10.09.1999

Erst kommt das Fressen und irgendwann die Moral

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Erst kommt das Fressen und irgendwann die Moral

Von NIELS KADRITZKE

ANGEKÜNDIGT war der Film ,Kitty Foyle‘, der in Berlin als ,Fräulein Kitty‘ läuft. Die Menschen, die zu den Kronen-Lichtspielen schlenderten, wollten ein wenig lachen, auch ein paar Tränen verdrücken, aber in erster Linie wollten sie Deutschland vergessen. Doch daraus wurde nichts, denn man hatte kurzfristig das Programm geändert. Statt ,Kitty Foyle‘ gab es Charlie Chaplins ,The Great Dictator‘.“

Diese Nachricht stand am 19. August 1946 im Magazin Time. Dass den Kinogängern im westlichen Stadtteil Steglitz der falsche Film vorgeführt wurde, hatte die Information Control Section (ICS) eingefädelt. Als Organ der US-Besatzungsbehörde war die ICS neben der Kontrolle der Medien dafür zuständig, die Stimmung im Lande zu erkunden. In dem Steglitzer Kino machte sie ahnungslose, unterhaltungsbegierige Berliner zu Versuchskaninchen.

Der Time-Bericht schildert, wie das Publikum reagierte: „Die Deutschen lachten darüber, wie Charlie Chaplin in der Rolle des jüdischen Frisörs einen Kunden im Takt von Brahms-Musik rasiert. Sie lachten über Chaplin als Diktator Hynkel, der einen riesigen Ballonglobus umtanzt, bis dieser ihm ins Gesicht explodiert. Aber mit der Zeit versiegte das Lachen, und in dem kleinen, stickigen Kino breitete sich erst peinliche, dann betroffene Stille aus. Bei den KZ-Szenen lachte niemand mehr. Kaum war der Film zu Ende, begann ein aufgeregtes Tuscheln. Die eine Szene war prima, die andere schlecht. Doch insgesamt war es für die Zuschauer ein Alptraum gewesen. Über die Tragödie des Nazismus konnten diese Deutschen nicht lachen. Viel zu nahe war ihnen noch die Zeit, da sie selbst ihrem Großen Diktator zugejubelt hatten.“

*

Die geschilderte Vorstellung gehörte zu den „Re-education“-Versuchen der alliierten Befreier. Erschwert wurde die „Umerziehung“ dadurch, dass die Lehrer zugleich die Sieger waren und die meisten Deutschen sich eher besiegt als befreit fühlten. Zur pädagogischen Entnazifizierung dienten zunächst die Filmdokumente über das KZ-System. Doch diese atrocity films, wie es in der Re-education-Sprache hieß, wurden von der deutschen Bevölkerung nicht ohne weiteres „angenommen“. Billy Wilder, Emigrant aus Wien und mittlerweile US-Bürger, hatte aus dem Material, das die Alliierten bei der Befreiung der KZs gedreht hatten, den Film „The Mills of Death“ zusammengestellt. Die „Todesmühlen“ liefen im April 1946 eine Woche lang in sämtlichen Kinos des amerikanischen Sektors von Berlin. Die ICS-Berichte belegen für diese Woche rund 40 Prozent weniger Kinogänger.

Was die Berliner in der „Todesmühlen“-Woche entbehrten, war vorwiegend leichte Kost aus Hollywood, die das Publikum die Alltagssorgen vergessen ließ – und die Vergangenheit erst recht. Billy Wilder hatte bereits am 16. August 1945 eine Denkschrift über „Propaganda durch Unterhaltung“ verfasst. Seine Ausgangsfrage lautete: „Werden die Deutschen Woche für Woche ins Kino kommen, um den schuldbewussten Schüler zu spielen?“ Nein, war die Antwort, sie würden bei solchen pädagogischen Vorführungen „apathisch vor sich hin dösen und erst wieder aufwachen, wenn Rita Hayworth auf der Leinwand erscheint“.

Die filmpolitische Wende vollzog die Anpassung an die Macht der psychologischen Fakten. Das aufzuklärende Volk hatte auf die atrocity films eher verbockt reagiert. Von hungernden Menschen, räsonierte der dänische Journalist Stig Dagerman bei seiner Deutschlandreise 1946, sei kaum die Einsicht zu erwarten, dass sie für ihren Hunger selbst verantwortlich waren. Als im August 1945 die „Dreigroschenoper“ im Berliner Hebbel Theater Premiere hatte, berichtete der verstörte ICS-Beobachter, am heftigsten bejubelt habe das Publikum die Songzeile: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

Das relativiert die These, dass die Menschen im Kino oder im Theater nicht an ihren Alltag erinnert sein wollten. Im Herbst 1945 sparten sich die Berliner die Groschen vom Munde ab, um Charlie Chaplins „Goldrausch“ zu sehen. Die ICS berichtet von langen Schlangen vor den Kinos, in denen der Film mit der berühmtesten Hungerszene spielte: Der Tramp Charlie schlägt sich den Magen voll, ohne satt zu werden, indem er eine gekochte Schuhsohle so andächtig verspeist wie ein zartes Schnitzel.

Der Hunger auf „Goldrausch“ war auch Ergebnis eines Zwangsfastens. Obwohl Chaplin vor 1933 der liebste Kinostar der Deutschen gewesen war, hatte das Nazi-Regime ihnen alle seine Filme vorenthalten. Viele Berliner erinnerten sich an den Besuch ihres Helden im März 1931: Als Charles Spencer Chaplin auf dem Bahnhof Friedrichstraße eintraf, war es zum größten Volksauflauf gekommen, den die Hauptstadt zwischen den revolutionären Tagen von 1918 und dem Fackelzug der Nazis am 30. Januar 1933 erlebt hatte. „Das Volk von Berlin empfängt ihn“, schrieb Siegfried Kracauer 1931 in der Frankfurter Zeitung, „das Volk ohne Unterschiede der Klasse, des Standes, der Religion. Sie rufen jubelnd den Namen, der ihnen teuer ist und ein Versprechen des Glücks.“

Die Nazis hatten den Helden des kleinen Mannes natürlich als Konkurrenz wahrgenommen. „Widerlicher Rummel um den Kriegshetzer Chaplin“ titelte das Goebbels-Blatt Der Angriff. Und als Chaplin wieder abreiste, rief ihm das Berliner Nazi-Organ hinterher: „Das erwachende Deutschland marschiert. Auf den Tag. Und dann wird der Chaplin keine Lust mehr verspüren, nach Deutschland zu kommen.“

Zwölf Jahre später, nach Hitlers Zeitrechnung waren es tausend Jahre, hatten die Berliner ihr Idol wieder. Doch in der Zwischenzeit war ihnen Chaplin, obwohl die Nazis seine Filme verboten hatten, doch noch einmal im Kino begegnet. Ein einziges Mal – im schmählichsten aller rassistischen Propagandastreifen: „Der ewige Jude“ kam 1940 in die Kinos. Die meisten Deutschen haben ihn gesehen, an der „Heimatfront“ gehörte er zu den staatsbürgerlichen Pflichten. Der Film zeigte neben Tucholsky und Einstein auch Charlie Chaplin – wie er 1931 von den Berlinern umjubelt wurde. Dazu der Kommentar: „Es lässt sich nicht leugnen, ein Teil des deutschen Volkes applaudierte damals ahnungslos den zugewanderten Juden, den Todfeinden seiner Rasse.“ Gegen Schluss des Filmes huschen Ratten durchs Bild. „Ungeziefer“, für das es bekanntlich Rattengift gibt. Wie viele Berliner, die im August 1945 den Goldrausch sahen, erinnnerten sich an den „Ewigen Juden“?

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Chaplin galt den Nazis nicht als Todfeind, weil sie ihn für einen Juden hielten. Es war umgekehrt: Weil er ihr Feind war, machten sie ihn zum Juden. Dafür hatten die Nazis vor allem ideologische Gründe. Der „Kriegstreiber“ Chaplin war in Wahrheit ein pazifistischer Weltbürger. Nach seiner Europareise von 1931 hatte er gewarnt: „In Europa greift überall der Patriotismus um sich, das muss zwangläufig in einen neuen Krieg münden.“

Chaplin war nicht der einzige Feind, den die Nazis zum Juden ernannten. Doch in seinem Fall hat sich die Fama gehalten, weil er das rassistische Vorurteil bewusst nicht korrigierte. In seinen Augen wäre ein Dementi nur Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus gewesen. Und so musste es für Chaplin eine Ehre sein, in die Judengalerie aufgenommen zu werden, die 1933 von den Nazis publiziert wurde. „Juden sehen Dich an“ hieß der Band, der das Bild des kleinen Tramp mit dem Hitlerbärtchen mit den Worten kommentierte: „Dieser ebenso langweilige wie widerwärtige kleine Zappeljude ...“

Als „The Great Dictator“ entstand, hatte das Wort „Endlösung“ noch nicht seine heutige Bedeutung, und der Begriff KZ ließ noch nicht an „Vernichtungslager“ denken. Die Konsequenz, mit der die Menschenvernichtung seit 1941 betrieben wurde, hat die Welt erst nach Kriegsende begriffen. 1964 schrieb Chaplin in seiner Autobiografie, er habe 1940 vor allem den rassistischen „Unsinn“ der Nazis verspotten wollen: „Hätte ich etwas von den Schrecken in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte [...] mich über den mörderischen Wahnsinn der Nazis nicht lustig machen können.“

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Dachten so auch die Berliner Kinogänger, die Chaplins Film 1946 nicht richtig lustig fanden? Waren sie so verstört, weil ihnen der „mörderische Wahnsinn der Nazis“ noch zu schwer im Magen lag? Einen Ansatzpunkt, die Motive und Reaktionen dieser Nachkriegsdeutschen zu rekonstruieren, bieten die Berichte der ICS-Leute, die „The Great Dictator“ testen ließen. Im vertraulichen „Information Control Intelligence Summary, No. 55“ vom 17. August 1946 wird die Versuchsanordnung des Experiments geschildert. Der Film wurde an zwei Abenden vorgeführt. Die erste Vorstellung fand ausschließlich vor speziell geladenen Zuschauern statt, die der US-Behörde als „in jeder Hinsicht überdurchschnittlich qualifiziert“ galten. Es handelte sich um deutsche Kulturschaffende, die für die Re-education-Pläne der Siegermächte eine wichtige Rolle spielten. Dieses Publikum wusste, welcher Film sie erwartete. Dagegen erfuhren die meisten Besucher der zweiten Vorführung, von der eingangs die Rede war, erst im Kino, dass ihnen Chaplins Hitler-Film blühte.

Nach beiden Filmvorstellungen wurde ein Fragebogen ausgehändigt. Die ICS-Leute wollten wissen: „Wie hat Ihnen der Film gefallen?“ Und vor allem: „Soll der Film dem breiten Publikum zugänglich gemacht werden?“ Die Ergebnisse der ICS-Umfrage sind nicht leicht zu interpretieren. Von den jeweils 500 verteilten Fragebogen wurden nach der ersten Vorstellung nur 144, nach der zweiten 232 abgegeben. Wertet man nur die ausgefüllten Fragebogen, so erzielte der Film eine hohe Zustimmungsquote. Als „hervorragend“ oder „gut“ wurde er am ersten Abend von 75 Prozent, am zweiten von 84 Prozent bewertet. Die zweite Frage, ob „The Great Dictator“ allgemein in die deutschen Kinos kommen solle, bejahten 69 bzw. 62 Prozent der auskunftswilligen Zuschauer. Entscheidend ist freilich die Frage, was die Zuschauer dachten, die den Fragebogen nicht ausfüllten. Wertet man ihre Abstinenz als Ablehnung, wäre dies eine klare Mehrheit gegen die Idee, den Film einem breiten Publikum zuzumuten.

In diesen Zahlen steckt ein weiterer Hinweis. Die Skepsis war bei den sortierten und informierten Zuschauern des ersten Abends erkennbar größer als bei den Versuchskaninchen. Die Gründe benennt der Theaterkritiker Friedrich Luft in seinem Bericht für den Berliner Tagesspiegel. Er artikuliert das Unbehagen eines Nazigegners, dem die jüngste Geschichte so ernst ist, dass er sie nicht einem Komiker – auch nicht dem besten von allen – überlassen will: „Uns ist der originale Spaß zu teuer gekommen, als dass wir jetzt schon die Satire davon heiteren Auges sehen könnten. Darum zeige man uns diesen Film jetzt nicht. Vielleicht später. Sehr viel später.“

Den Wunsch nach Aufschub hatte auch ein anderes Publikum empfunden, von dem Friedrich Luft nichts wissen konnte. Im Oktober 1944 hatten die Amerikaner „The Great Dictator“ im gerade befreiten Rom gezeigt. Auch die Reaktion der geladenen Römer war gedämpft ausgefallen. Warum das so war, lässt sich einem Bericht der New York Times entnehmen. Nach dem Film ging das Publikum „niedergeschlagen und wie betäubt aus dem Kino“. Die Zeitung mutmaßte hierzu: „Die Menschen haben ihn lange bewundert und lassen sich heute nicht gerne sagen, dass sie 24 Jahre lang einem Hanswurst nachgelaufen sind.“

In Rom 1944 wie in Berlin 1946 hatte das Publikum seine Gründe, „The Great Dictator“ mit gemischten Gefühlen zu betrachten. Aber was wissen wir wirklich über die Gefühle der „kleinen Kinogänger“? Nur in der zweiten Berliner Vorstellung vom 9. August 1946 konnten die amerikanischen Kulturpolitiker die Frage testen, die sie interessierte, seitdem sie an der Wirksamkeit der atrocity films zweifeln mussten. Diese Frage lautete: Könnte der Chaplin-Film von 1940 womöglich eine Art Katharsis bewirken? Eine innere Befreiung bei Menschen in Gang setzen, die den Sieg der Alliierten nicht als befreiend empfunden hatten?

Über die Eindrücke und Gefühle des Testpublikums gibt es sporadische Hinweise in der New York Times vom 10. August 1946. Der Bericht beruft sich auch auf „amerikanische Beobachter“, die als Lauscher im Publikum saßen. Er vermerkt zwar hin und wieder „brüllendes Gelächter und sogar Applaus“. Aber der Haupteindruck ist, dass die Leute ihre Emotionen kontrollierten. „Spontanes Gelächter des ganzen Hauses“ gab es nur über die Hermann-Göring-Parodie mit Doppelkinn und Ordensbrust. „Irritiert und verletzt“ reagierten sie dagegen, als Chaplin als Diktator Hynkel in einer Sprache losrattert, die mit ihren Urlauten und Wortfetzen das Panzerkettenstakkato einer Hitlerschen Drohrede imitiert. Man könnte diese Reaktionen auch so interpretieren: Schadenfreude für den eitelsten ihrer ehemaligen Führer – aber Betroffenheit ob der Beleidigung ihrer Sprache, deren Erniedrigung durch die Nazis sie zwölf Jahre lang anstandslos hingenommen hatten.

Mehr als plausibe Spekulationen darüber, was in dem verstörten Publikum vorgegangen sein mag, könnten uns nur direkte Zeugen geben, die nach so langer Zeit freilich nur mit Glück zu finden sind. Unser Glücksfall trägt heute den englischen Namen George Clare, wurde aber als Georg Klaar in Wien geboren. Seine jüdische Familie musste 1938 emigrieren. Heute lebt der ehemalige Publizist bei Cambridge im aktiven Ruhestand. An die Nachkriegszeit in Berlin kann sich Clare noch lebhaft erinnern. 1946 war er Kontrolloffizier bei der britischen Militärverwaltung. Und natürlich hatten ihn seine amerikanischen Kollegen zum Testlauf des Chaplin-Films eingeladen.

George Clare interpretiert die ICS-Umfrage sehr zurückhaltend: „Fragebogen waren damals nicht populär, jeder musste ständig Fragebogen ausfüllen. Die Deutschen hatten Angst: Was machen die da draus, was passiert damit?“

Er selbst glaubt rückblickend, dass es im Berliner Publikum von 1946 zwei sehr unterschiedliche Bedenken gab, die gegen „The Great Dictator“ vorgebracht wurden: Einer Minderheit war der Film zu weit weg von der erlittenen Realität, der großen Mehrheit trat er zu nahe. Wer das Dritte Reich als Furcht und Elend erlebt hatte, musste denken: „Nein, der Film wird dem Ernst nicht gerecht.“ Die anderen zeigten mit ihrer Reaktion, dass sie erst gar nicht erinnert werden wollten. Und dann unterläuft Clare eine wunderbare Formulierung: „Es war alles zu nahe der eigenen Hornhaut.“

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Hornhaut ist eine Schutzschicht, die sich unter starkem Druck bildet. Mit Anritzen ist ihr nicht beizukommen. Die Nachkriegshornhaut der Deutschen schützte gegen jede moralische Frontalbelehrung, und sie wurde mit jedem Tag des eigenen Elends härter. Was der Bericht in der New York Times andeutet, konnte Clare jeden Tag erleben „Die deutsche Nationalhymne war in diesen Jahren das Selbstmitleid. Der Durchschnittsdeutsche weinte um sich selbst.“

War die Hornhaut dieses „Durchschnittsdeutschen“ so beschaffen, dass sie ihn gegen jede Zumutung schützte, neben dem eigenen Elend auch die Mitschuld an diesem Elend zu bedenken? Dafür sprechen die Aussagen vieler Beobachter. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, gewiss. Aber hätten unorthodoxe Mittel wie der Chaplin-Film nicht eventuell doch den Panzer des Selbstmitleids aufbrechen können?

Vielleicht gibt es ein Lachen, das Erleichterung ausdrückt und gerade dadurch ein Nachdenken über die eigene Vergangenheit in Gang setzen kann? Versetzen wir uns versuchshalber in einen erniedrigten, beleidigten, sich bemitleidenden Deutschen, der 1946 – aus Neugier oder falschen Erwartungen – den „Großen Diktator“ sehen will, jedenfalls eher als die „Todesmühlen“. Was hätte diesen Deutschen erwartet?

Chaplin hätte ihm die Szene mit den hundert Sturmtruppleuten zugemutet, die im Ghetto ein Dutzend Juden zusammentreiben. Sie zeigt nicht nur das Unrecht, sondern auch die Feigheit der Judenverfolgung: Die angeblich tapferste Nation der Welt attackiert ihre wehrlosesten Opfer. Chaplin hätte ihm den aufrechten preußischen Offizier Schulz vorgeführt, der sich für die Menschen im Ghetto verwendet. Um den Großen Diktator zu beeindrucken, beteuert er: „Ich spreche im Namen der Menschlichkeit.“ Der Diktator erwidert: „Sie müssen mal ausspannen, Sie sind überanstrengt“, und überweist Schulz ins KZ. Lässt sich das Nazi-Unwort „Gefühlsduselei“ angemessener illustrieren?

Es ist gut möglich, dass solche Passagen auf Mitläufer und enttäuschte Hitler-Anhänger anders gewirkt hätten als auf überzeugte Nazigegner. Womöglich hätten gerade die Szenen, die Antifaschisten unangemessen vorkamen, für Menschen, die sich jeder moralischen Belehrung verschlossen, zum Stein des Denkanstoßes werden können. Und die KZ-Sequenz, die Chaplin selbst im Nachhinein zu harmlos fand, weil das Lager an eine straff geführte Jugendherberge erinnert, hätte bei verstockten Deutschen vielleicht den Gedanken freigesetzt: Oh Gott, es war ja viel schlimmer als alles, was sich Chaplin zu Beginn des Krieges ausgedacht hatte.

Das stärkste Argument für den Versuch, den „Großen Diktator“ 1946 doch auf ein breiteres Publikum wirken zu lassen, ist die Schlussrede, mit der Chaplin aus seiner Doppelrolle heraustritt und sich mit weicher, leidenschaftlicher Stimme an seine Mitmenschen wendet. An einer Stelle wird diese Stimme pathetisch: Wenn er die Soldaten anspricht, die gerade ihr Nachbarland erobert haben. „Soldaten, liefert euch nicht den Bestien aus – Leuten, die euch verachten und versklaven, die euer Leben reglementieren [...], die euch drillen und wie Vieh behandeln, die euch als Kanonenfutter benutzen. Gebt euch nicht für unnatürliche Menschen her, für Maschinenmenschen mit Maschinenhirnen und Maschinenherzen. Ihr seid keine Maschinen, ihr seid kein Vieh, ihr seid menschliche Wesen.“

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1946 hätte diese Rede Menschen angesprochen, die sich geschlagen, missbraucht, betrogen fühlten. Von Chaplin werden diese Menschen auch als Opfer ihrer Führer wahrgenommen. Das wäre so kurz nach dem verlorenen Angriffskrieg ein großes Angebot gewesen. Ein Angebot allerdings, das kein Freispruch für die Mittäter war, die ebenfalls in den meisten Deutschen steckten.

Warum es bei den beiden Vorführungen vom August 1946 geblieben ist, lässt sich nachträglich nicht mehr ermitteln. Aber ganz sicher hing es auch mit den politischen Entwicklungen zusammen. George Clare verweist auf die wachsende Systemkonkurrenz zwischen Ost und West. Die Kulturpolitik der Alliierten habe schon damals auf den heraufziehenden Kalten Krieg reagiert: „Es war ein Wettlauf um die Gunst der besiegten Deutschen. Die wichtigste Frage lautete damals: Macht eine Maßnahme die Deutschen russenfeindlicher oder amerikafeindlicher? Das wurde zum Kriterium, nach dem alles entschieden wurde.“

Was diese Systemkonkurrenz betrifft, so galt Charlie Chaplin 1946 schon nicht mehr als verlässlicher Vertreter der westlichen Sache. Heute wissen wir, dass er bereits in der FBI-Kartei als fellow traveller der Kommunisten geführt wurde. Als 1947 die Hexenjagd der McCarthy-Ära begann, gehörte Chaplin zu den Hauptverdächtigen. Jetzt fiel seinen politischen Gegnern auch wieder ein, dass „The Great Dictator“ noch vor Kriegseintritt der USA entstanden war (weswegen man ihn noch im Herbst 1941 unter dem Vorwurf der „Kriegstreiberei“ vor ein Senatskomitee zitiert hatte). Für diese Leute war der Anti-Hitler-Film ein Beleg für die Todsünde des „vorzeitigen Antifaschismus“. Damit war der weltläufige Engländer, der nie die US-Staatsbürgerschaft beantragt hatte, endgültig als „un-amerikanisches Element“ entlarvt.

Und doch musste Chaplin nie vor dem Hollywood-Untersuchungsausschuss in Washington aussagen. Vielleicht war er zu berühmt; jedenfalls ließen ihn die McCarthy-Leute unbehelligt. Aber das FBI sorgte dafür, dass sein neuer Film „Monsieur Verdoux“ von der „American Legion“ aktiv bekämpft wurde. Dieses Rollkommando des Kalten Krieges demonstrierte überall in den USA vor den Kinos mit Plakaten wie: „Schickt Chaplin nach Russland“.

Die FBI-Akten über Charlie Chaplin wurden erst Mitte der achtziger Jahre zugänglich. Die 1 900 Seiten sind ein Dokument der Paranoia des Kalten Krieges – und für das Denken, das unter Hoover das FBI dominierte: Auch die US-amerikanische Bundespolizei führte den „zersetzenden“ Künstler Charles Spencer Chaplin als Juden, dessen Vorfahren aus Osteuropa nach London eingewandert seien. Als einziges „besonderes Kennzeichen“ war in den FBI-Akten der Vermerk gespeichert: „Spricht mit jüdischem Akzent.“

Die zweite europäische Premiere erlebte „The Great Dictator“ erst 1958, zwölf Jahre nach dem missglückten Berliner Test. Dass der Film in Europa positiv aufgenommen wurde, erklärt sich gewiss auch mit dem sicheren historischen Abstand. In Deutschland war „Der große Diktator“ zwar kein Kassenschlager, aber die meisten Kritiker würdigten den didaktischen Nutzen für die Nazi-Generation und die Nachgeborenen. Dass viele ehemalige Hitler-Anhänger von dem Angebot Gebrauch gemacht haben, darf bezweifelt werden.

Sicher wissen wir es nur von einem. Albert Speer, der herausragende Technokrat des Nazi-Regimes, war 1946 vom internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als „Hauptkriegsverbrecher“ zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Den Chaplin-Film sah er erst nach seiner Entlassung aus dem Spandauer Gefängnis, in der deutscher Fassung. Das erzählte er 1976 dem US-amerikanischen Journalisten James O'Donnell, der das Gespräch in der Zeitschrift Encounter beschrieben hat.

Speer hatte mit dem „Großen Diktator“ ganz ähnliche Schwierigkeiten wie 25 Jahre zuvor der Antifaschist Friedrich Luft: Es sei nicht möglich, eine Satire über Hitler zu machen. Doch eine Qualität des Films konnte der Architekt Speer kompetent beurteilen: Die bombastisch-bedrohliche Atmosphäre von Chaplins Filmkulisse sei beklemmend der von ihm selbst entworfenen Reichskanzlei nachempfunden.

Besonders verstört war der Baumeister des Führers über ein winziges Detail in der berühmten Szene, in der Chaplin als Hynkel alias Hitler sein narzisstisches Ballett mit dem durch den Raum taumelnden Erdball aufführt. Als Speer das sah, ging es ihm plötzlich auf: „Chaplin muss an diesem Film in Hollywood etwa zu derselben Zeit gearbeitet haben, zu der ich in Berlin mit dem Bau der Neuen Reichskanzlei beschäftigt war. Doch der Globus, den ich damals für Hitlers privates Arbeitszimmer vorsah, war im Durchmesser um mindestens 30 Zentimeter größer als Chaplins Ballonglobus.“

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Im Gespräch mit James O'Donnell hat Speer auch die Frage beantwortet, über die man schon vor 1945 viel spekuliert hatte. In den USA war das Gerücht aufgekommen, eine Kopie des Filmes sei von Agenten des Dritten Reiches angekauft worden. Hitler habe sich „The Great Dictator“ angesehen und anschließend vor Wut in den Teppich gebissen. Speer hat mit diesem Mythos aufgeräumt. Zwar habe sich die UFA im neutralen Portugal eine Kopie besorgt, aber die sei Hitler nie vorgeführt worden. Sie sei wohl im UFA-Giftschrank eingeschlossen geblieben.

Auch das stimmt freilich nicht ganz. Ein weiterer Zeitzeuge weiß es besser: Boleslaw Barlog, Berliner Theatermensch der ersten Stunde. Der langjährige Generalintendant der Westberliner Bühnen ist im März 1999 verstorben; aber vorher ließ er sich noch am Telefon über die Ereignisse von 1946 befragen. Von dem Kinotest mit „The Great Dictator“ hat er zwar gewusst, aber er ist nicht dabei gewesen. Das musste er auch nicht, denn er hatte den Film bereits gesehen. Wie das? Barlog hatte sich kurz vor Kriegsende die UFA-Kopie ausgeliehen. Er kannte den Giftschrankverwalter von Babelsberg, und der hatte sich mit 20 Reichsmark bestechen lassen.

Auch Boleslaw Barlog hat den Film damals als zu harmlos empfunden. Deshalb konnte er es 1946 verstehen, dass die Amerikaner die Hitler-Parodie nicht ins Kino bringen wollten. Ob er sich die UFA-Kopie allein angesehen habe? „Oh ja“, sagt Boleslaw Barlog, „es war ja nicht ganz ungefährlich.“ Ob er etwas dagegen habe, die Geschichte seiner Privatpremiere in einem Text über den „Großen Diktator“ zu enthüllen? „Natürlich nicht“, antwortet Barlog am Telefon, „die Nazis sind ja weg.“

1945 waren die Nazis weg, von der Macht und auch von der politischen Oberfläche. Aber die vielen Mitläufer waren noch da. Und die Bereitschaft der Nachkriegsdeutschen, sich den Anteil an ihrer eigenen Geschichte klar zu machen, ist auch in den folgenden Jahren nicht gewachsen. Mit ihrer eigenen Rolle – ihrer eigenen Schuld gar – wollten sie sich nicht beschäftigen. George Clare meint, es habe für diese Generation nur einen wirklichen historischen Bruch gegeben: „Das war die Währungsreform. Als die Mägen wieder voll waren, hat sich dann allmählich auch die Denkweise geändert.“

Erst kam das Fressen, dann kam die Moral, aber auch die kam nicht sofort. Das Wirtschaftswunder ließ sich nicht mit Menschen anpacken, die nach der Arbeit über ihre Sünden grübelten oder die Schuldfrage debattierten. Das Bedürfnis, das Vergangene ruhen zu lassen, blieb noch eine bleierne Ära lang übermächtig. Als der 1946 gedrehte Hitchcock-Thriller „Notorious“ Anfang der fünfziger Jahre in die bundesdeutschen Kinos kam, ließ der Verleih eine fürsorgliche Synchronfassung produzieren. Bei Alfred Hitchcock waren die Bösewichter Nazi-Agenten, die nukleares Material erbeuten wollten. Für die Deutschen wurden sie zu einer internationalen Bande von Rauschgiftschmugglern. Die ehemalige Gefolgschaft des großen Diktators sah den Film damals unter dem Titel „Weißes Gift“.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von NIELS KADRITZKE