09.07.1999

Flugschau im Kosovo

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Flugschau im Kosovo

Im immer größer werdenden Club der Atommächte verlieren die USA allmählich ihre Vormachtstellung. Vor diesem Hintergrund haben sie im Kosovo eine neue Militärstrategie erprobt: durch den Beweis, daß ihre Tomahawk-Raketen – die allein sie besitzen – jedes Ziel auf der Welt treffen können, haben sie ihren Anspruch auf Vorherrschaft erneuert.

Von ANTOINE SANGUINETTI *

ERKLÄRTES Ziel des am 24. März 1999 begonnenen Luftkriegs war es, den Truppen des Präsidenten Slobodan Milosevic im Kosovo die militärische Schlagkraft zu nehmen. Der erste Beschuß von Panzereinheiten erfolgte jedoch, wie man bald erfuhr, erst vierzehn Tage später. Die Piloten flogen zu hoch, um zu erkennen, was sich am Boden abspielte, und der Einsatz von Panzerabwehr-Hubschraubern wurde Tag um Tag hinausgezögert. Daß man sich andererseits weigerte, die in den Bergen kämpfende Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) zu unterstützen und sie mit Waffen zu versorgen, widersprach jeder militärischen oder moralischen Logik.

In Serbien hingegen betrieb die Nato systematisch die Zerstörung der Infrastruktur, obwohl dies nicht zu ihren erklärten Zielen zählte. Unter US-amerikanischer Leitung wurde also gleichzeitig zweierlei durchgeführt:

– auf der militärisch-taktischen Ebene die fortgesetzte, aber wenig intensive Bombardierung der serbischen Streitkräfte im Kosovo;

– auf der politisch-strategischen Ebene eine Machtdemonstration.

Wie vormals in Deutschland, dann in Japan, Vietnam und im Irak schienen die USA wieder einmal die Luftwaffe mit dem Ziel einzusetzen, allen zu zeigen, was dem widerfährt, der sich ihrer Weltordnung nicht fügen will.

Neu ist allerdings, daß die Vereinigten Staaten zu diesem Zweck Mittel einsetzten, über die nur sie verfügen. Als letzte folgten sie damit einer Doktrin, die 1921 der italienische General Douhet aufgestellt hat und wonach die Luftwaffe das entscheidende Mittel zur Beilegung von Konflikten ist. Diese Doktrin stieß damals sofort auf den begeisterten Zuspruch der Flieger, die mit ihrer Hilfe eine Hauptrolle einzunehmen hofften. Zuerst wurde sie von Deutschland angewandt, im spanischen Bürgerkrieg in Guernica, dann im britischen Coventry; später von den Briten und besonders von den Amerikanern in Form der klassischen Flächenbombardements deutscher und japanischer Städte – allerdings war ihre Wirkung nicht ausschlaggebend.

Im August 1945 wurde in Hiroshima und Nagasaki der Beginn des Atomzeitalters eingeläutet: Unvergleichlich stärkere und zugleich leichter zu handhabende Waffen wurden eingesetzt, doch auch diesmal wirkten sie nicht kriegsentscheidend, da Tokio sich schon zuvor friedensbereit gezeigt hatte. Fünfzig Jahre später sieht eine kleine Zahl Länder, zu denen auch die USA gehören, nach wie vor in den Nuklearwaffen die Basis für ihre Strategie, da das „Gleichgewicht des Schreckens“ sie vor jedem Angriff schütze. Eine für die USA wenig befriedigende Begleiterscheinung ist jedoch, daß zwischen den Mitgliedern dieses „Clubs der Atommächte“ – deren Zahl zunimmt – keine allzu großen Kräfteunterschiede bestehen.

Drohen mit dem Tomahawk

IM Artikel VI des Atomwaffensperrvertrags von 1970, der 1995 verlängert wurde, verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, unter internationaler Kontrolle ihre Atomwaffenarsenale abzubauen. Diese Klausel wurde zwar in den USA noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt, hat aber dennoch zu einer Wende geführt, indem man dort 1972 mit der Entwicklung der Marschflugkörper (cruise missiles) begann. Daraus sind inwischen die Tomahawk-Raketen entstanden, die erstmalig im Irak und dann, nach deutlichen Verbesserungen in puncto Präzision und Zuverlässigkeit, auch in Jugoslawien zum Einsatz kamen.

Die Vermutung ist keineswegs abwegig, daß das Pentagon hier testen wollte, ob es nach dem Ende des Atomzeitalters auch mit solch konventionellen Waffen gelingt, Störenfriede notfalls mit Gewalt dem Willen Washingtons gefügig zu machen.

In Fragen der Strategie halten sich die Amerikaner nicht an Clausewitz, dessen Betrachtungen sich auf die Erfahrungen aus den zu Lande geführten europäischen Kriegen der napoleonischen Ära beschränken, sondern an den amerikanischen Admiral Mahan. Dieser erhob am Ende des 19. Jahrhunderts die alte britische Praxis zur Doktrin, die Welt mittels der Meere zu beherrschen, weil die Ozeane 70 Prozent der Erdoberfläche einnehmen, alle Kontinente umgeben und man sich auf ihnen laut dem internationalen Recht ungehindert bewegen und aufhalten kann. Seit fünfzig Jahren wird diese „Sea- Power“ von den Task-Forces amerikanischer Flugzeugträger verkörpert, die einzigen ihrer Art auf der Welt. Die geringere Größe der Tomahawk-Raketen macht es heute möglich, Tausende dieser Waffen auf den 76 U-Booten und 77 normalen, weniger kostspieligen Kriegsschiffen der amerikanischen Marine zu installieren. Die Tomahawks haben eine Reichweite von 2800 beziehungsweise sogar 3600 Kilometern, wenn sie von einem der 63 B-52-Bomber abgefeuert werden, die ihrerseits über einen Aktionsradius von 16000 Kilometern verfügen. Damit liegt praktisch jedes Land der Erde in der Reichweite dieser Waffe.

Den Rückzug der serbischen Truppen und Milizen aus dem Kosovo zu erzwingen, war moralisch zu rechtfertigen, weil nur so die Rückkehr der Kosovo-Albaner in ihre Heimat möglich wurde. Was dem serbischen Volk widerfuhr, ist weitaus bedenklicher. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist nun der ganze Planet dem ungehinderten militärischen Zugriff eines einzigen Landes ausgeliefert, das seine Interessen höchstselbst definiert – mit allen denkbaren Ausuferungen des Hegemonialstrebens. Es lag deshalb bei den Führern der reichsten Industrieländer, die Vereinten Nationen als die einzige rechtlich legitimierte Gegenkraft wieder ins Spiel zu bringen, wie es gerade geschehen ist.

Das „überraschende“ Eintreffen eines Häufleins Russen in Pristina darf man nicht überbewerten. Es wäre ein leichtes gewesen, den Konvoi bei seinem Aufbruch aus dem amerikanischen Sektor Bosniens oder auf der Fahrt zu blockieren, aber die Nato hat es vorgezogen, sich überrascht zu geben und zugleich die planmäßige Ankunft ihrer Truppen im Kosovo hinauszuzögern. Ein durchsichtiges Manöver – ohne Frage waren auf mindestens drei Ebenen Absprachen mit dem längst von Washington ökonomisch abhängigen Kreml getroffen worden: Zum einen sollte die Fiktion erhalten werden, daß Boris Jelzin noch immer an der Spitze einer Großmacht steht, zum anderen sollte die von Milosevic geforderte bewaffnete Präsenz der Serben im Kosovo ermöglicht werden – wenn auch in russischer Uniform –, und schließlich sollte bei den Europäern, um sie wieder gefügig zu machen, das verblassende Trauma der Angst vor dem Osten wiederbelebt werden.

dt. Margrethe Schmeer

* Flottenadmiral d.R.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von ANTOINE SANGUINETTI