09.07.1999

FRAGLICHER FRIEDE AUF DEM BALKAN

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FRAGLICHER FRIEDE AUF DEM BALKAN

Europa als Drei-Klassen-Union

Von MARIE-JANINE CALIC *

DER geographische Südosten Europas wird traditionell mit wirtschaftlicher und institutioneller Rückständigkeit, Irrationalismus und Barbarei identifiziert. Am Ende des Ersten Weltkrieges tauchte der Begriff der „Balkanisierung“ auf, der Zerstückelung größerer politischer Einheiten in wirtschaftlich nicht lebensfähige, aggressive Kleinstaaten. Bis heute hat sich die stereotype Vorstellung vom „anderen Europa“ gehalten, das man günstigstenfalls als Brücke zwischen dem zivilisierten Westen und dem rückständigen Orient betrachtet.

Vorübergehend schien der Kosovokrieg dem Europagedanken jedoch neue Impulse gegeben zu haben. Die Debatte über die Osterweiterung der EU veränderte sich und erzeugte innovative integrationspolitische Visionen. Müßte nicht im Angesicht der Probleme auf dem Balkan eine europäische Architektur entworfen werden, die von der Zugehörigkeit der Balkanstaaten zum europäischen Kontinent ausgeht? Wachgerüttelt durch die Dynamik des Kosovokrieges und die Erschütterungen in den Anrainerstaaten, kam so erstmalig eine langfristige Stabilitätspolitik für Südosteuropa in den Blick.

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer ergriff als Ratspräsident der EU die Initiative für einen „Stabilitätspakt für Südosteuropa“, der am 10. Juni in Köln verabschiedet wurde. 38 Staaten und 15 internationale Organisationen nahmen an der Ministerkonferenz teil, die den Balkan auf lange Sicht demokratischer, wohlhabender und friedlicher machen will. Albanien, Makedonien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Bulgarien, Rumänien, Slowenien sowie – wenn sie die Voraussetzungen erfüllt – die Bundesrepublik Jugoslawien sollen schrittweise an die europäischen Strukturen herangeführt werden, mit der Aussicht auf spätere EU-Mitgliedschaft. Zuvor sollen sie nach dem Vorbild der KSZE-Schlußakte von Helsinki an drei regionalen Runden Tischen bi- und multilaterale Abkommen zur Förderung von Demokratie, Marktwirtschaft und Sicherheit – einen Stabilitätspakt also – aushandeln.

Die Idee, den Balkan durch ein umfassendes Regionalkonzept zu befrieden, wurde in verschiedenen europäischen Außenämtern schon seit dem Vertragsschluß von Dayton diskutiert. Aber erst die Kosovokrise animierte dazu, die Stabilisierung Südosteuropas ganz oben auf die Agenda der GASP zu setzen. Grundlage ist die (längst überfällige) Erkenntnis, daß die Probleme auf dem Balkan eine langfristige, proaktive und stabilitätsorientierte Politik erfordern und daß Konfliktprävention letztlich billiger als die Beseitigung von Kriegsschäden sein könnte. Etwa 7 Milliarden Euro hat die EU seit 1991 im Zuge der jugoslawischen Nachfolgekriege in der Region ausgegeben, die Mittel für Flüchtlinge und Beiträge zu internationalen Organisationen noch nicht mitgerechnet. Die Kosten der militärischen Intervention im Kosovo, die Kriegszerstörungen in der BR Jugoslawien und die wirtschaftlichen Folgen in der Region werden von Wissenschaftlern der deutschen Bundeswehrhochschule zusätzlich auf rund 100 Milliarden D-Mark beziffert.

Vielen treibt die Vorstellung, bald könnten die krisengeschüttelten Kleinstaaten über die Zukunft der Union mitbestimmen, einen Schauer über den Rücken. Geschwindigkeit und Bedingungen einer möglichen Einbindung der Balkanstaaten in die EU blieben folglich umstritten. „Wir haben nicht jahrzehntelang für den Aufbau Europas gearbeitet, um zuzusehen, wie es zu einem riesigen unkontrollierbaren Gebilde ohne Zusammenhalt verkommt“, gab der französische Außenminister Hubert Védrine im Mai der Tageszeitung La Croix zu Protokoll.

Auch die südlichen Mitgliedstaaten Spanien und Portugal äußerten Bedenken, könnte doch der Stabilitätspakt zum Abfluß Brüsseler Zuwendungen nach Osten führen. Rumänien und Bulgarien, die immerhin schon Europa-Abkommen mit der EU geschlossen haben, fürchten wiederum, in den anstehenden Erweiterungsverhandlungen ins Hintertreffen zu geraten.

So ist im Stabilitätspakt nur noch die Formel übriggeblieben, den Balkanstaaten „die Perspektive einer Annäherung an die EU“ zu eröffnen. Eine Abkürzung oder Erleichterung des regulären Aufnahmeverfahrens kommt ausdrücklich nicht mehr in Frage. Statt dessen will Brüssel den Staaten der Region neue Formen vertraglicher Beziehungen anbieten, das heißt eine neue Generation maßgeschneiderter „Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen“. Sie sollen die Kluft gegenüber den Beitrittskandidaten Bulgarien, Rumänien, Lettland, Litauen, Slowakei und Malta überbrücken helfen. Vor einer Vollmitgliedschaft müssen die Balkanstaaten jedoch die „Kopenhagener Kriterien“ für Demokratie und Marktwirtschaft erfüllen, also jene Bedingungen, mit denen sich seit 1993 schon die mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten messen müssen. Gespräche über Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen sollen zunächst aber nur mit Makedonien und Albanien aufgenommen werden.

Letztlich bekennt sich Brüssel also zu nicht mehr als einer Drei-Klassen-Union: Im Zentrum die Vollmitglieder Kerneuropas, dahinter die reiferen assoziierten Mitglieder aus Ost-Mitteleuropa und schließlich der Balkan als dritte Kategorie. Und nicht einmal alle werden unmittelbar vorgelassen.

So bleiben vorerst viele Fragen offen. Was soll mit Kroatien, Bosnien-Herzegowina und der BR Jugoslawien geschehen, wenn diese auf längere Sicht nicht die gewünschten Voraussetzungen für den Abschluß von Stabilisierungsabkommen erfüllen? Unter welchen Konditionen darf Belgrad auf Befreiung aus der 1991/92 verhängten Isolation hoffen? Könnte nicht die im Dokument angekündigte Strategie, Montenegro schon frühzeitig zum Nutznießer der Stabilitätspaktsinitiative werden zu lassen, die Sezessionsbestrebungen in der jugoslawischen Teilrepublik weiter anheizen und so den nächsten Balkankonflikt programmieren?

Rußland hegt darüber hinaus Bedenken gegen das mit dem Stabilitätspakt verbundene Integrationsangebot der Nato. Zumindest die BR Jugoslawien möge als letzter südosteuropäischer Staat den ausufernden Expansionsbestrebungen der Allianz widerstehen, die bereits alle Anrainerstaaten in ein System von Partnerschafts- und Kooperationsverträgen eingebunden hat. Last but not least: Müßte man nicht auch der nach Europa drängenden Türkei ein entsprechendes Integrationsangebot machen, wenn die Union tatsächlich einmal auf 27 Mitglieder anwachsen sollte?

Aufgrund des Kalten Krieges konnte die westeuropäische Integration bis in die achtziger Jahre vorangetrieben werden, ohne daß es einer Reflektion der Entwicklungen im Osten und Südosten Europas bedurfte. Auch die meisten Europavorstellungen der Gegenwart setzen sich nicht ernsthaft mit den strukturellen Gegebenheiten vor Ort auseinander. Der Balkan, den Winston Churchill und Josef Stalin schon im Oktober 1944 in Einflußsphären aufgeteilt hatten (90 Prozent sowjetischer Einfluß in Rumänien, 75 Prozent in Bulgarien; dagegen standen 90 Prozent westlicher Einfluß in Griechenland; in Jugoslawien: je 50 Prozent), blieb außerhalb der Vorstellungswelt dieser Einigungsbewegung.

Der Balkan repräsentiert immer noch das „andere Europa“, eines, das es nach dem Sprachgebrauch westlicher Politiker zu europäisieren gilt. Europäisierung wird dabei als Prozeß nachholender Modernisierung verstanden, der bestenfalls in verschiedenen Geschwindigkeiten vonstatten geht. So wird erwartet, die Balkanstaaten sollten ihre Strukturen einer nach dem anderen dem westlichen Modell (niedergelegt im acquis communitaire, dem einschlägigen EU-Gemeinschaftsrecht) anpassen. Daß der Südosten alsbald der kontinentalen Mitte ähneln könnte, darf in Kenntnis der historischen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten jedoch bezweifelt werden.

Es waren die Gewalterfahrung von zwei Weltkriegen und die relativ abnehmende Bedeutung Europas im globalen Kontext, die nach dem Zweiten Weltkrieg den westeuropäischen Integrationsprozeß antrieben. Die westeuropäische Integration stellte welthistorisch etwas Neues dar, und einiges spricht dafür, daß sie deshalb funktionierte, weil sie sich auf relativ entwickelte Nationalstaaten gründete. Südosteuropa unterscheidet sich aber gerade dadurch von Westeuropa, daß die Nationalstaaten und zum Teil die Nationen selbst erst noch im Entstehen begriffen sind. So ist auch die These falsch, der Krieg im Kosovo könnte zur „abschließenden Katharsis“ der Balkantragödie werden.

In manchen Köpfen spukt die Vorstellung herum, der Krieg könne, da er alte Strukturen vernichtet, zum Motor der anstehenden wirtschaftlichen Erneuerung und demokratischen Entwicklung werden. Noch während die Bombardements der Nato täglich Milliardenwerte vernichteten, kündigten Amerikaner und Europäer dementsprechend einen umfassenden „Marshallplan“ zum Aufbau der kriegszerstörten Balkanregion an. Dies erfüllte nicht zuletzt innenpolitische Funktionen und hat manche kritische Stimme gegen die Bombardements der jugoslawischen Infrastruktur und Industrie, den ohnehin bescheidenen Wohlstand Serbiens und Montenegros, erstickt.

Zuallererst soll es künftig darum gehen, die Anrainerstaaten der BR Jugoslawien von den Kriegsfolgen zu entlasten. Auch Belgrad soll später in den Genuß der Hilfen kommen, sofern es die Auflagen der internationalen Gemeinschaft erfüllt. Schon seit Wochen sitzen die Unternehmerverbände in den Startlöchern: Wer sich im Rennen um den Wiederaufbau Kosovos günstig plaziert, kann mit Millionengewinnen rechnen.

Aber in Südosteuropa wird der „Marshallplan“ auf völlig andere Voraussetzungen treffen als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, wo trotz jahrelanger Bombardements nur 30 Prozent der industriellen Kapazitäten vernichtet waren. Die Aufbauhilfe hat dort vor dem Hintergrund günstiger struktureller und konjunktureller Gegebenheiten eine ohnehin einsetzende wirtschaftliche Aufwärtsbewegung lediglich unterstützt und beschleunigt. Dies wäre auf dem Balkan sicher nicht der Fall.

Vorbilder und Alternativen

DIES zu verdeutlichen, genügt ein Blick nach Bosnien-Herzegowina, wo die internationale Gebergemeinschaft in fünf Nachkriegsjahren 5,1 Milliarden US-Dollar plaziert hat. Die Summe der Privatinvestitionen in Bosnien-Herzegowina beläuft sich nach Angaben der Weltbank auf 160 Millionen US-Dollar, kärgliche 4,7 Prozent der internationalen Hilfsgelder. Hieran sind nicht nur fehlende Gesetze, hohe Steuern und Korruption schuld, sondern eine generelle Visions- und Konzeptionslosigkeit: Niemand hat bisher die Frage beantwortet (oder überhaupt gestellt), welche wirtschaftlichen Strukturen es prioritär zu entwickeln gilt und welchen Platz Bosnien-Herzegowina innerhalb der europäischen oder gar globalisierten Wirtschaft einnehmen könnte. Noch schwieriger wäre diese Frage wohl mit Blick auf Kosovo zu beantworten, einem echten Entwicklungsland auf dem europäischen Kontinent.

Alles in allem ist mehr als zweifelhaft, daß sich das westeuropäische Modell unmittelbar auf Südosteuropa übertragen ließe. Gebraucht wird statt dessen ein Europa-Verständnis, das den vielfältigen Entwicklungswegen auf dem eigenen Kontinent Raum läßt und stärker die Eigeninitiativen in der Region fördert.

Eine glaubwürdige Südosteuropa-Politik würde mit einer vorurteilsfreien Bestandsaufnahme in den betroffenen Ländern beginnen. Nicht nur wirtschaftliche Tiefenprobleme, kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Strukturen kämen dann in den Blick, sondern auch intellektuelle Traditionen, die auf die eigenen Kräfte vertrauen. So haben beispielsweise Integrations- und Föderationsideen verschiedensten Zuschnitts in den Ländern Südosteuropas durchaus eine eigenständige Tradition. Beispielsweise erwog Josip Broz Tito noch während des zweiten Weltkrieges den Beitritt Jugoslawiens, Albaniens, Bulgariens und (möglicherweise) Griechenlands zu einem südosteuropäischen sozialistischen Staatenbund. Mit seinem bulgarischen Gegenpart Georgi Dimitrov einigte er sich am 1. August 1947 auf die Ausarbeitung eines Beistandspaktes und einer Zollunion. Dimitrov promovierte sogar noch weiterreichende Föderationspläne: Bulgarien, Jugoslawien, Albanien, Rumänien, Ungarn, Polen, Tschechoslowakei und eventuell Griechenland. Aber die südosteuropäischen Integrationspläne scheiterten am sowjetischen und britischen Widerstand – die Selbstorganisation der Balkanstaaten hätte die Region dem hegemonialen Einfluß der Großmächte entzogen.

Heute ist häufig zu hören, die Staaten Südosteuropas wollten gar nicht kooperieren, obwohl der Westen sie dabei unterstütze. Dies gilt aber nur, sofern die von außen promovierten Kooperationsinitiativen sich als ausschließliche Alternative zum gesamteuropäischen Integrationsprozeß begreifen, wie etwa der europäische Royaumont-Prozeß und die amerikanische Southeast European Cooperative Initiative (SECI). Denn bei keiner Frage herrscht in den Staaten Südosteuropas so großer innenpolitischer Konsens wie bei dem Ziel der möglichst raschen Integration in die Europäische Union. Dies gilt auch für Serbien und Montenegro, wo sich in einer Umfrage der serbischen Forschungsorganisation Argument im Frühjahr 1998 86 Prozent der Befragten für den EU-Beitritt aussprachen.

Die Idee, die Staaten Südosteuropas an die EU heranzuführen, ist also grundsätzlich richtig. Davor müßte jedoch eine stärkere regionale Integration stehen, mit der Schaffung größerer Märkte und Freihandelszonen in den südosteuropäischen Staaten als erstem Schritt. Erst auf dieser Grundlage könnten eine Zollunion und ein gemeinsamer Binnenmarkt mit der EU einen Sinn machen. Denn noch ist die Europäische Union nicht bereit, sich durch Aufnahme der südosteuropäischen Staaten auch selbst qualitativ zu verändern.

* Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von MARIE-JANINE CALIC