiefe Legitimationskrise. Dabei geht es um nichts geringeres als die Ohnmacht Europas. Der Krieg auf dem Balkan macht auf grausame Weise deutlich, daß – mangels einer eigenständigen europäischen Verteidigungspolitik, die niemand wirklich will – die Vereinigten Staaten nach Maßgabe ihrer eigenen Interessen den Kurs vorgeben. Die Arbeitslosen ihrerseits dürften in Köln die zum EU-Gipfel versammelten Staats- und Regierungschefs daran erinnert haben, wie hohl all ihre Reden über ein „soziales Europa“ anmuten, wenn gleichzeitig die Europäische Zentralbank alle Hebel in der Hand behält. Die Wahlen im Juni bieten den Bürgern die Gelegenheit, diesen Zustand zu kritisieren, doch für wirkliche Veränderungen bedarf es fraglos einer wiklichen Sozialbewegung auf europäischer Ebene.
Von PIERRE BOURDIEU *
WENN man derzeit über Europa spricht, hört kaum jemand unvoreingenommen zu. Die Medien, die alle öffentlichen Äußerungen nach ihrer Logik des „Pro und Kontra“ und des „Alles oder nichts“ filtern, unterdrücken oder zurechtbiegen, drängen ihren Konsumenten die unsinnige Alternative auf, die sie selbst längst verinnerlicht haben: Entweder man ist für Europa, mithin fortschrittlich, offen, modern, liberal; oder man ist es nicht und somit archaisch, ewiggestrig, ein Anhänger der Le Pens und Haiders – oder gar ein Antisemit. Das öffentlich propagierte Leitbild läßt keine andere Wahl als die bedingungslose Parteinahme für das Europa, wie es ist und gemacht wird: reduziert auf eine Zentralbank und eine Einheitswährung, der Herrschaft des schrankenlosen Wettbewerbs unterworfen.
Freilich ist es illusorisch zu glauben, die laute Beschwörung des „sozialen Europa“, wie sie etwa von den französischen Sozialisten zu vernehmen ist, durchbräche für sich schon diese Alternative. Sie erhöht zunächst nur den Grad an Mehrdeutigkeit, der schon den englischen „Sozial-Liberalismus“ auszeichnet – einen kaum verhüllten Thatcherismus, dessen Vermarktungsstrategen nur auf die opportunistische Instrumentalisierung einer medienwirksam aufbereiteten Sozialsymbolik setzen. Auf diese Weise wirken die Sozialdemokraten, die gegenwärtig in Europa an der Macht sind, im Namen von Geldwertstabilität und Haushaltskonsolidierung daran mit, die kostbaren sozialen Errungenschaften zunichte zu machen, die in den beiden letzten Jahrhunderten erkämpft worden sind und sich bis heute in den Leitbildern des Universalismus, des Egalitarismus (wir übergehen hier die jesuitischen Feinunterscheidungen zwischen Gleichheit und ausgleichender Gerechtigkeit) und der internationalen Solidarität niederschlagen. Die regierenden Sozialdemokraten zerstören damit den inneren Kern der sozialistischen Idee: den Anspruch, durch kollektives und organisiertes Handeln die Grundlagen des von der Herrschaft der Ökonomie bedrohten sozialen Zusammenhalts der Menschen zu bewahren.
Wem dieses kritische Urteil überzogen erscheint, der stelle sich ein paar Fragen: Ist es nicht bezeichnend, daß die Sozialdemokraten in dem Augenblick, da ihr fast zeitgleicher Aufstieg zur Regierungsverantwortung in mehreren europäischen Ländern ihnen real ermöglicht, gemeinsam eine überzeugende Sozialpolitik anzuschieben, nicht einmal auf die Idee kommen, die eigenständigen politischen Handlungsspielräume auszuloten, die sich ihnen bei der Steuergesetzgebung, aber auch in der Beschäftigungspolitik, beim Arbeitsrecht, bei der Ausbildung oder im sozialen Wohnungsbau bieten? Ist es nicht erstaunlich und aufschlußreich, daß sie nicht den mindesten Versuch unternehmen, sich Mittel an die Hand zu geben, um diesem bereits weit fortgeschrittenen Zerstörungsprozeß wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften entgegenzuwirken, indem sie beispielsweise auf europäischer Ebene gemeinsame soziale Normen verankern, insbesondere für die Bereiche Mindestlohn (vernünftig angepaßt), Arbeitszeit oder Lehrstellen und Ausbildung? Erst diese gemeinsame Politik könnte dazu führen, daß das Wirtschafts- und Politikmodell der USA den Vorbildcharakter verliert, den ihm die herrschende öffentliche Meinung zuspricht.
Ist es nicht schockierend, daß die Sozialdemokraten im Gegenteil nichts Eiligeres zu tun haben, als gemeinsam für das reibungslose Funktionieren der Finanzmärkte zu sorgen, anstatt sie durch gemeinsame Maßnahmen zu kontrollieren – zum Beispiel durch die (in früheren Wahlprogrammen geforderte) Einführung einer Kapitalertragssteuer oder durch den Wiederaufbau eines Währungssystems, das in der Lage wäre, die Beziehungen zwischen den nationalen Volkswirtschaften zu stabilisieren? Und ist es eigentlich hinnehmbar, daß den stillschweigend mit Europa identifizierten „Hütern des Euro“ gleichsam ein Vetorecht über die Sozialpolitik verliehen wird und diese somit der demokratischen Kontrolle entzogen bleibt? So wurde etwa die Finanzierung eines groß angelegten öffentlichen Entwicklungsprogramms auf den Feldern der Erziehung, der Gesundheitspolitik und der sozialen Sicherheit verhindert. Es hätte EU- weit abgestimmte gesetzliche Rahmenrichtlinien und entsprechende Institutionen schaffen können, die nach und nach – oder zumindest im Ansatz – an die Stelle der nationalen und regionalen Verwaltungen treten würden. Diese sind, solange nichts geschieht, durch die Logik einer nur finanz- und wirtschaftspolitischen Einheit zu einem perversen Standortwettbewerb des „Sozialdumpings“ verurteilt.
Da der innereuropäische Handel den bei weitem größten Anteil an den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten ausmacht, könnten die Regierungen dieser Länder eine gemeinsame Politik einleiten, um zumindest die schädlichsten Auswirkungen der innereuropäischen Konkurrenz zu begrenzen und dem Wettbewerbsdruck der außereuropäischen Staaten gemeinsam zu widerstehen – so etwa den handels- und zollpolitischen Maßnahmen der amerikanischen Regierung, die mit den Regeln eines freien und uneingeschränkten Wettbewerbs, als dessen Hüter die USA gelten, zumeist sehr wenig zu tun haben. Statt dessen beschwört man in Europa das Gespenst der Globalisierung und duldet im Namen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit den Abbau von Sozialleistungen, den die Arbeitgeber seit Mitte der siebziger Jahre in Ideologie und Praxis unablässig vorangetrieben haben (die Einschränkungen staatlicher Interventionen, die Mobilität und Flexibilität der Arbeitskräfte, die Rücknahme gewerkschaftlicher Rechte und die Erleichterungen für Entlassungen, die staatlichen Subventionen für private Investitionen durch Steuererleichterungen, die Reduzierung der Lohnnebenkosten für Arbeitgeber etc.). Kurzum: Indem die sozialdemokratisch geführten Regierungen der EU so gut wie nichts für die zuvor verkündeten politischen Ziele unternehmen, obwohl alle Voraussetzungen zu deren Realisierung gegeben sind, verraten sie unmißverständlich, daß sie diese Politik gar nicht wirklich wollen.
Die Geschichte lehrt, daß es ohne eine soziale Bewegung keine durchsetzbare Sozialpolitik gibt. Sie lehrt auch, daß nicht, wie man es uns heute glauben machen möchte, der Markt, sondern die soziale Bewegung die Marktwirtschaft „zivilisiert“ und ihre heutige Effizienz maßgeblich mitentwickelt hat. Wer dem Europa der Banken und des Geldes – flankiert von dem schon weit vereinheitlichten Europa der Polizei, der Strafverfolgung und, als wahrscheinliche Folge der Kosovo-Intervention, des Militärs –, wer diesem Gebilde ernstlich ein soziales Europa entgegensetzen will, der muß die Frage beantworten: Wie lassen sich für dieses Ziel die notwendigen Kräfte mobilisieren, und welche Organisationen können diese Aufgabe der Mobilisierung übernehmen? Natürlich denkt man spontan an den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB). Doch niemand wird den Beobachtern widersprechen können, die immer wieder aufzeigen, daß sich die europäischen Gewerkschaften auf der europäischen Aktionsebene hauptsächlich als „verantwortungsbewußte Partner“ verhalten, so als sei ihnen nur daran gelegen, von der Gegenseite geachtet an der Führung der Geschäfte mitzuwirken, wozu sie sich einer maßvollen Lobby-Tätigkeit befleißigen und im übrigen an die von Jacques Delors entwickelten, als Dialog betitelten Verkehrsformen halten. Auch wird man sich eingestehen müssen, daß der Europäische Gewerkschaftsbund keine großen Anstrengungen unternommen hat, um seine Organisationskraft so zu stärken, daß man der Politik der Arbeitgeber (die sich ihrerseits in der Union der europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände zu einer mächtigen, in Brüssel äußerst einflußreichen Pressure-group zusammengeschlossen haben) etwas entgegensetzen kann. Dazu wäre es nötig, mit den bewährten Waffen des sozialen Kampfes (wie Streiks und Demonstrationen) der Kapitalseite wirksame kollektive Vereinbarungen auf EU-Ebene abzuringen.
Mit einigen alten Prinzipien radikal brechen
DA nun der Europäische Gewerkschaftsbund zumindest kurzfristig nicht auf die Linie einer kämpferischen Interessenpolitik einschwenken wird, liegt die Hauptverantwortung für die Stärke der sozialen Bewegung zunächst bei den je nationalen Gewerkschaften. Doch ein qualitativer Wandel der Gewerkschaftspolitik, der auf der europäischen Ebene den Versuchungen einer auf technokratische Lösungen fixierten Verhandlungsdiplomatie entgeht und sich von den je national ausgerichteten Routinen und Denkweisen löst, scheint schwierig. Vor dieser Aufgabe aber stehen die Gewerkschaften just zu einem Zeitpunkt, da die neoliberale Politik und die ihrer Logik überlassenen Wirtschaftskräfte ohnehin die Grundlagen einer konfliktorientierten Gewerkschaftspolitik bedrohen: zum Beispiel durch die Privatisierung vieler Staatsbetriebe und die massenhafte Zunahme von unsicheren Arbeitsverträgen, Teilzeitarbeit und Tele-Heimarbeit. Davon zeugt nicht nur der Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads allgemein, sondern auch die schwache Einbeziehung der Jugendlichen – insbesondere der vielfach mit Unmut begegneten jüngeren Migrantenbevölkerung.
Die europäische Gewerkschaftsbewegung, die zum Motor eines sozialen Europas werden könnte, ist also noch zu erfinden, und zuallererst erscheint es notwendig, mit einigen alten Prinzipien mehr oder weniger radikal zu brechen. Zu brechen wäre (erstens) mit nationalen, ja teils nationalistischen Sonderinteressen im Rahmen von Gewerkschaftstraditionen, die der mentalen und territorialen Enge der einzelnen Staaten verhaftet sind, einem Rahmen, der bislang die eigene Fortexistenz sicherte und den Raum der gewerkschaftlichen Forderungs- und Aktionspolitik definierte. Zu brechen wäre (zweitens) mit jener auf Übereinstimmung bedachten Haltung, die kritisches Denken und Handeln in Mißkredit bringt und dazu neigt, durch die Überbewertung des sozialen Konsenses die Gewerkschaften in die Mitverantwortung für eine gemeinsame Politik zu drängen, die letztlich dafür sorgen soll, daß die Unterdrückten ihre Unterwerfung hinnehmen. Zu brechen wäre (drittens) mit einem weit verbreiteten wirtschaftlichen Fatalismus. Ihn stützt nicht nur der öffentlich-politische Diskurs über die unvermeidlichen Zwänge der „Globalisierung“ und die Herrschaft der Finanzmärkte, sondern auch die Praxis der sozialdemokratischen Regierungen, welche die Grundlinien der konservativen Politik weiterführen und sie als einzig mögliche verteidigen. Zu brechen wäre (viertens) mit jenem Neoliberalismus selbst, der es geschickt versteht, die einseitigen Anforderungen des „leoninischen“, das Recht des Stärkeren schützenden Arbeitsvertrags in das Kostüm der „Flexibilität“ zu kleiden – zum Beispiel bei den französischen Verhandlungen über die Arbeitszeitverkürzung und beim Gesetz zur 35-Stunden-Woche; hier werden die objektiven Mehrdeutigkeiten in einem Kräfteverhältnis genutzt, das immer ungleicher wird, weil die unsicheren und unstetigen Beschäftigungsformen sich ausbreiten und der untätige Staat die neoliberale Politik lieber bestätigt als zu verändern trachtet. Zu brechen wäre (fünftens) mit dem „Sozial-Liberalismus“ von Regierungen, die dazu neigen, Deregulierungsmaßnahmen, die den Arbeitgeberforderungen entgegenkommen, auch noch als unschätzbare Errungenschaft der wahren Sozialpolitik zu verkaufen.
Eine derart erneuerte Gewerkschaftspolitik erfordert Aktivisten, die wirklich international denken und in der Lage sind, in ihrem jeweiligen Land die aus den nationalen (juristischen und administrativen) Traditionen herrührenden Hindernisse ebenso zu überwinden wie die sozialen Barrieren, die zwischen Branchen und Berufsklassen, aber auch zwischen den Geschlechtern, Generationen und ethnischen Gruppen nach wie vor virulent sind. In der Tat ist es ein paradoxer Zustand, wenn einerseits die Jugendlichen, insbesondere jene aus Immigrantenfamilien, die kollektiven Angstphantasien beherrschen, die durch die teuflische Dialektik des politischen Wettkampfs um fremdenfeindliche Wählerstimmen und durch den Kampf der Medien um die Einschaltquoten erzeugt werden, wenn andererseits denselben Jugendlichen in den Parteien und Gewerkschaften wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, was umgekehrt proportional zu jener Rolle ist, die ihnen europaweit in den Diskussionen um die Politik der „inneren Sicherheit“ zugeschrieben wird.
Wäre es angesichts dieser Widersprüche nicht weit ratsamer, auf eine Art Internationale der „Immigranten“ aller Länder zu setzen, in der sich Türken, Kabylen und Surinamer vereinigten, um gemeinsam mit den einheimischen Arbeitern der verschiedenen europäischen Länder den Kampf gegen jene wirtschaftlichen Kräfte zu führen, die indirekt auch für ihre Emigration verantwortlich sind? Viele dieser jungen Menschen sind entwurzelt und aus dem Gleis geraten; weil sie von jedem organisierten Protest ausgeschlossen sind, bleiben ihnen als Ausweg neben kriminellen Aktionen oft nur Schicksalsergebenheit oder die Beteiligung an den modernen Varianten der Bauernaufstände: den Vorstadtrevolten. Vielleicht würden die europäischen Gesellschaften viel mehr gewinnen, wenn diese jungen Menschen, die man – obwohl sie Bürger des heutigen Europas sind – so hartnäckig „Immigranten“ nennt, die Chance erhielten, sich aus passiven Objekten einer Sicherheitspolitik in aktive Träger einer konstruktiven sozialen Bewegung zu verwandeln.
Da in Zukunft der Internationalismus die Bedingung für alle wirksamen Strategien des Widerstands sein wird, geht es darum, eine neue Geisteshaltung in den Bürgern zu wecken. Hier ließe sich an einige Maßnahmen denken: z.B. an die Bildung spezieller Abteilungen in jeder Gewerkschaft, die die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsorganisationen anderer Länder und einen internationalen Informationsaustausch aufbauen und koordinieren; z.B. an die Entwicklung einer länderübergreifenden gewerkschaftlichen Zusammenarbeit in Fragen der Lohnpolitik, der Arbeitsbedingungen und der Beschäftigungspolitik; z.B. an die Einrichtung von „Partnerschaften“ zwischen den Gewerkschaften grenznaher Regionen oder gleicher Berufsgruppen, wie dies etwa in transnationalen Branchen bei den Fernfahrern oder bei den Fluglinien schon heute der Fall ist; z.B. an einen stärkeren Einsatz für internationale Betriebsräte in multinationalen Unternehmen; z.B. an eine Politik der gezielten gewerkschaftlichen Ansprache und Einbindung von Immigranten, die als Mitträger des Widerstands und der Veränderung zu gewinnen sind, anstatt sie als Spielball partei- und gewerkschaftspolitischer Strategien, als Instrument der Spaltung im Betrieb oder als Ventil für nationalistische, gar rassistische Vorurteile zu mißbrauchen. Zu denken ist ferner an neue Aktionsformen und Strategien der Mobilisierung, wie z.B. eine engere Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften des öffentlichen und des privaten Sektors, die in den einzelnen Ländern der EU von sehr unterschiedlichem Gewicht sind. Schließlich ist ein grundlegender Sinneswandel notwendig, um ein enges Verständnis des „Sozialen“ zu überwinden und die Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen mit Fragen der Gesundheit, des Wohnungsbaus, des öffentlichen Verkehrs, der Ausbildung, der Freizeit und des Geschlechterverhältnisses zu verbinden. Und nicht zuletzt sollten auch die Anstrengungen verstärkt werden, um in den Bereichen, in denen die kollektiven Schutzinstrumente traditionell schwach entwickelt sind (z.B. bei Dienstleistungen und in der Zeitarbeit), den gewerkschaftlichen Organisationsgrad deutlich zu steigern.
Der Blick auf die Vielfalt dieser Aufgaben zeigt: Das bislang so utopisch erscheinende Projekt eines vereinigten Europäischen Gewerkschaftsbundes darf nicht länger aufgeschoben werden. Seine Verwirklichung ist dringend notwendig, um die gemeinsame Suche nach den zahllosen Veränderungen anzuregen und anzuleiten, die sowohl in den kollektiven Institutionen als in den Köpfen und Herzen der Menschen notwendig sind, um eine erneuerte soziale Bewegung in Europa zu schaffen. Auch wenn es für die Konzeption eines derart schwierigen und unsicheren Unterfangens fraglos nützlich ist, die historischen Anregungen aus jenem Entwicklungsmodell zu bedenken, das E.P. Thompson in seiner Studie „Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“ beschrieben hat, so muß man sich doch vor einfachen Analogien hüten. Die europäische Sozialbewegung des 21. Jahrhunderts kann nicht aus dem Modell der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts entwickelt werden, zu tiefgreifend sind die Veränderungen der Sozialstruktur in den europäischen Gesellschaften: vor allem der sinkende Anteil der Arbeiter in der industriellen Produktion gegenüber dem Anwachsen der modernen Anlagenbediener und Instandhaltungskräfte, die über ein vergleichsweise höheres „kulturelles Kapital“ verfügen. Sie sind in der Lage, mit neuen Organisationsformen auch neue gewerkschaftliche Kampfinstrumente zu entwickeln und neue, berufsübergreifende Solidaritätsbeziehungen zu knüpfen.
Beim Aufbau der neuen europäischen Sozialbewegung ist es die vordringlichste Aufgabe, sich von den alten Denkgewohnheiten freizumachen. Die wachsende gesellschaftliche Unsicherheit zwingt uns dazu, ganz neue Denkweisen und Aktionsformen zu entwickeln. Die allgemeine, aus neuen beruflichen Risiken und der Angst vor Arbeitslosigkeit herrührende Verunsicherung erfaßt mittlerweilse selbst höherqualifizierte Berufe und hat neue Formen der sozialen Disziplinierung zur Folge. Sie könnte aber auch zum Ausgangspunkt eines neuartigen Solidaritätsprinzips werden – in Krisen zum Beispiel, deren Auswirkungen dann als besonders skandalös empfunden werden, wenn Massenentlassungen nur deshalb anstehen, weil die Aktionäre von ohnehin gewinnträchtigen Unternehmen zufriedengestellt werden sollen.
Die neue Gewerkschaftsbewegung wird sich auf eine neuartige Solidarität aller Opfer stützen müssen, die die derzeitige Politik der sozialen Unsicherheit produziert. Diese Opfer sind heute unter den qualifizierten, mit „kulturellem Kapital“ ausgestatteten Berufen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Kommunikation fast genauso zahlreich wie unter den „normalen“ Angestellten und Arbeitern. Zunächst gilt es, eine kritische Analyse aller – oft ausgesprochen subtilen – Strategien zu erarbeiten und öffentlich zu machen, in die sich bestimmte Reformen der sozialdemokratischen Regierungen (oft unwissentlich) einfügen. Sie lassen sich am genauesten unter dem Leitbild der „flexiblen Ausbeutung“ (“flexploitation“) zusammenfassen. Eine derartige Analyse ist um so schwieriger – und wird deshalb denjenigen, die sie zur Erkenntnis ihrer Lage bringen soll, nicht leicht zu vermitteln sein –, als die neuen Strategien häufig von ihren eigenen Opfern entwickelt werden: zum Beispiel von den mit Fristverträgen arbeitenden Lehrern, die sich um marginalisierte Schüler oder Studenten kümmern, oder von Sozialarbeitern, die selbst nicht fest angestellt sind, nun aber Menschen helfen sollen, denen sie in ihrer sozialen Stellung schon sehr nahe kommen. Es besteht letztlich die Gefahr, daß alle an derart unsicheren Verhältnissen Beteiligten einer gemeinsamen Illusion erliegen und diese noch am Leben erhalten.
Letztlich ist vor allem mit jenen neuen, stark verbreiteten Vorurteilen aufzuräumen, die verhindern, daß die Realität so wahrgenommen wird, wie sie ist, und damit das politische Handeln entmutigen oder ins Leere laufen lassen. Ein Beispiel dafür ist die unkritische Entgegensetzung, die französische „Politologen“ und die ihren Lehren folgenden Journalisten vornehmen: zwischen den „protestorientierten Gewerkschaften“ einerseits, die in Frankreich die SUD oder die Confédération générale du travail (CGT) verkörpern, und den „verhandlungsorientierten Gewerkschaften“ andererseits, als deren positives Sinnbild der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gilt. Eine derart die politische Resignation fördernde Entgegensetzung verhindert die Einsicht, daß die sozialen Errungenschaften nur von einer Gewerkschaftsbewegung erstritten werden können, deren Organisation einerseits genügend Kampfkraft aufbringt, um den Unternehmern und den staatlichen Technokratien reale Fortschritte abzutrotzen, die andererseits auch verhandeln und der eigenen Basis die erstrittenen Kompromisse (z.B. Verträge und soziale Gesetze) so vermitteln kann, daß diese dann spürbare und dauerhafte Wirkung entfalten. Ist es nicht bezeichnend, daß schon das Wort „Mobilisierung“ durch die Wirtschaftsexperten neoliberaler Prägung in Mißkredit gebracht worden ist?
Den Gewerkschaften gelingt es derzeit nicht, die kurzfristigen korporatistischen Ziele zugunsten einer universalistischen Willensbildung hintanzustellen, die Grenzen der traditionellen Organisationen zu überschreiten und ihre ganze Kraft, gerade auch unter Einbeziehung der Arbeitslosen, in eine soziale Bewegung münden zu lassen, die den Wirtschafts- und Finanzmächten vor Ort, und das heißt im internationalen Maßstab, kämpferisch entgegentreten. Diese Schwäche rührt freilich aus ihrer Unfähigkeit her, sich auf eine vernünftige Utopie (wie das Leitbild eines wirklich sozialen Europa) zu einigen, und aus der Schwächung ihrer kämpferischen Basis, der die Führung gar nicht mehr glaubwürdig vermitteln kann, wie dringend sie gebraucht wird und wie wirksam ihre Aktionen sein könnten. Überdies raufen sich die Organisationen in sinnloser Konkurrenz derzeit um die besten Positionen auf dem Markt der „gewerkschaftlichen Dienstleistungen“. Immerhin sind in letzter Zeit bei einigen internationalen Bewegungen – am beispielhaftesten beim „Marsch auf Europa“ der Arbeitslosen – erste, noch flüchtige Anzeichen dafür zu erkennen, daß innerhalb der sozialen Bewegung selbst und in der Gesellschaft ein Bewußtsein darüber heranwächst, wie lebensnotwendig ein neuer Internationalismus ist.
dt. Christian Hansen
* Soziologe, Professor am Collège de France in Paris.