80 Jahre Landreformen
ÜBER 70 Jahre lang durfte in Russland Boden weder ge- noch verkauft werden. Gemäß dem „Dekret über Grund und Boden“, das der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongress sofort nach der Oktoberrevolution 1917 verabschiedet hatte, konnte jedermann Anspruch auf ein Stück Land zwecks Bewirtschaftung erheben. Die Nutzflächen sollten gleichmäßig verteilt werden. Pacht und Lohnarbeit wurden untersagt.
Erst 1991 schuf ein Gesetz die Grundlage für Privatunternehmertum in der russischen Landwirtschaft. Das „Gesetz über die Farmwirtschaften“ erlaubte den Kolchos- und Sowchos-Bauern, sich ihren Anteil am Gemeinschaftseigentum in Form von Land auszahlen zu lassen. Die Verfassung der Russischen Föderation von 1993 gibt jedem Eigentümer das Recht, frei über seinen Besitz zu entscheiden. Auch der Verkauf von Boden ist theoretisch erlaubt, doch es gibt bis heute keinen gesetzlichen Mechanismus, der den Handel mit Grund und Boden auch praktisch ermöglicht. Deshalb können die russischen Landwirte auch keine Hypotheken aufnehmen. Nur Pachtverträge sind an der Tagesordnung.
Heute gelten in Russland über elf Millionen Bauern als Grundeigentümer. Die meisten davon haben ihren Besitz aber einer der zu Aktiengesellschaften umgebildeten alten Kolchosen überschrieben. Diesen gehören somit noch immer 93 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Auf ihr ganz persönliches Risiko hin beackern dagegen schon 280 000 bäuerliche Einzelunternehmer, sogenannte fermery, ihren Boden.
Nichtadelige Grundbesitzer gab es in der russischen Geschichte vorher nur wenige Jahre lang vor dem Ersten Weltkrieg, während der Stolypinschen Reformen 1907 bis 1917. Innenminister Stolypin zerschlug damit die Struktur der alten russischen Dorfgemeinschaft, der obschtschina. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 bis zu Stolypins Gesetzen hatten alle Mitglieder der Landgemeinden kollektiv für deren Schulden haften müssen. Deshalb war die Verschuldung auf dem Lande hoch. Besonders tüchtige oder vom Schicksal mit gutem Boden und vielen Söhnen gesegnete Bauern hatten sich automatisch zu Gläubigern ihrer Nachbarn entwickelt, was zu großen Ungleichheiten auf dem Dorf führte.
Als Kulaken (wörtlich: „Fäuste“), also als Ausbeuter, wurden während der Kollektivierung der Landwirtschaft ab 1928 nicht nur Landwirte erschossen oder verhaftet, die sich einen Knecht geleistet hatten. Bestraft wurde jede bäuerliche Privatinitiative. Im Grunde – so sagen heute russische Bauernpolitiker – hat sich die Einstellung des Staates zu den Landwirten kaum geändert. An die Stelle der Requirierung von Lebensmitteln sind heute überhöhte Steuern und eine ruinöse Finanzpolitik getreten. Die fermery und kolchosniki reagieren darauf, indem sie Teile ihrer Erträge vor der offiziellen Statistik verstecken.
BARBARA KERNECK