Islam, Laizismus und das westliche Zerrbild
Von SADIK JALAL AL-AZM *
IN den letzten zehn Jahren haben in Ländern wie Frankreich oder Deutschland junge Muslime nicht zuletzt durch die „Kopftuchaffären“ heftige Debatten ausgelöst. Das Gespenst des „Kommunitarismus“ ging um, einem „Krieg der Kulturen“ wurde das Wort geredet ... Genährt wurden solche Ängste und Hirngespinste durch den weltweiten Vormarsch machtvoller politischer Bewegungen unter dem Banner des Koran, von denen manche auch vor den Methoden des Terrors nicht zurückschreckten. Kaum zur Kenntnis genommen wurde alerdings, dass der politische Islam durchaus keine „Rückkehr in die Vergangenheit“ propagiert. Sein Kampf richtet sich vielfach gegen diktatorische und korrupte Regime, weit mehr als gegen den Westen, und so steht der Islam heute vor neuen Herausforderungen, welche die Menschen tagtäglich gewärtigen.
Der Blick des Westens auf den Islam wirft einige grundsätzliche Fragen auf: Ist der Islam vereinbar mit der Moderne, mit dem Laizismus, mit der Demokratie, mit der Meinungsfreiheit, mit der Glaubensfreiheit – kurz: mit dem laizistischen Humanismus? Doch der westliche Blick ist getrübt, denn die Antwort steht von vornherein fest: „Nein. Sie sind nicht vereinbar und können es auch nicht sein.“
Ich, der ich mich zu den „In den Blick Genommenen“ zähle, möchte einige andere Antworten vorstellen, in der Hoffnung, das Bild zumindest ein wenig zu entzerren. Der Islam als in sich geschlossenes, statisches, auf ewigen Grundsätzen fußendes Ideal ist selbstverständlich mit nichts anderem vereinbar als mit sich selbst. Seine Ablehnung und sein Kampf gegen Laizismus und Humanismus sind fundamental, genauso wie bei den übrigen großen Religionen, sofern man sie von ihrem Verhältnis zur Ewigkeit aus betrachtet.
Aber als lebendiger Glaube, der sich an sehr verschiedene Voraussetzungen und rasch wechselnde Gegebenheiten anzupassen vermag, war der Islam in der Geschichte der Menschheit sehr wohl mit allen bedeutenden Staatsformen und den unterschiedlichen Formen wirtschaftlicher und sozialer Organisation vereinbar: von der Monarchie bis zur Republik, vom Stammesverband bis zum Großreich, vom antiken Stadtstaat bis zum modernen Nationalstaat. Und wenn man den Islam unter dem Aspekt seiner vierzehn Jahrhunderte umfassenden Geschichte als Weltreligion betrachtet, so zeigt sich, dass er in einer Vielzahl von Gesellschaften, Kulturen und Lebensweisen Fuß fassen konnte: von den Nomadenstämmen bis zur kapitalistischen Industriegesellschaft, und nebenbei auch unter den Bedingungen des bürokratischen Zentralismus, des Merkantilismus und der feudalen Agrargesellschaft.
Angesichts dieser historischen Fakten dürfte schon etwas deutlicher geworden sein, dass der Islam äußerst geschmeidig, anpassungsfähig und formbar gewesen sein muss, um sich unter so unterschiedlichen Bedingungen zu behaupten. Man kann daraus schließen, dass es prinzipiell keinen Grund gibt, weshalb der Islam nicht fähig sein sollte, sich auch an den Laizismus, den Humanismus, die Demokratie, die Moderne usw. anzupassen. Ob sich der Islam in diese Richtung entwickeln wird oder nicht, ist allerdings eine Frage historischer Kontingenz und soziokultureller Wahrscheinlichkeit – es hängt also davon ab, wie sich die Muslime als realgeschichtliche Akteure verhalten werden.
Schließlich haben die siegreichen Ajatollahs auf dem Höhepunkt der islamischen Revolution im Iran nicht etwa das islamische Kalifat neu errichtet und auch kein Imamat ausgerufen. Stattdessen schufen sie zum ersten Mal in der langen Geschichte des Landes eine Republik: mit einer Verfassung, die sich an die französische Verfassung von 1958 anlehnte, mit allgemeinen Wahlen und einem Parlament, in dem ernsthafte politische Auseinandersetzungen stattfanden. Es gab einen Ministerpräsidenten und ein Kabinett, politische Gruppierungen und eine Art Obersten Gerichtshof – alles Institutionen, die mit dem Islam als Glaubenslehre und Dogma nichts zu tun haben, umso mehr aber an die moderne Geschichte Europas angebunden sind.
Das ist umso bemerkenswerter, als die iranischen Religionsgelehrten, die sich als Hüter der schiitischen Orthodoxie verstehen, im Laufe der neueren Geschichte entschieden gegen republikanische Ideen aufgetreten sind, die ihnen als völlig glaubensfremd galten. Im Namen des orthodoxen Islam, der Ablehnung europäischer Vorbilder und importierter Institutionen brachten sie alle früheren Versuche reformwilliger Staatsführer, die Republik einzuführen, zum Scheitern. Bei aller islamischen Rhetorik sind die Reden, Debatten und Polemiken der iranischen Religionsgelehrten nicht bestimmt von den dogmatischen Vorschriften der Orthodoxie, sondern von der jeweils aktuellen politischen und sozioökonomischen Lage. In den öffentlichen Äußerungen der Mullahs geht es nicht so sehr um Glaubenslehre, Kalifat, Imamat usw., sondern um Wirtschaftsplanung, Sozialreform und Umverteilung des Reichtums, um Imperialismus, wirtschaftliche Abhängigkeit, die Rolle der Volksmassen bzw. der technokratischen Eliten und um Themen wie Identität, Modernisierung, Authentizität usw. Es ist nicht zu übersehen, dass im Iran die Anhänger der Republik als eine historische Notwendigkeit den Sieg über die antirepublikanische Tradition des islamischen Dogmatismus davongetragen haben.
Eine einschneidende Erfahrung wie den Kemalismus, der, als aus den Trümmern des Ersten Weltkriegs die moderne Türkei entstand, den weltlichen Staat und seine offizielle Trennung von der Religion dekretierte, hat es in der arabischen Welt nie gegeben. Ihren spektakulären Höhepunkt erreichte diese Entwicklung 1924 mit der Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal. In den wichtigsten arabischen Ländern vollzog sich der Prozess der Verweltlichung dagegen allmählich und zögernd, pragmatisch und informell, er war gekennzeichnet durch halbherzige Maßnahmen und Teilkompromisse, Zweckbündnisse und zeitweilige Rückzüge oder die Verschiebung von Entscheidungen auf unbestimmte Zeit.
1956 unter dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel-Nasser hätte eine „kemalistische Wende“ Chancen gehabt, insbesondere nach der Verstaatlichung des Sueskanals, die in der gesamten arabischen Welt als kühne Tat große Begeisterung geweckt hatte. Aber Nasser unternahm keine Anstrengungen in diese Richtung, was wiederum einen anderen, tiefen Bruch erst möglich machte: das Aufkommen des islamischen Fundamentalismus, des bewaffneten Widerstands usw.
In zentralen Ländern wie Ägypten, dem Irak, Syrien und Algerien jedoch findet man bis heute in Wirtschaft, Gesellschaft, Recht, Politik oder Kultur so gut wie keine Institution, die nach islamischen Prinzipien in Übereinstimmung mit der Scharia geführt wird oder den Lehrmeinungen der Geistlichkeit folgt. Abgesehen vom Personenstandsrecht und dem Bereich des individuellen Bekenntnisses und der Frömmigkeit spielt der Islam im öffentlichen Leben eine nur noch periphere Rolle. Wohin man auch schaut in diesen Ländern, ob es die Banken, Märkte, Fabriken sind oder das Militär, die politischen Parteien, der Staatsapparat, ob Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen oder die Künste, die Medien – mit der Religion ist es offensichtlich nicht mehr weit her.
Zwei Hälften eines Wesens
SELBST in einem Land wie Saudi-Arabien, dessen tribale Führungsschicht sich ostentativ im Gewand muslimischer Orthodoxie und beduinischer Rechtschaffenheit und Sittenstrenge präsentiert, haben sich die Widersprüche zwischen offiziellem Anspruch und Realität drastisch verschärft. Wie explosiv die Situation geworden ist, zeigte 1979 die Besetzung der Heiligen Stätten in Mekka, die das Königreich in den Grundfesten erschütterte. Die Kräfte, die hinter dieser bewaffneten Erhebung standen, nahmen das Bekenntnis zur Religion noch ernst, und ihr Ziel war die Aufhebung der vorherrschenden Schizophrenie – sie wollten dem grotesken Widerspruch zwischen der offiziellen Ideologie und der Realität ein Ende setzen und das Leben in Saudi-Arabien wieder den strengen Glaubensvorschriften unterwerfen, die offiziell gepredigt werden.
In den arabischen Staaten mit republikanischer Verfassung prägt die nationalistische und laizistische Orientierung das öffentliche Leben. Die alten religiösen Bezugssysteme sind verdrängt; es gilt der westliche Kalender, es gibt neue Feiertage, neue Symbole und Denkmäler. Die Kritiker dieser Verdrängung führen nicht etwa ins Feld, der Islam lasse sich nicht verweltlichen, sondern sie kritisieren das „Verschwinden und die Marginalisierung des Islam“, „die mangelnde Präsenz des Islam in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit, weil er nur noch für Gebete, Fasten, Pilgerschaft und Almosen zuständig ist“; ihnen missfällt die Art, wie „der Islam der schwersten Prüfung seit seinem Bestehen ausgesetzt wird und gegen Materialismus, Individualismus und Nationalismus antreten muss“. Sie sind nicht einverstanden damit, wie „der Lehrstoff an Schulen und Universitäten, ohne offene Kritik an der Religion zu üben, doch das islamische Weltbild und die daraus folgende Lebensweise untergräbt“. Weitere Kritik: „Die Geschichte des Islam und der Araber wird geschrieben, gelehrt und gedeutet, ohne dass der göttliche Wille dabei Erwähnung findet“; „die modernen Nationalstaaten, die sich als muslimisch bezeichnen, haben zwar niemals die Trennung von Moschee und Staat proklamiert, aber in der Praxis untergraben sie die muslimische Lebensweise, indem sie eine Art funktioneller Trennung von Staat und Religion einführen, die weitaus perfider ist.“
Auf ihre Weise liefern diese Radikalen eine Einschätzung der modernen Kräfte und Entwicklungen, die zur Auflösung des traditionellen Geflechts muslimischer Gesellschaften, Kulturen und politischer Systeme beitragen; und ihre Einschätzung ist weitaus hellsichtiger als jene der Soziologen, Experten, Mullahs und Religionsgelehrten, die nur die abgedroschene Phrase wiederholen, dass „der Islam nicht verweltlicht werden kann“. Folglich wehren sich die Islamisten mit aller Macht gegen die bereits weit fortgeschrittene Verlagerung des zeitgenössischen Islam in den Bereich des Privaten, des Persönlichen und des Individuellen, die bereits so weit fortgeschritten ist, dass die Grundprinzipien des Islam heutzutage der Entscheidung des Einzelnen unterliegen, sowohl der Glaube als auch die Praktizierung der Riten oder Kulte. Aus dem Wunsch heraus, diese irreversible Entwicklung zu revidieren, ziehen sie in den Krieg – im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Ziel ist die Reislamisierung einer Gesellschaft, einer Kultur und Politik, die heute nur mehr dem Namen nach islamisch ist.
Nicht weniger heftig ist ihre Empörung über die weit fortgeschrittene Zerrüttung und Umgestaltung der herkömmlichen Hierarchie der Geschlechter, die sich in den heutigen muslimischen Gesellschaften vollzieht. Gegenstand der Kritik: der allmähliche Verfall der traditionellen Macht des Mannes über die Frau, als Folge des tiefgreifenden sozialen Wandels, der sich in Urbanisierung und Übergang zur Kleinfamilie ebenso ausdrückt wie in der Zunahme von Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätzen für Frauen. Weiterhin: das stetige Anwachsen von Pflichten, Möglichkeiten und Angeboten, die eine Entfremdung der Frauen von den traditionell festgelegten Rollen bedeuten; der Trend zur Gleichberechtigung in der Ehe wie im Alltagsleben überhaupt; die Orientierung der sozialen Reproduktion – ersichtlich in der Kindererziehung – an Werten, die, nach Auffassung der Islamisten, dem Islam vollkommen fremd sind.
Selbstverständlich treten sie auch gegen alle Formen des Feminismus an. Sie zeigen sich in ihren Erklärungen besorgt um die Zukunft der muslimischen Familie – vor allem die religiöse Erziehung der Kinder liegt ihnen am Herzen –, und sie fordern, dass die Frauen, die Jugendlichen und die Familie insgesamt zurückkehren müssten zu den traditionellen Werten: Respekt, Gehorsam, Geschlechtertrennung und Unterwerfung unter den Herrn des Hauses. Die Frauenfrage mit all ihren Aspekten bezüglich der Familie, der Rolle der Frau in der Gesellschaft, der Kindererziehung und der Werte, denen die soziale Reproduktion verpflichtet sein soll, ist in den muslimischen Ländern, und gerade in den arabischen Gesellschaften, immer schon ein heikles Thema gewesen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat es darüber eine endlose Reihe von Diskussionen, polemischen Auseinandersetzungen, Thesen und Gegenthesen gegeben.
Der Autor Nagib Machfus hat in einem Artikel auf bildhafte Weise die Verwirrung und Verunsicherung eines typischen Bewohners von Kairo geschildert. Nolens volens ist dieser Muslim mit den alltäglichen Absurditäten und Paradoxien konfrontiert, die sich aus dem langen historischen Prozess der Verweltlichung ergeben und für die meisten Beobachter nur indirekt, wie durch eine blinde Glasscheibe zu erkennen sind. „Er führt ein modernes Leben. Das Zivil- und Strafrecht, das er zu beachten hat, kommt aus dem Westen; zugleich nimmt er teil an einem undurchschaubaren Gemenge von Handlungen des sozialen und wirtschaftlichen Austauschs, von denen er nie weiß, in welchem Ausmaß sie mit seinem Glauben, dem Islam, im Einklang stehen. Das Leben geht seinen Gang, er lässt sich treiben und vergisst sein Unbehagen für eine Weile, aber dann, eines Freitags, hört er die Predigt des Imams oder schlägt die Religionsseite in der Zeitung auf – und plötzlich wird sein Unbehagen zu einer Art von Angst. Er begreift, dass ihm diese neue Gesellschaft eine Persönlichkeitsspaltung eingetragen hat. Eine Hälfte seines Wesens ist gläubig, betet, fastet und geht auf Pilgerschaft. Die andere Hälfte macht diese Werte zunichte, ob in der Bank, vor Gericht oder auf der Straße, im Kino und im Theater – oder sogar zu Hause, in der Familie, vor dem Fernsehapparat.“
dt. Edgar Peinelt
* Professor für Philosophie, Damaskus. Verfasser von „Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam“, hrsg. von Kai-Henning Gerlach, Frankfurt/Main (Fischer) 1993.