10.09.1999

Ein Europa der Kulturen

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Ein Europa der Kulturen

Von ANTONIN J. LIEHM *

VIERHUNDERT Millionen Euro will die EU in den Jahren 2000 bis 2006 für die Kultur ausgeben, bei einem Gesamtetat von 600 Milliarden Euro. Und Kultur, so sieht es der Vertrag von Maastricht vor, fällt künftig in die Kompetenz der Gemeinschaft und hat die nicht eben bescheidene Aufgabe, Kenntnisse der verschiedenen nationalen Identitäten zu verbreitern und derart den Zusammenhalt der Europäischen Gemeinschaft zu befördern. Entscheidend jedoch wäre, dass der Akzent dabei nicht auf europäischen Superschaus,sondern auf Werken aus den jeweiligen Herkunftsländern liegt.

„Könnte man noch einmal von vorne anfangen, müsste man mit der Kultur anfangen“, soll Jean Monnet kurz vor seinem Tod gesagt haben. In Wirklichkeit hat der Vater der späteren Europäischen Union diesen Satz niemals ausgesprochen, denn er hatte ganz andere Sorgen: Europa nämlich stand in den fünfziger Jahren noch völlig unter dem Eindruck des Krieges bzw. der beiden vorangegangenen Kriege, und die Hauptsorge damals war, zu verhindern, dass Kohle und Stahl noch einmal – und diesmal womöglich endgültig – die Zerstörung des Kontinents bewirken konnten. Wie hätte man in einer Zeit, da Millionen Menschen nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatten, der Kultur oberste Priorität einräumen sollen? Außerdem steht zu bezweifeln, dass die Europäische Union zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Aufbauprozesses – von Rom bis Amsterdam – diesem Vorschlag gegenüber aufgeschlossen hätte sein können. Selbst heute ist sie dazu nicht wirklich bereit.

Die Idee der Gründerväter war die Schaffung einer Wirtschafts- und Handelsgemeinschaft, also eines gemeinsamen Marktes, der eine einheitliche Währung hervorbringen und schlussendlich gar in einer Art Föderation münden sollte. Diese Ziele konnten inzwischen mehr oder weniger erreicht werden, trotz der zuweilen unüberwindlich erscheinenden Hindernisse.

Kultur im eigentlichen Sinne hingegen war für die Brüsseler Kommission nie etwas anderes als eine Handelsware, welche den gleichen Gesetzen unterlag wie alle anderen Produkte: Man einigte sich auf den größten gemeinsamen Nenner und glaubte, Herstellung, Vertrieb und Konsumtion von Kultur funktionierten genauso wie in der Automobil-, Textil- oder Lebensmittelbranche. Als Vorbild diente vor allem der gemeinsame Markt der Vereinigten Staaten von Amerika: Dort war es gelungen, eine einheitliche Kultur zu schaffen, die – aus einer Vielzahl verschiedenster Elemente zusammengesetzt und auf einer einheitlichen Sprache fußend – einer größtmöglichen Anzahl von Einwohnern zugänglich war und den Bedürfnissen der verschiedensten Gruppen entsprach bzw. diese Bedürfnisse formte.

Natürlich gab es noch ein zweites Vorbild: die Sowjetunion. Auch dort hatte man von einem riesigen, zentralisierten Markt geträumt, von einer standardisierten Produktion, einer gesteuerten Nachfrage, einer einheitlichen Währung – und von einer Föderation. Auch dort hatte man auf eine einheitliche Sprache gesetzt, auf die eine „sowjetische Kultur“ und auf den Homo sowjeticus, trotz der enormen kulturellen Vielfalt. Der Traum ist längst zerronnen, aber vielleicht war die Idee als solche doch nicht so abwegig und ließe sich in Europa realisieren, wenn man das Ganze nur etwas anders anginge: Wenn man beispielsweise das Privateigentum, den Wettbewerbsgedanken und den Arbeitsmarkt unangetastet ließe.

All diese Fehler hat Europa nicht begangen, und das nicht von ungefähr. Folglich könnten die Chancen für die Durchsetzung einer europäischen Kultur und eines „Homo europeensis“ eigentlich günstig stehen. Ich möchte klarstellen, dass ich hier keineswegs den Vorstellungen der Herren Charles Pasqua, Philippe de Villiers u. a. das Wort reden möchte – aber ich glaube an Europa, und nicht nur an das wirtschaftliche Europa des gemeinsamen Marktes, sondern an ein politisches Europa, das heute vielleicht noch Zukunftsmusik ist, aber (in der einen odern anderen Ausformung) zwangsläufig eine Folge des wirtschaftlichen Europa sein wird. Doch das politische Europa darf keinesfalls ein sowjetisches sein: Es muss im Wesen demokratisch, dabei wirtschaftlich effizient und prosperierend sein; ein Europa der 35 bis 40 verschiedenen Kulturen und Identitäten, mit ebenso vielen verschiedenen Sprachen, historischen Hintergründen und Traditionen; ein Europa, das durch ein gemeinsames geografisch-historisches Koordinatensystem und ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis verbunden ist.

Ich möchte zwei Beispiele anführen. Vor einigen Jahren wurde ich in Stockholm gefragt, ob Schweden im Falle eines Beitritts zur Europäischen Union nicht Gefahr laufe, seine kulturelle Identität einzubüßen. In meiner Antwort berief ich mich auf das historische Beispiel des habsburgischen Reiches: ein großer, gut funktionierender gemeinsamer Markt, eine politische und ökonomische Lingua franca und eine Monarchie, die zunächst von einer Hauptstadt, später von zwei Hauptstädten regiert wurde. Von diesem Modell, in dem sich die verschiedenen kulturellen Identitäten parallel zueinander weiterentwickelten und gegenseitig bestätigten, hatten alle ihren Vorteil gehabt. Hätte Wien rechtzeitig verstanden, dass der kulturellen Autonomie eine politische folgen musste, um zerstörerische Nationalismen zu verhindern, hätte man das Reich vielleicht erhalten können.

Das zweite Beispiel liegt völlig anders. Ein aus Europa stammender Emigrant mit einer Lebensgeschichte wie der meinen wird bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten schnell merken, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Einwohnern des Südens (den früheren „Südstaatlern“) und den „waschechten Yankees“ im Norden, den Einwohnern Kaliforniens bzw. denen im Mittleren Westen. Grund hierfür ist die Tatsache, dass jeder Südstaatler in seinem Gedächtnis – als wäre dieses kodiert – die Geschehnisse eines schrecklichen Kriegs gespeichert hat: die Erinnerung an ein verwüstetes Land, dessen Besetzung für zehntausende Einwohner den Tod bedeutete, die Erinnerung an zerstörte Häuser, vergewaltigte Frauen, bewaffnete Raubüberfälle und Plünderungen, begangen von einer feindlichen Soldateska. Die Südstaatler, zumindest die dort lebenden Weißen, fallen mithin aus der success story der jungen US-amerikanischen Geschichte heraus. Auch Europa hat in seiner langen Geschichte die Erinnerung an eine tragische Vergangenheit geerbt, die sich heute als gemeinsames europäisches Paradigma erweist, welches alle Völker und Kulturen des Kontinents verbindet, so verschieden sie auch sein mögen.

Europäische Kultur als Einheitsbrei?

WOMÖGLICH hat die Europäische Union in ihren Anfängen das Problem der vielfältigen kulturellen Identitäten unterschätzt. Als man erkannte, dass diese Vielfalt im Falle einer Nichtbeachtung Nationalismus und Gewalt in sich barg, hoffte man, diese Gefahr dadurch bannen zu können, dass man ein gemeinsames Wirtschaftsinteresse formulierte und eine gemeinsame europäische Identität vorantrieb, wodurch die einzelnen Identitäten allmählich in den Hintergrund treten sollten. Diese Vorstellung – eine Erbschaft des 19. Jahrhunderts – speist sich aus der marxistischen Theorie, derzufolge die Vorantreibung eines gemeinsamen Wirtschaftsinteresses und die Abschaffung der Rivalitäten in diesem Bereich die nationalen und kulturellen Unterschiede beseitigen und fortan Konflikte verhindern könne.

Europa jedoch ist kein melting pot und wird auch keiner werden, denn europäische Identität definiert sich nicht zuletzt durch die Vielfalt seiner Kulturen. Man sollte also gerade nicht danach trachten, die jahrhunderte-, ja: jahrtausendealten Identitäten zu beseitigen, sondern im Gegenteil die jeweiligen kulturellen Aspekte der einzelnen Identitäten stärken und auf diese Weise die Nationalismen konturieren und eine Akkulturation in die Wege leiten. Denn jetzt, da die mörderische wirtschaftliche Konkurrenz gebrochen ist, wird eine solche Entwicklung erstmals in der Geschichte Europas denkbar.

Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es in hohem Maße einer engagierten Kulturarbeit sowie einer Politik, die es sich zur Aufgabe macht, kulturelle Identitäten zu stärken, ihr gegenseitiges Verständnis zu fördern und die Kenntnisse anderer Kulturen auszubauen. Den verschiedenen Völkern Europas muss neben ihrer eigenen auch die Kultur der anderen zugänglich sein. Erste vielversprechende Schritte sind Austauschprogramme für Jugendliche, insbesondere in den Bereichen Erziehung und Tourismus. Doch was die Ausbildung junger europäischer Führungskräfte angeht, muss man bedauerlicherweise einen Hang zur kulturellen Uniformierung diagnostizieren. Noch immer wird unterschätzt, wie bereichernd die Kultur der einen für den Horizont der anderen ist und welch zentrale Rolle dem identitären Moment in Europa zukommt.

Im gegenwärtigen digitalen Zeitalter, in dem die audiovisuelle Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt, ist ein derartiges Vorhaben zunächst gewiß eine kotspielige Angelegenheit. Die audiovisuelle Kultur und ihre Verbreitung richtet sich tendenziell nach den Gesetzen des Markts, dieser aber befördert Standardisierung, Vereinheitlichung und die Festlegung auf größtmögliche gemeinsame Nenner. Daher rührt die Bredouille der europäischen Institutionen, deren Auftrag gerade lautet, im Kulturbereich anders als im Wirtschaftsbereich vorzugehen. Ziel der europäischen Partner nämlich sollte sein, gerade nicht den Marktanforderungen und der ökonomischen Logik zu folgen, sondern um des Erhalts der Verschiedenheit willen diesen Mechanismen entgegenzusteuern, sie abzufedern. Eine solche Politik jedoch hat ihren Preis, und das äußerst niedrig veranschlagte Kulturbudget macht deutlich, dass man die Tragweite des Problems bislang nicht erkannt hat.

Allein schon durch die Existenz der verschiedenen Sprachen richten sich die jeweiligen Kulturen automatisch an ein begrenztes Publikum. Wenn man der Logik des Marktes folgen würde, würden nur wenige der Kulturen überleben können. Selbst die größeren Sprachgemeinschaften sind bedroht, denn auch sie können mit den englischsprachigen Kulturen nicht konkurrieren, deren Markt schließlich eine Milliarde Menschen umfasst. Kein Wunder, dass die europäischen Kulturschaffenden auf öffentliche Subventionen aus nationalen oder Gemeinschaftsmitteln angewiesen sind.

Im audiovisuellen Sektor ist diese Unterstützung lebenswichtig, allerdings weniger im Bereich der Produktion als vielmehr im Vertriebsbereich. Nicht ein „Euro-Einheitsbrei“ oder ein angeblich europäischer „Frankenstein“ sollten gefördert werden, sondern Werke, die fest in der Kultur der jeweiligen Ursprungsländer verwurzelt sind. Filmgesellschaften und Fernsehsender richten sich bekanntlich nach dem Publikum und den Einschaltquoten. Daher haben Werke, die sich nur an ein begrenztes Publikum richten, kaum Chance, produziert und vor allem innerhalb Europas bekannt zu werden, wenn die Verleiher oder Sender nicht subventioniert werden. Die Union hat hier eine äußerst wichtige Aufgabe, das zeigt sich in dem gelungenen Unionsprogramm Media. Die verschiedenen Kulturen Europas haben bislang kaum Kenntnis voneinander – eine Situation, der gerade die audiovisuellen Medien (und allen voran das Fernsehen) abhelfen könnten. Denn nur wenn die Mitgliedstaaten mehr von den jeweiligen Kulturen der anderen wissen, wird es heute oder morgen ein Europa geben. Und hierfür bedarf es, ob man will oder nicht, der Subventionen.

Am Ende dieses Jahrhunderts also muss Europa sich entscheiden, ob es eine gemeinsame Kulturpolitik befördern will oder nicht, und wenn ja, wie diese aussehen soll. Um die Europapolitiker von der Tragweite des Thema zu überzeugen, ist ein langer und mühsamer Kampf erforderlich. Jeder kleine Erfolg, auch jede Teillösung, ist ein Schritt in die richtige Richtung: gegen die Philosophie des Markts, auf der die Union basiert. Wer wenn nicht Frankreich könnte die Federführung eines solchen Vorhabens übernehmen?

Erinnern wir uns abschließend daran, dass während des jüngsten EU-Wahlkampfs das Wort „Kultur“ so gut wie nicht zu hören war.

dt. Ute Schürings

* Herausgeber von „Lettre international“.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von ANTONIN J. LIEHM